Starke Frauen

Svenja Leibers „Kazimira“ erzählt aus weiblicher Perspektive als Generationen- und Zeitroman vom Bernsteinabbau in Ostpreußen

Von Erik SchillingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erik Schilling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Svenja Leibers Roman Kazimira erzählt über mehrere Generationen hinweg die Geschichte des Bernsteinabbaus in Ostpreußen. Der Roman setzt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein und reicht bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts. In den Vordergrund rückt er vier Perspektiven auf die Geschichte, die kunstvoll verwoben werden: Geschlechterverhältnisse um die Jahrhundertwende 1900, lesbische Liebe, die östlichen Regionen an der Ostsee sowie den latenten oder manifesten Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts.

Zuallererst ist Leibers Roman ein Text über starke Frauen – worauf bereits der Name der Protagonistin als alleiniger Titel verweist. Das Leben Kazimiras im ostpreußischen Weststrand (dem heutigen Jantarnyj, etwa 40 Kilometer nordwestlich von Kaliningrad) bildet die Klammer sowohl des Textes als auch ihrer Familie, von der über vier Generationen in direkter Verbindung mit der Protagonistin und in fünfter Generation mit einem Zeitsprung in die Gegenwart erzählt wird. Darüber hinaus bietet Kazimiras Leben eine Klammer der politischen Ereignisse: Der Roman setzt 1871 im neugegründeten Kaiserreich ein, als Kazimira als junges Mädchen ihren späteren Mann Antas trifft, und er endet (abgesehen von der eingewobenen Gegenwartshandlung) im Jahr 1945 mit den letzten Verbrechen der NS-Diktatur. Kazimiras Leben wird zudem eng mit dem Bernsteinabbau in Weststrand verbunden, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Form der sog. Anna-Grube industrialisiert wird.

Kazimira ist eine starke Frau, weil sie sich den sozialen, patriarchalen Strukturen nur bedingt unterordnet. Gleich zu Beginn weigert sie sich, als Frau auf die Rolle der Mutter reduziert zu werden. Wiederholt fordert sie von ihrem Mann das Recht ein, arbeiten gehen zu dürfen; auch mit modischen Konventionen bricht sie, indem sie sich die Haare kurz schneidet. Im Salon von Henriette Hirschberg, der Gattin des Grubenbesitzers – mit ihrem Vornamen, ihrem jüdischen Glauben und als Salon-Gastgeberin unschwer als Verweis auf Henriette Herz zu erkennen – hört Kazimira von den Rechten, die Frauen politisch und gesellschaftlich zustehen sollten– und sie trifft dort auf die Liebe ihres Lebens, Jadwiga.

Obwohl Kazimira und Jadwiga jeweils verheiratet sind, entspinnt sich zwischen ihnen im Laufe der Jahre eine gleichermaßen zärtlich wie nüchtern in ihren Hindernissen geschilderte Liebesbeziehung. Rasch beginnt das Dorf, über die beiden Frauen zu tratschen, die so viel Zeit miteinander verbringen, rasch sehen sich die beiden Ehemänner in ihrer Ehre gekränkt. Zu Momenten glücklicher Zweisamkeit kommt es nur selten – und auch diese finden ein abruptes Ende, als Jadwigas Mann die beiden bei einem Treffen überrascht. Er sendet Jadwiga mit ihren Kindern fort zu seinen Eltern; die beiden Liebenden sehen sich nie wieder.

Glücklich wird die Verbindung von Kazimira und Jadwiga erst in der nächsten Generation: Kazimiras Sohn Ake heiratet Jadwigas Tochter Ilse, die beiden bekommen eine Tochter, Helene. Am Beispiel von Ake und seinem Vater Antas wird der Bernsteinabbau in Ostpreußen thematisiert. Antas ist zunächst Dreher, bearbeitet also den Bernstein für den Verkauf; später nimmt er leitende Positionen in der Anna-Grube ein. Ake führt die Tradition fort, bis er im Ersten Weltkrieg eine Hand verliert und als Ersatz von seinem Vater eine Hand aus Bernstein bekommt. Verbunden mit der individuellen Geschichte ist die ‚große Geschichte‘ des Bernsteinabbaus in Ostpreußen, von ihren Anfängen bloßen Sammelns am Strand über die Industrialisierung mit maschinellem Abbau bis hin zum Verfall der Anlagen in der Gegenwart.

Der Weg in den Ersten Weltkrieg ist gepflastert mit rassistischen und antisemitischen Ressentiments, die der Roman deutlich ausstellt. Jadwigas Mann ist Anhänger obskurer Rassenlehren; am Haus der Hirschbergs finden sich wiederholt antisemitische Schmierereien, was die beiden schließlich dazu bringt, die Anna-Grube zu verkaufen und nach Berlin zu ziehen. Drastisch gesteigert werden die rassistischen und antisemitischen Elemente im zweiten Teil des Romans. Helenes Tochter Jela, also Kazimiras Urenkelin, wird mit Trisomie 21 geboren; ihr Leben ist gezeichnet von der Verachtung, die ihr einige Figuren des Romans entgegenbringen. Eine glückliche Zeit erlebt sie bei ihrer Urgroßmutter, ehe sie abgeholt und getötet wird. Ihre Geschichte verweist voraus auf das Ende des Romans, auf den Januar 1945, als die ostpreußischen Außenlager des KZ Stutthof aufgelöst und die Insassen – vorwiegend Frauen – zur Anna-Grube getrieben werden. Plan der SS ist, sie in der Grube einzuschließen; als dies scheitert, treiben die Wachmannschaften die Frauen auf bzw. in das eisbedeckte Meer.

Eindrücklich schildert Svenja Leiber die Schicksale von Frauen über fünf Generationen. Sie nimmt dabei alle Facetten zwischen Selbst- und Fremdbestimmung in den Blick: Ihre Frauen sind einerseits starke Frauen, die Salons betreiben, sich von ihren Männern keine Vorschriften machen lassen und mit pragmatischem Verstand dort Lösungen finden, wo die Männer sich in ideologischen Abgründen verlieren. Andererseits stoßen die Frauen des Romans – und das lässt sich als brutale Realität verstehen, die über die Selbstbestimmung hereinbricht – immer wieder an Grenzen oder auf Gewalt, die ihnen die männlich dominierte Welt aufzwingt: Heiratspolitik, Familienplanung, gesellschaftliche Konventionen, denen man sich zu beugen habe, bis hin zu Vergewaltigungen und Vernichtung.

Doch gerade weil Svenja Leiber keinen plakativ emanzipatorischen, sondern einen realistischen (und somit oft auch vom Scheitern erzählenden) Roman geschrieben hat, ist ihr ein beeindruckendes Werk gelungen. Sie erzählt vom Glück und vom Leiden, von der Emanzipation und ihren Grenzen, von der Zuneigung der Frauen zu Männern (und Frauen) und der Gewalt, die Frauen durch Männer erfahren. Kazimiras Leben als Fokuspunkt für Frauenschicksale, lesbische Liebe, Bernsteinwelten, Lokalgeschichte (Ostpreußen) und Weltgeschichte (Kaiserreich bis NS-Diktatur) ist ein mitreißender Roman, dem man viele Leserinnen und Leser wünscht.

Titelbild

Svenja Leiber: Kazimira.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
336 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518430064

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch