Die rätselhafte Apokalypse

Christian Lehnert stellt in „Das Haus und das Lamm“ Reflexionen zur Johannes-Offenbarung an

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung des Johannes, reich an mystisch getönten Bildern und endzeitlichen Symbolen, weist in einer ganz besonderen, poetisch-kraftvollen Sprache auf das Jüngste Gericht. Christian Lehnert, Theologe und Dichter, nähert sich in einem Prosastück, das zwischen einer reflexiven Erzählung und geistlichen Überlegungen changiert, diesem rätselhaften Text an, sichtlich fasziniert von der Sprachgewalt der Vorlage. Wer mit Lehnerts Lyrik und auch mit seinen theologischen Betrachtungen vertraut ist, mag sich fragen, ob es dem evangelischen Gelehrten gelingt, neue Wege des Verständnisses zu der Apokalypse des Sehers von Patmos aufzuzeigen. Die Lektüre weiß von Beginn an, vor allem dank der Darstellungsweise des Verfassers, zu faszinieren, wenngleich das Rätsel der Offenbarung bleibt.

Zwar lesen wir relativ bald am Anfang hoffnungsvoll, neugierig und gespannt: „Jemand macht die Tür auf für die letzten Dinge.“ Die letzten Dinge, gemeint ist damit also die Endzeit, und es scheint so, als würde hier tatsächlich in einem Reigen von Naturbildern, den Lehnert vorstellt, eine Tür sich auftun für das Kommende. Er erzählt von einem Garten, die eine oder der andere mag denken: Paradies, das griechische Wort verweist auf den Anfang, auf den Garten Eden – wovon mag Lehnert erzählen? Doch wer sachorientiert sich dem narrativen Geschehen zuwendet, bleibt zu Gast in einem belletristischen Mysterienspiel, in dem vertraute biblische Gestalten namentlich erscheinen, von Jesus Christus bis Pontius Pilatus, Erzählungen des Neuen Testaments aufscheinen und mit literarisch-theologischen Gedanken versehen werden. Lehnert schreibt über den heute wieder vom Krieg heimgesuchten Landstrich und den Statthalter des römischen Kaisers:

Das unruhige Grenzland Judäa mit seinem rauen Klima stand, so hatte es der bedächtige Diplomat mehrfach erfahren, in einer theokratischen politischen Tradition, die eine Übereinkunft mit dem Kaiser als göttlicher Sonne der menschenbewohnten Welt schwer machte. Eine fragile Balance zwischen den religiösen Juristen, den Lokalpolitikern um den Hohepriester in Jerusalem und den römischen Behörden war gefunden und doch ständig gefährdet durch die mangelnde Akzeptanz beider Instanzen im verelendeten, von skurrilen Jenseitshoffnungen durchseuchten Volk.

