Lebenslänglich Angst und Sprachlosigkeit
Pierre Lemaitres packender Roman „Drei Tage und ein Leben“
Von Anton Philipp Knittel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBeauval im Norden Frankreichs. Kurz vor Heiligabend 1999. Das Dorf, in dem jeder jeden kennt und auch auf jeden aufpasst, ist in Aufruhr. Der sechsjährige Rémi Desmedt ist verschwunden. Gesehen hat ihn zuletzt der zwölfjährige Nachbarsjunge Antoine Courtin. Eine große Suchaktion bleibt ohne Erfolg. Antoine weiß, was passiert ist, behält sein schreckliches Geheimnis aber für sich: Er hat Rémi, der ihm in den Wald von St. Eustache zu seiner Hütte gefolgt ist, aus Wut und Zorn um den von Rémis Vater getöteten Hund der Desmedts mit einem Stock erschlagen und den Leichnam des Jungen in einem großen Baumwurzelloch versteckt.
Antoine wagt es jedoch nicht, sich seiner alleinerziehenden Mutter anzuvertrauen – genauso wenig wie er sich dem empathischen Hausarzt nach einem missglückten Selbstmordversuch öffnen kann. Auch wenn die Mutter mehr ahnt, als dass sie es genau wissen will, dass Antoine etwas mit dem Verschwinden des kleinen Rémi zu hat, gilt es den Schein einer intakten Zweisamkeit um jeden Preis aufrechtzuerhalten: „Madame Courtin tat in jeder Hinsicht, was sich gehörte, und schlicht deshalb, weil alle um sie herum das taten. Sie hütete ihren Ruf, wie sie ihr Haus hütete, und vielleicht sogar wie sie ihr Leben hütete, denn an einem Verlust ihrer Achtbarkeit wäre sie vermutlich gestorben.“
Der Orkan Lothar am Weihnachtsfeiertag verhindert eine weitere und gezielte Suchaktion nach Rémi im Wald von St. Eustache. So geht das Leben in Beauval nach dieser Katastrophe alsbald wieder seinen ruhigen Gang. Zwölf Jahre später will Antoine, inzwischen angehender Mediziner, mit seiner Geliebten Laura weit weg von Beauval ziehen – am besten nach Afrika. Doch die brodelnde Schuld lässt ihn nicht zur Ruhe kommen, Angst und Sprachlosigkeit quälen ihn fortwährend:
Im Alltag vergaß er. Der Tod von Rémi Desmedt war eine alte Begebenheit, eine schmerzliche Kindheitserinnerung, Wochen vergingen ohne Unbehagen. […] Dann lösten ein kleiner Junge auf der Straße, eine Szene im Kino, der Anblick eines Gendarms plötzlich eine nicht zu unterdrückende Angst in ihm aus.
2011, nach einer Geburtstagsparty, schwängert er die Nachbarstochter Émilie Mouchotte, die mit einem in Übersee stationierten Soldaten verlobt ist und in die Antoine als Pubertierender verliebt war. Um einem möglichen Vaterschaftstest zu entgehen, heiratet er die ungeliebte Émilie schließlich. Denn inzwischen ist die Leiche Rémis samt einer DNA-Spur entdeckt worden, da der von Lothar verwüstete und bis dahin unzugängliche Wald in einen Freizeitpark umgewandelt wird.
Angekommen im Jahr 2015: Antoine ist inzwischen Inhaber der Praxis seines alten Hausarztes. Der Roman endet mit einer überraschenden Pointe, die hier nicht verraten werden soll.
Pierre Lemaitre, 1951 in Paris geboren und für seinen letzten Roman Wir sehen uns dort oben mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis, dem „Prix Goncourt“, ausgezeichnet, entfaltet in Drei Tage und ein Leben, von Tobias Scheffel souverän übersetzt, ein faszinierendes Panorama eines Lebens, das von kindlicher Schuld lebenslang gequält und geängstigt wird. Es ist fast unmöglich, sich als Leser dem Sog der Gefühls- und Gedankenwelt zu entziehen. Der Roman bietet Spannung, sprachliche Eleganz und psychologische Entfaltung in einem.
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