Der Elefant vergisst nicht

„Zum Himmel, zur Hölle, zum Mehrwert“: Peter Laudenbach im Gespräch mit Alexander Kluge

Von Rebecca HohnhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rebecca Hohnhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um Elefanten geht es in den neun Interviews des Theaterkritikers Peter Laudenbach mit Alexander Kluge, die der vorliegende Band versammelt, nicht. Dennoch stehen nicht nur einer, sondern gleich mehrere Elefanten im Raum. In Form von doppelseitigen Illustrationen, die dem persönlichen Archiv Kluges entstammen, grenzen sie die Interviews voneinander ab und verleihen dem Buch seine besondere ästhetische Qualität. Man stößt auf Zirkuselefanten, Elefantenmasken, Elefanten im Wasser und Elefanten aus steinzeitlicher Höhlenmalerei. Wenn der ‚Elefant im Raum‘ als Metapher für ein offensichtliches Problem steht, das von den Anwesenden nicht angesprochen wird, dann verfehlt diese erste Interpretation die Aussage des Textes. Denn genauso unvermittelt Laudenbach seine Fragen an Kluge richtet, genauso präzise antwortet Kluge auf die Probleme seiner Zeit.

Die Interviews, die zuerst in der taz, dem Tagespiegel oder im Berliner Stadtmagazin tip erschienen sind, umfassen einen Zeitraum von 2021 bis 2001 und handeln von den Metamorphosen der Krise. Ihre zeitliche Anordnung von der Gegenwart in die Vergangenheit kommt einer Reise in die Geschichte gleich. Sie offenbaren nicht nur die Bedeutung bestimmter Jubiläen, künstlerischer Erfolge oder persönlicher Begegnungen im Leben Alexander Kluges, sondern nehmen direkten Bezug auf (welt-)historische Ereignisse der letzten 20 Jahre: die Covid-Pandemie, der Einzug der AfD in den deutschen Bundestag und die Annexion der Krim beschäftigen die beiden Gesprächspartner ebenso wie die Anschläge vom 11. September und der darauffolgende Einmarsch der USA in den Irak. Es zeigt sich: Biographisches und Zeitgeschichtliches verschränken sich im gesamten Werk Kluges fortlaufend und veranlassen ihn, wie Laudenbach im Nachwort schreibt, zu „historische[n] Tiefenbohrungen“.

Auf die Überschriften folgend sind den Interviews parataktische Sätze vorangestellt, die den Inhalt der Gespräche vorwegnehmen. Was auf den ersten Blick kaum einen Sinn ergibt, erhellt sich durch die Aussagen Kluges in den Gesprächen. Kluge geht es bei seinem künstlerischen Schaffen nicht ums Planen oder ums Erklären, sondern darum, der planenden ratio die spontanen Regungen der emotio entgegenzustellen. Seine Arbeiten sind fragmentarisch, assoziativ und angesiedelt zwischen Dokument und Fiktion. Dies bedeutet nicht, dass es keinen roten Faden gäbe. Er spinnt sich in allen Gesprächen um das Motiv der Suche, nämlich der Suche nach Auswegen in Momenten der Krise. 

Wie er in „Träume sind die Nahrung auf dem Weg zum Ziel“ aus dem Jahr 2009 erläutert, kommt der Phantasie bzw. dem Träumen bei dieser Suche eine entscheidende Rolle zu. „Träume“, so sagt er, „dienen zur Horizonterzeugung“. Sie erlaubten es uns, Abstand von der Wirklichkeit zu nehmen und nicht selten fänden wir die Lösung für ein scheinbar unlösbares Problem im Traum. Die Phantasie ist für Kluge ein Medium, verschiedene Möglichkeiten durchzuspielen und neue Ideen in die Welt zu bringen. Denn „[v]on der Gegenwart allein kann man nicht leben. Gesellschaften haben einen enormen Bedarf an Zukunftserwartung. Sie brauchen eine Zukunft, über die nicht schon in der Vergangenheit verfügt wurde.“ Ermittelt wird, wie der Titel des Buches erahnen lässt, also in alle Richtungen: Zum Himmel, zur Hölle, zum Mehrwert.

Kluge ist weder naiv noch ein Romantiker. Er ist sich der gesellschaftlichen Sachzwänge bewusst, die das Diktat der unaufhörlichen Mehrwertproduktion hervorbringt. Doch bei genauerem Hinsehen seien diese Sachzwänge, so argumentiert er folgerichtig, genauso imaginär wie die Träume. Die Phantasie müsse sich deshalb mit der „Aufklärung verbünden“ und die „unangenehmen Wahrheiten“ ans Licht bringen. Ohne sie wären wir hoffnungslos und würden unter der Last der Ohnmacht zugrunde gehen. 

Wie der Elefant, so vergisst auch Kluge, der in diesem Jahr 90 Jahre alt wird, nicht. Sein Gedächtnis liefert einen enormen Fundus an Wissen, der in Zeiten des „Ernstfalls“ Strategien zum Überleben liefert.

Vom Überleben handelt auch das letzte Gespräch „Vorsicht! Überlebensgefahr!“ aus dem Jahr 2001, das Kluge vor dem Hintergrund des LOVEPANGS Kongresses in der Volksbühne Berlin mit dem im Jahr 2010 verstorbenen Theater- und Filmregisseur Christoph Schlingensief geführt hat. Bei diesem mit Forscher*innen, Künstler*innen und einem Boxclub inszenierten Kongress wurden die beständigen Metamorphosen des Liebesschmerzes verhandelt: painragerecentover sind die „vier Stufen der „Liebeskrankheit“, die die Dramaturgie der durch die Geschichte Geknechteten beschreibt. Einen Ausweg aus diesem ewigen Kreislauf von Leben und Tod liefern die beiden auch hier ganz bewusst nicht: „Man wirft uns Planlosigkeit vor und vergisst, dass wir aus Liebe handeln.“ Die ewigen Liebenden wollen den Schmerz nicht überwinden, sondern ihn aushalten, um, wie der Boxer im Ring, durchs Leiden zu lernen.

Vor einer erneuten „Metamorphose des Ernstfalls“ schützt dieses Buch nicht, genauso wenig wie es Möglichkeiten des Entkommens liefert. Aber die Lebens- und Überlebenserfahrung Kluges hält dazu an, auf die Kräfte des menschlichen Geistes und Körpers zu vertrauen und die Hoffnung nicht aufzugeben.

Titelbild

Peter Laudenbach / Alexander Kluge: Zum Himmel, zur Hölle, zum Mehrwert. Interviews 2021 – 2001 und ein Gespräch von Alexander Kluge mit Christoph Schlingensief.
starfruit publications, Fürth 2022.
152 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783922895503

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