Eine Kette von Weltaugenblicken

Jörn Leonhard beschreibt die Jahre zwischen 1918 und 1923 als „überforderten Frieden“

Von Karl AdamRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl Adam

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach all den wichtigen und gewichtigen Werken zum Kriegsausbruch 1914 und zum Kriegsende 1918 fällt nun der Blick auf die Zeit danach. Deutlich wird: Das Jahr 1918 war keineswegs die Zäsur, als die es lange galt. Zu sehr war die „Nachkriegszeit“ bis mindestens 1923 von Konfliktkontinuitäten geprägt; von den Desintegrationsprozessen der östlichen Vielvölkerreiche (Russland, Habsburg, Osmanisches Reich) und von den Auswirkungen des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“, das oftmals mit Vertreibung und Flucht der jeweiligen Minderheiten einherging.

Der in Dublin lehrende deutsche Historiker Robert Gerwarth hat bereits 2016 ein Werk unter dem Titel Die Besiegten vorgelegt, das traditionelle Periodisierungen aufbrach und sich mit besagten Kontinuitäten auseinandersetzte. Dieses muss nunmehr als Vorstudie für Jörn Leonhards Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923 gelten, denn dieser Zeitraum wird von dem Freiburger Historiker auf über 1.500 Seiten derart quellengesättigt und materialstark und dazu auf höchstem Reflexionsniveau analysiert, dass der Status des Standardwerks schnell erreicht werden dürfte. Der Einstieg im Jahr 1916 wird dem Autor dabei nicht schwer gefallen sein, hat er doch bereits 2014 mit Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges die maßgebliche Monografie zum Weltkriegszentenarium vorgelegt. Diese wurde noch vom Doyen deutscher Sozialgeschichte, dem 2014 verstorbenen Hans-Ulrich Wehler, als Eintritt in eine „neue Epoche der Weltkriegsgeschichtsschreibung“ gefeiert.

Warum also war dieser Frieden, der 1919 in verschiedenen Pariser Vororten beschlossen wurde, „überfordert“? Dazu der Autor:

Der Erste Weltkrieg war ein Krieg, an dem die Öffentlichkeit – die Journalisten, die Medien – viel stärker beteiligt waren als an früheren Kriegen. Zudem war es ein Krieg, in dem es nicht mehr allein um Europa ging. Zur Debatte stand vielmehr ein globaler Anspruch: Es ging auch um Asien und Afrika, es geht um die Zukunft des Kolonialismus. Und es ging um die Idee, das Konzept des Krieges ein für alle Mal abzuschaffen. Damit lagen natürlich die Hürden für die Siegermächte enorm hoch. Alle diese Elemente – Öffentlichkeit, Welt statt Europa, die Vorstellung „Nie wieder Krieg“ – führen in der Kombination zu einer Überforderung.

„The war to end war“ hatte der britische Autor H.G. Wells den gerade losbrechenden „Großen Krieg“ im August 1914 genannt. „A peace to end all peace“ urteilte der amerikanische Historiker David Fromkin über das Pariser Friedenswerk analog. Tatsächlich waren viele Konflikte, die dann im Zweiten Weltkrieg oder im Südosteuropa der 1990er Jahre ausbrachen (oder im Nahen und Mittleren Osten bis heute andauern), damals bereits angelegt. Man wollte zu viel und hatte – anders als etwa beim Wiener Kongress 1814/15 – nun auch eine kritische Öffentlichkeit zu bedienen, der es nach „Wiedergutmachung“ und „Vergeltung“ dürstete. Neu am Versailler Vertrag war auch die Feststellung von Kriegsverbrechen. „Was früher moralisch verurteilt wurde, galt nun als kriminell“, schreibt der Marburger Historiker Eckard Conze in einem weiteren aktuellen Werk zum Thema (Die große Illusion). „Der Kriegsgegner war nicht mehr ‚nur‘ der Feind, sondern ein Verbrecher, der bestraft werden musste.“ Das, was erst 1945 völkerrechtlich verankert wurde („Verbrechen gegen die Menschlichkeit“), wurde 1918 erstmals zum Thema auf einer Friedenskonferenz.

Leonhards Buch trägt den Untertitel Versailles und die Welt 1918–1923 und auch diese Bezeichnung ist klug gewählt: Tatsächlich handelte es sich ja um nichts weniger als eine weitgehende Neuordnung der politischen Verhältnisse auf dem gesamten Globus: Neben den europäischen Großmächten und den USA waren etwa Brasilien, Ecuador und Bolivien ebenso vertreten wie Liberia, Siam, China oder Japan. Die „Globalität des Moments“ liegt auch in dem „polyzentrischen Panorama“ begründet, welches die Friedenskonferenz offenbarte: Eine „Spannung zwischen globaler Ermächtigung im Namen universeller Prinzipien einerseits und partikularen Kontexten, lokalen Bedingungen und Erwartungen anderseits“.

