Der Einsturz aller Bedeutungssysteme

Ben Lerner erklärt in seinem meisterhaften Roman „Die Topeka Schule“ auf subtilste Weise die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang von Ben Lerners Roman Die Topeka Schule betritt der Protagonist Adam Gordon auf der Suche nach seiner Freundin mitten in der Nacht deren in einer typischen amerikanischen Suburb gelegenes Haus, schleicht sich an den schlafenden Eltern vorbei und sieht sie, die er nach einem abendlichen Ausflug vermisst wähnte, friedlich im Bett schlummern. Der Erleichterung folgt schnell ein Gefühl von Verunsicherung; Adam merkt nach und nach, dass irgendetwas nicht stimmt. Er nimmt veränderte Details im Haus der Familie wahr – ein Sofa steht nicht dort, wo es stehen sollte, Objekte im Badezimmer sind anders arrangiert – und plötzlich dämmert ihm, dass er das falsche Haus betreten hat.

Diese verstörende Eingangsszene ist nicht nur ein Seitenhieb auf die Uniformität der amerikanischen Vororte – und erinnert dabei nicht von ungefähr an John Cheevers Erzählung Der Schwimmer –, sondern gibt auch das zentrale Thema des Romans vor: Der Bedeutungsverlust von Sprache aufgrund des steten Auseinanderdriftens von Signifikant und Signifikat. Denn die Irrung konnte nur geschehen, weil Adams Freundin Amber, genervt von dem endlosen Monolog, den dieser auf einem nächtlichen Bootsauflug führte, einfach ins Wasser sprang und fortschwamm, ohne dass Adam dies in seinem Redewahn bemerkt hat.

Die Zerstörung des in diesem Augenblick intimen Kommunikationsprozesses zweier Liebender in Gestalt eines egozentrischen Sprechaktes ist der Ausgangspunkt eines Buches, das die amerikanische Gegenwart portraitieren will, dies aber tut, indem jahrzehntelange Prozesse dargelegt werden, aufgrund derer die gegenwärtige Spaltung der amerikanischen Gesellschaft erst möglich wurde. Wie Worte im Laufe der Zeit immer weniger das ausdrücken, was sie eigentlich meinen, wie eine Verschiebung von Wahrnehmung öffentlicher Sprache stattgefunden hat, die in Trumps täglichen Lügengeschichten mitsamt der Konstruktion eines Paralleluniversums seinen vorläufigen Höhepunkt gefunden hat, so merkt auch Adam in jener symbolträchtigen Eingangsszene, das sich die räumlichen Koordinaten im Haus leise verschoben haben und ein Gefühl des Unbehagens auslösen. Plötzlich ist man an einem falschen Ort.

Dabei kommt der Name Trump im ganzen Roman nur einmal vor (als darüber reflektiert wird, dass die rechtskonservative Regierung des Staates Kansas ein Vorbild für das Vorgehen der Trump-Administration gewesen sei), einmal fällt noch der Name Paul Manafort (als Wahlkampfmanager des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Bob Dole im Jahr 1996) und einmal sieht man einen Protagonisten, dem man bislang nur als Jugendlichen begegnet war, als vierzigjährigen Mann auf einer Kundgebung in seiner roten Kappe aggressiv gestikulierend. Und trotzdem ist dies ein Roman, wie er gegenwärtiger nicht sein könnte. Und das liegt in erster Linie an seiner brillanten Konstruktion.

Die nicht linear erzählte Handlung von Die Topeka Schule entfaltet sich über mehrere Jahrzehnte und anhand der Perspektive von vier verschiedenen Protagonisten, die mehr oder weniger alternierend erzählen. Im Mittelpunkt steht Adam Gordon, Lerner-Lesern bekannt als alter ego des Autors. Wir erleben, wie Adam als Achtjähriger eine schwere Gehirnerschütterung erleidet und kurzzeitig die Sprache verliert. Wir begegnen ihm wieder als 18-jährigen, mittlerweile ist er ein landesweit berühmter Debattierer auf dem Weg zur nationalen Meisterschaft. Und wir sehen den gegenwärtigen Adam, wie er mit seiner Frau und seinen zwei Kindern als Schriftsteller in New York City lebt. Auf diesem Weg webt Lerner geschickt die Entwicklung von Adams Verhältnis zu Sprache ein, vom geschliffenen Redner zum Dekonstruktivisten, der auf diese Art des sprachlichen Regresses die Lyrik für sich entdeckt.

Die anderen Erzählstimmen gehören seinen Eltern Jane und Jonathan, beides berühmte Psychologen, die in einer landesweit bekannten Klinik im ländlichen Topeka/Kansas arbeiten. Jane hat es mit einem feministischen Bestseller zu großem Ruhm und Reichtum gebracht, Jonathan therapiert in seinen Sitzungen so genannte ‚verlorene Jungs‘. Das ländlich-konservative Kansas und die kosmopolitische, ursprünglich aus New York stammende Familie bilden einen Kontrast, den Lerner symbolisch für die Spaltung der USA verstanden wissen möchte.

Sprache wurde, so erzählt der Roman, im Laufe der Jahrzehnte in den USA immer mehr zur Waffe, zum Element sozialer Spaltung und hat als Mittel gemeinsamer Verständigung nahezu ausgedient In welchem Maße die vielen kleinen persönlichen Geschichten, welche die Protagonisten erzählen, immer und vor allem auch politisch sind, zeigt sich in der immensen Bedeutung, die Lerner dem Wesen der Sprache als Werkzeug der Selbstermächtigung sowie der Ausgrenzung des Anderen einräumt.

Denn stets ist es die oft sogar bewusst fehlerhafte Kommunikation, die zu Konflikten führt, bzw. mit Hilfe derer versucht wird, einen Konflikt zu den eigenen Gunsten zu lösen. Illustriert wird dies vor allem anhand der ausführlich beschriebenen Rhetorik- und Debattier-Meisterschaften, an denen Adam teilnimmt. In den späten 1990er Jahren, so erfahren wir, hat sich hier nämlich die Methode des ‚Schnellsens‘ (engl: The Spread) durchgesetzt. Hierbei sprechen die Debattierer mit einer solch atemberaubenden Geschwindigkeit und servieren dabei in einer solchen Masse vermeintliche Fakten und Quellen, dass ihre Sprache nur noch für Eingeweihte zu verstehen ist und letztlich „die Bedeutungssysteme im Schnellsen zusammenstürzen.“. Für Lerner steht das Schnellsen symbolisch für den politischen Diskurs unserer Zeit, für Fake News, aber auch für die Inhaltslosigkeit von vermeintlich  faktenbasierten Aussagen, die man zwar im Nachhinein nachprüfen und als falsch markieren kann, aber im Moment der Debatte zur vermeintlichen, und damit absoluten Wahrheit werden.

Doch auch im Kleinen wird die zunehmende Auflösung der Beziehung von Signifikant und Signifikat in der öffentlichen und privaten Rede immer wieder thematisiert: Etwa wenn Adams Mutter die ständigen Drohanrufe von auf ihr Buch wütenden Männern stets nur mit einem Hinweis auf die angeblich schlechte Verbindung ins Leere laufen lässt, und diesen Trick genau in dem Moment auch an ihrem Sohn anwendet, als dieser aus Liebeskummer selbstmordgefährdet scheint. Die Kommunikation wird abgebrochen, weil sich beide Seiten nicht auf eine gemeinsame Basis einigen können. Oder in Adams Beziehung zum leicht zurückgebliebenen Darren, der letzten der erzählenden Figuren, die während deren Jugendjahren in einer Katastrophe mündet (die jedoch, anders als der vollkommen irreführende Klappentext suggeriert, nur eine kleinere Rolle im Handlungsgeflecht spielt). Darren ist einer jener von Adams Vater behandelten „verlorenen Jungs“, der große Schwierigkeiten hat sich zu artikulieren und stets vergeblich versucht, die Mauer zu überwinden, welche seine weitgehende Unfähigkeit zu sprachlicher Artikulation zwischen ihm und den anderen Jugendlichen entstehen ließ. Und der dann, nicht zufällig, zu jenem anfangs erwähnten Wutbürger mit der mittlerweile zur Uniform gewordenen roten Kappe wird.

