Leben mit einem Vatertrauma

Dennis Lehane hat mit seinem neuen Roman „Der Abgrund in dir“ zum ersten Mal einen Thriller aus weiblicher Perspektive geschrieben

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rachel Childs ist vaterlos aufgewachsen. Ihr Erzeuger, ein Kunstgeschichtsdozent, hat die kleine, dreiköpfige Familie verlassen, als Rachel kaum drei Jahre alt war. Seitdem hört das Kind, wenn es sich nach seinem Erzeuger erkundigt, immer wieder dieselbe lapidare Antwort: „Er will nichts mit uns zu tun haben. Und das ist in Ordnung, Liebling, weil wir ihn nicht brauchen, um uns zu definieren. “ Was für die landesweit bekannte Psychologin Elizabeth Childs, vielgelesene Autorin von Lebenshilfe-Büchern, stimmen mag – für ihre Tochter stimmt es nicht. Und so setzt sie ihre Suche nach dem verschwundenen Vater auch nach dem plötzlichen Unfalltod der Mutter fort.

Dennis Lehane (geb. 1965) hat sich mit Büchern wie Mystic River (2001), Shutter Island (2003) oder zuletzt Am Ende einer Welt (im Original World gone by, 2015) einen Namen gemacht. Ein halbes Dutzend seiner Werke wurde erfolgreich verfilmt. James Lee Burke, amerikanischer Schriftstellerkollege Lehanes, hält ihn für „ein literarisches Genie“ und billigt ihm unendlich viel Talent zu. Nach den ersten beiden Bänden seiner erfolgreichen Boston-Trilogie, welche amerikanische Geschichte zwischen 1919 und 1943 anhand des Schicksals einer Familie erzählt, luden ihn die Macher der Fernsehserien The Wire (5 Staffeln, 2002 – 2008) und Boardwalk Empire (5 Staffeln, 2010 –2014) als Autor, Produzent und Berater zur Mitarbeit ein.

Mit Der Abgrund in dir – das Original erschien unter dem Titel Since we fell 2017 – betritt Lehane nun gleich in mehrfacher Hinsicht Neuland. Erstmals hat er sich in einem Roman für eine Erzählerin entschieden. Mit Rachel Childs ist das eine Frau, die als taffe Reporterin und vom Publikum geschätzte Fernsehkorrespondentin zunächst eine steile Karriere macht. Ihr Weg nach oben endet freilich abrupt, als die Ereignisse um das verheerende Erdbeben vom Januar 2010 auf Haiti – Rachel, die als Berichterstatterin vor Ort ist, kann ein junges Mädchen nicht vor einer plündernd und vergewaltigend umherziehenden Männerbande beschützen – sie komplett aus der Bahn werfen und in eine Angstpsychose stürzen. Fortan ist sie, weil sie die richtigen Fragen stellt und auf ehrliche Antworten beharrt, nicht mehr tragbar für ihre Arbeitgeber. Ihr Mann, Produzent bei der Medienanstalt, für die sie arbeitet, lässt sich von ihr scheiden. Sie selbst zieht sich für fast zwei Jahre nahezu komplett von der Welt zurück.

Das ist der Moment, in dem Brian Delacroix, der ihr schon als Teilzeit-Detektiv bei der Suche nach ihrem Vater geholfen und dabei Eindruck hinterlassen hat, erneut in Rachels Leben auftaucht. Und er wird zum Retter in höchster Not. Als er im Laufe des Abends, an dem sie sich zum ersten Mal wiedersehen, gar noch ganz im Stile des heiligen Martin einem frierenden Obdachlosen seinen Mantel überlässt, ist sich Rachel sicher, dass sie endlich ihren “Mister Right“ gefunden hat. Doch auch in ihrer zweiten Ehe wird sie – genau wie am Anfang des Romans, wenn sie endlich Klarheit erlangt über ihren Erzeuger – enttäuscht werden. Und während sie sich diesmal selbst in die Rolle einer Detektivin begibt, um immer tiefer in das geheime Leben des Brian Delacroix einzudringen, der sich als ein ganz anderer erweist als der, für den er sich ausgibt, emanzipiert sie sich zunehmend von den Traumata ihrer Vergangenheit und gewinnt Stück für Stück an Selbstbewusstsein und Tatkraft zurück. 

Der Abgrund in dir ist ein Roman, der wie eine klassische Tragödie aufgebaut ist. Als Exposition nutzt Lehane das Kindheits- und Jugendtrauma seiner Heldin, führt sie daraufhin als äußerlich erfolgreiche Frau in eine bei der ersten Bewährungsprobe scheiternde Ehe, ehe der “Richtige“ erscheint, der sie Schritt für Schritt wieder lebenstauglich macht. Höhepunkt und Umschlag der Geschichte sind in dem Moment erreicht, wo sie beginnt, Brian Delacroix zu misstrauen und seiner wahren Identität auf die Spur zu kommen. Vo da an geht es in rasanten Schritten auf das Ende zu – das nach zahlreichen Wendungen, von denen einige an Plausibilität zu wünschen übrig lassen, dann doch eher happy denn tragisch ist.

Alles in allem gehört der vorliegende Roman nicht zu Lehanes stärksten, obwohl er grandiose Passagen enthält – eine brillant beschriebene Autoverfolgungsjagd beispielsweise oder die verschiedentlich durchscheinende Kritik an den Verhältnissen im heutigen Amerika und der Einsamkeit des Menschen in einer Konsumwelt, die für Lehane alles andere ist als der in Erfüllung gegangene amerikanische Traum. Insgesamt freilich besitzt Der Abgrund in dir keine innere Konsistenz, weil er zu viele unterschiedliche Themen unter dem Dach eines einzigen Buches vereint. Auch die zahlreichen Wendungen, mit denen die zweite Romanhälfte aufwartet, ermüden auf Dauer. Und dass das Buch mit einem deutlichen Blick hin auf seine Verfilmbarkeit geschrieben wurde, lässt sich letztlich auch nicht übersehen.     

Titelbild

Dennis Lehane: Der Abgrund in dir.
Übersetzt aus dem Englischen von Steffen Jacobs und Peter Torberg.
Diogenes Verlag, Zürich 2018.
527 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783257070392

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