Neben dem Versailler Vertrag, den Außenminister Hermann Müller (SPD) am 28. Juni 1919 für das Deutsche Reich zu unterzeichnen hatte, werden bei Leonhard auch die weiteren Pariser Vorortverträge eingehend gewürdigt: Saint-Germain-en-Laye (Deutschösterreich), Neuilly-sur-Seine (Bulgarien), Trianon (Ungarn) und Sèvres (Osmanisches Reich) komplettieren diese Tour de force. Letzterer Friedensschluss wurde dann am 24. Juli 1923 im Vertrag von Lausanne zugunsten der Türkei revidiert. 1923 kehrte zudem, wenn auch vorübergehend, etwas Stabilität in die internationalen Beziehungen ein. Mit der Gründung der Türkei Mustafa Kemals, des nachmaligen Atatürks, endeten die griechisch-türkischen Wirren weitgehend, nach dem russischen Bürgerkrieg stabilisierte sich die Lage in der Sowjetunion, und mit der Einführung der Rentenmark endete die Hyperinflation in der Weimarer Republik.

Leonhard gelingt eine ganze Reihe von luziden Begriffspaaren, um seinen gewaltigen Stoff zu organisieren: „Demobilisierte Gesellschaften und remobilisierte Gewalt“, „Moral und Interessen“, „Kalkül und Emotion“, „Verträge und Revisionen“ – mit diesen Gegenüberstellungen gelingt dem Autor die Synthese gegensätzlicher und widersprüchlicher Entwicklungen. Es ist aber auch die gekonnte Darbietung der vielfältigen Inhalte, die dieses Buch zu einer solch immens bereichernden Lektüre macht. Diplomatie- und Politikgeschichte wechselt sich ab mit sozial- und strukturgeschichtlichen Betrachtungen. Wirtschaftliche Interessen, wissenschaftliche Durchbrüche und gesellschaftliche Trends geraten ebenso in den Blick wie philosophische Erwägungen und Ausflüge in die zeitgenössische Kultur.

Insbesondere beim Letzteren schöpft Leonhard aus den Vollen: Ganze Batterien von eindrücklichen Zitaten aus Romanen, Tagebüchern und der Publizistik vermitteln ein Bild der Zeit. Dieses wird angereichert mit Entsprechungen aus bildender Kunst und Theater. Schon das Eingangskapitel, das mit Franz Kafka die sogenannte Spanische Grippe einführt, mit Robert Musil den Ausfall der „Parallelaktion“ der deutschen und habsburgischen Thronjubiläen 1918 verkündet, mit Ernst Troeltsch das „Traumland der Waffenstillstandsperiode“ betritt und Thomas Mann seinem Tagebuch von der „Gleichzeitigkeit der Dinge, des geteilten Lebens, des ‚Unterdessen‘“ berichten lässt, ist ein intellektueller Genuss. Komplettiert wird der durch den Expressionismus des Ungarn Ferenc Márton und des Deutschen Paul Klee sowie durch die Lyrik des Iren William Butler Yeats.

Diese Mischung ist es auch, die Lesende über hunderte von Seiten bei der Stange hält, auch wenn ein „Durchlesen“ des weitgehend chronologisch strukturierten Werkes im eigentlichen Sinne nicht zwingend erforderlich ist. Womöglich könnte dann auch ein gelegentlich zu ausführliches Abgleiten in „Nebenkriegsschauplätze“, ein zu großer Anspruch auf Vollständigkeit gepaart mit mangelndem Mut zur Lücke beklagt werden. Materialfülle und Einsicht in die Vorläufigkeit und Gegenwartsgebundenheit von Urteilen haben zudem immer auch eine gewisse Thesenarmut als Schattenseite. „Wie es vielleicht gewesen“ ist, lautet dann auch die entsprechende, intellektuell freilich sehr redliche Einschränkung des Autors.

Der überforderte Frieden kann als Kompendium oder als Enzyklopädie gelesen, als Fundgrube, Nachschlagewerk oder Gelegenheitslektüre genutzt werden. Im Buch ist von einer „Kette von Weltaugenblicken“ zwischen 1918 und 1923 die Rede. Dabei ist Leonhards Anspruch ein bescheidener: Keine „wohlfeilen“ Gegenwartslehren möchte er aus seiner Geschichtsschreibung gezogen wissen, sondern höchstens durch „produktive Verfremdung“ die Einsicht darin vermitteln, „wie viele historische Zeiten in der Gegenwart aufgehoben sind“.

Wie würde wohl ein derartiger Friedenskongress in der Gegenwart vonstattengehen? Durch Meinungsumfragen und soziale Medien getriebene Empörungsbereitschaft, ein teilweise aggressiv eingeforderter Durchsetzungsanspruch von Partikularinteressen sowie ein weit verbreitetes Misstrauen gegenüber Repräsentation und Mandat machen wenig Hoffnung, dass heutige Friedensmacher erfolgreicher sein würden.

Titelbild

Jörn Leonhard: Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918-1923.
Verlag C.H.Beck, München 2018.
1531 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783406725067

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