Rummel oder Revolte?
Der Soziologe Claus Leggewie analysiert Kölns Protestgeschichte
Von Heribert Hoven
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Paris brennt, Köln pennt.“ Diesem karnevalesken Motto, das die angebliche Schlafmützigkeit der Rheinmetropole während der Ereignisse rund um das Jubiläumsjahr 1968 hervorheben soll, widmet der renommierte Soziologe Claus Leggewie, Jahrgang 1950 und Zeitzeuge der Kölner Ereignisse, einen Vortrag, der die Protestkultur in Köln in einem etwas anderen Licht erscheinen lässt. Veröffentlicht in der Reihe „Sigurd Greven-Vorlesungen“, die bislang eher um Themen wie „Textilien im Reliquienkult“ oder „Weihrauch in Kunst und Kult“ kreiste, unternimmt Leggewie eine Tour d’Horizon durch die neuere deutsche Geschichte und beleuchtet dabei die nicht zu übersehende Disposition der Domstadt zur Revolte. Ein allgemeines Weiterwirken des zunächst auf den studentischen Raum beschränkten Aufbruchs sieht er – stichwortartig – an den Hochschulen, die sich seither „im Dauermodus der Reform“ befinden, in der #MeToo-Kampagne, die „belegt, wie unvollendet die reale Gleichstellung der Frau geblieben ist“, an gewalttätigen Protesten etwa gegen die G20-Gipfel oder an den wachsenden Zweifeln hinsichtlich der Legitimität demokratischer beziehungsweise kapitalistischer Gesellschaften. Durchgesetzt haben sich nach Meinung des Autors nicht die hochfliegenden Pläne diverser Akteure, sondern eine „Fundamentalliberalisierung“ der bundesrepublikanischen Gesellschaft, „die den antiautoritären Impuls der 68er aufnahm und alte Zöpfe im privaten wie öffentlichen Leben abschnitt. Türöffner waren die überfällige Reflexion der NS-Vergangenheit und ein Feminismus, der sich in der männerdominierten Studentenrevolte auch erst sein Recht erkämpfen musste.“
Auf Köln bezogen räumt er allerdings ein, dass weder Rudi Dutschke noch Daniel Cohn-Bendit vor Ort in Erscheinung getreten seien. Gewagt erscheint mir die These, dass die bereits 1966 einsetzenden Straßendemonstrationen gegen die Fahrpreiserhöhungen der Kölner Verkehrsbetriebe (KVB), an denen vor allem Schüler und Studenten teilnahmen, aus den eingeübten kollektiven Veranstaltungen der katholischen Jugend hervorgegangen seien. Nach Leggewie „traten hier markante Kollektive und Individuen auf, die drei in die Gegenwart hineinragende Besonderheiten des Kölner Aufbruchs anzeigen: eine lebendige, mainstreamfähige Subkultur, die Einübung demokratischer Mitbestimmung und Ansätze einer alternativen Wohlfahrtsökonomie.“ Eher weiträumig werden die durch 68 ausgelöste Hinwendungen zur postindustriellen Gesellschaft und die Entwicklung der Stadt zur Medien- und Kulturmetropole beschrieben. Wer allerdings eine detailreiche historische Darstellung und Untersuchung der Ereignisse erwartet, wird enttäuscht. Dies wäre im Rahmen einer zeitlich begrenzten Vorlesung auch nicht zu leisten.
Obwohl einige der Abbildungen auf Lokalgrößen wie Rainer Kippe oder Lothar Gothe rekurrieren, bleibt der interessierte Leser auf einschlägige Veröffentlichungen wie die von Kurt Holl, Claudia Glanz, Reiner Schmidt, Anne Schulz und Olaf Bartz angewiesen, die auch Leggewie als Quellen ausführlich heranzieht. Dabei hätte man den nüchternen soziologischen Blick durchaus anekdotisch rahmen können. Hat doch die Kölner Universität nicht nur den schwer NS-belasteten Historiker Theodor Schieder oder gar den berüchtigten Orientalisten Berthold Rubin hervorgebracht, Universitätslehrer, an denen sich mancher Protest entzündete, sondern auch durchaus agile Vertreter der Emigration wie René König und den Musiksoziologen Alfons Silbermann. Atmosphärisch dicht beschreibt die jugendbewegte Zeit demgegenüber der „68er-Köln-Roman“ (Leggewie) von Ulla Hahn: Spiel der Zeit (2014). (Irrtümlicherweise führt Leggewie in Anm. 17 hierfür den 2017 erschienenen Roman Wir werden erwartet an, der sich jedoch mit den Erlebnissen der Protagonistin in Hamburg beschäftigt.)
Nachdenklich macht auch eine lange Liste von weiterhin unbewältigten Problemen (ausstehende „Gesamtreflexion der totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts“) und von Fehlentwicklungen des Protests. So ist festzustellen, dass die „Kulturrevolution der Neuen Linken derzeit durch die Neue, völkisch-autoritäre Rechte gegen 1968 gekontert (wird), bisweilen mit 68er-Methoden und -Konzepten.“
|
||