Nimmt Lehnert hier eine römische Perspektive ein? Oder werden Elemente aus einer stabil undurchsichtigen Zeit verknüpft und eigen gedeutet? Die Hoffnungen richteten sich eigentlich nicht auf das Jenseits, also auf eine – wie immer vorgestellte – Transzendenz, sondern auf einen irdischen Heilsbringer, auf den verheißenen Messias, der auch als politischer Befreier vorgestellt wurde. Lehnert macht „religiöse Energien“ sichtbar und zeigt hier möglicherweise, dass die Lage vor Ort schwer durchschaubar war, erst recht von einem säkularen Akteur wie Pontius Pilatus. Vergessen werden darf freilich nicht: Es handelt sich hier um ein fantasievolles Prosastück, nicht um eine historische Erzählung, zumal in den Fluss des Berichtes immer wieder auch andere Facetten, Gesichtspunkte und Naturkunden eingefügt werden, ebenso philosophisch anmutende Gedanken aus der „Herztiefe“, wenn über das „Gericht“ ganz unmittelbar, in überraschender Plötzlichkeit, nachgedacht wird: „Wir sind die Angeklagten vor dem Tribunal unserer eigenen Wünsche, die uns das Fürchten lehren.“ Darüber mag nachgedacht werden, denn hier verwebt der Autor Menschenbilder und religiöse Vorstellungen, die höchst subjektive Maßlosigkeit, die sichtbar wird, wenn ein ganz anderes Gericht Konturen gewinnt – das Tribunal der Wünsche, „die uns das Fürchten lehren“. Liegt darin die neue Gestalt einer von Gott entfremdeten Welt? Nicht mehr die bildgewaltige Apokalypse des Johannes steht vor Augen, wenn Christian Lehnert wenig später über „Genforscher“ nachdenkt, die die „Substanz des Menschen zu optimieren versuchen“, über „Pioniere einer Besiedlung des Alls“ knapp reflektiert und die „Entkörperlichung der Subjekte in künstlichen Speichermedien“ benennt – all dies sind Aspekte und wissenschaftliche Ideen, die in der Gegenwart oder in der nahen Zukunft Realität werden können. Bedrohlich erscheint dies nicht weniger als Johannes‘ apokalyptische Schau, nur anders bedrohlich, in die Gegenwart übersetzt. Stehen auch wir vor einer Apokalypse – und wenn ja, vor welcher? Christian Lehnert schreibt:

Das Wort apokalypsis und das zugehörige Verb apokalyptein haben in der griechischen Sprache keine theologischen Wurzeln.“ Das verwundert nicht, denn die griechische Welt kannte zwar Göttergestalten, aber mitnichten eine Theologie im Sinne der monotheistischen Weltreligionen. Der Autor führt weiter aus: „Apokalyptein meinte »enthüllen« oder »entbergen«.

Jemand sagte lauthals seine Meinung und deckte sie damit auf. Jemand hatte nichts auf dem Kopf und zeigte seine Stirn. Jemand war nackt. Das war die alltägliche apokalypsis. Auch wenn Wahrsager die Zukunft enthüllten, wenn geheime Kulte oder politische Verschwörungen ans Licht kamen, sprachen die Griechen davon. Eine »Apokalypse« war verbunden mit Blöße und mit Öffentlichkeit. Etwas war offenbar.“

Erwogen werden mag, angeregt von Christian Lehnert, ob der „Urtext der Schöpfung“ wirklich sichtbar werden kann, doch dieses – anspruchsvolle, tiefgründige und bilderreiche – Buch zeigt Perspektiven auf den Text, der als Offenbarung des Johannes bekannt ist, und zugleich weit darüber hinaus. Ob die zutreffend dargestellte Bedeutung des griechischen Begriffs sich dann auf die schwer zugängliche Offenbarung übertragen lässt? Stellte der Seher von Patmos in lichtreicher Klarheit dar, was er selbst gesehen hatte – freilich soweit es in menschlicher Sprache dargestellt werden kann? Das bleibt auch nach der Lektüre dieses Bandes von Christian Lehnert ungeklärt. Wer die Verflechtungen und Verschlingungen von „Das Haus und das Lamm“ sich anschaut – so etwa auch die Reflexionen über das Böse –, könnte auch an die ganz einfach endende Johannes-Offenbarung denken, die mit der dringlichen Bitte schließt: „Komm, Herr Jesus!“ Diese Hoffnung auf Erlösung genügt vielen Gläubigen, bis heute. Säkulare Leserinnen und Leser werden Christian Lehnerts Sprachkunst, von der auch dieses Buch zeugt, gewiss bewundern, aber es steht dahin, ob sie ein tieferes Verständnis für die Johannes-Offenbarung erlangen. Lehnerts Buch über den rätselhaften biblischen Text bleibt selbst ein vielschichtiges, facettenreiches Mysterium.

Titelbild

Christian Lehnert: Das Haus und das Lamm. Fliegende Blätter zur Apokalypse des Johannes.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
250 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783518431450

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