Das Faszinierende an Lerners drittem Roman ist vor allem, auf wie vielen Ebenen er funktioniert: Als Reflexion über die Macht und Ohnmacht von Sprache, als feinsinnige Beobachtung des gegenwärtigen Amerika unter einem Präsidenten Donald Trump, aber auch als Autofiktion, denn Vieles, was Lerner in diesem Roman erzählt, stammt aus seiner eigenen Biographie. Tatsächlich gibt es eine kurze, leicht zu überlesende Passage gegen Ende, als Adam mit seinen Töchtern durch New York City streift und zwischendurch darüber reflektiert, wie schwer es ihm gefallen sei, ihnen andere Namen verpasst zu haben. Denn auch Lerner stammt wie sein Held Adam aus Topeka, war US-Meister im Debattieren, sein Vater war ebenfalls Familientherapeut und seine Mutter Harriett ist eine berühmte Psychologin und Sachbuchautorin, die in den 80er Jahren den internationalen Bestseller Wohin mit meiner Wut? verfasst hat. Nicht zu vergessen, dass Adam Gordon ebenfalls der Protagonist von Lerners erstem Roman, Abschied von Atocha, war, in dem wiederum ein Nebenstrang von Die Topeka Schule – die frühe Beziehung zu seiner Frau –  ausgearbeitet wurde.

Tatsächlich ist diese autobiographische Ebene nicht außer Acht zu lassen, auch wenn der Roman selbstredend auch ohne Kenntnis von Ben Lerners Lebensgeschichte funktioniert. Doch verleiht sie vor allem den Familiengeschichten eine zusätzliche Wärme, eine tiefe Sympathie für alle hier auftretenden Figuren, die bei rein fiktionalen Geschöpfen wohl nur schwer zu erreichen gewesen wäre. Die vielen Zeitsprünge sind zwar stets deutlich durch Absätze markiert, doch verrät der Erzähler wiederholt seine gegenwärtige Position, wenn er etwa nach der Beschreibung eines Telefonats über das Verschwinden von Festnetzanschlüssen reflektiert oder in einem Nebensatz einfließen lässt, was diese oder jene Figur heute macht.

Das führt aber leider auch dazu, dass es zwangsläufig viele lose Fäden gibt. Wie beiläufig wird etwa der spätere Tod von Adams besten Kindheitsfreund Jason erwähnt und nicht mehr aufgegriffen. Auch was letztlich aus Darren wurde (außer einem Trump-Anhänger) wird vernachlässigt. Doch das ist kein Nachteil des Romans, im Gegenteil, so wie der Autor ja bereits Abschied aus Atocha ein Fragment aus Adams/Bens Leben verarbeitet hat, könnte er sich in Zukunft in seiner gleichzeitig an Roberto Bolaño wie an Karl Ove Knausgård erinnernden Ästhetik ein ganz eigenes Universum aus endlosen autofiktionalen Querverweisen aufbauen. Gleichzeitig spielt Lerner mit so vielen Leitmotiven, dass dem Leser fast schwindelig wird. Jede vermeintliche Kleinigkeit erlangt durch ihr wiederholtes Auftreten in anderen Kontexten eine symbolisch aufgeladene Bedeutung, was dem Leser immer wieder deutlich macht, dass er sich hier doch in einer minutiös konstruierten (Auto)Fiktion befindet.

Und letztlich, wie der Erzähler mehrfach betont, geht es in dem Roman um nichts anderes als „Familie, Kunst, Erinnerung und Bedeutung, wie das alles entsteht und vergeht.“ Und ganz am Ende spürt der Leser ein Fünkchen Hoffnung in all der gegenwärtigen Dunkelheit, die Die Topeka Schule beschreibt. Nämlich als Adam und seine Familie inmitten einer Demonstration gegen das Vorgehen der Trump-Regierung gegen illegale Einwanderer, vor allem deren Kinder, stehen und plötzlich das Gefühl bekommen wieder „Teil einer öffentlichen Rede zu sein, einer Öffentlichkeit, die mitten im allgemeinen Schnellsen langsam wieder zu reden lernte.“

 

Titelbild

Ben Lerner: Die Topeka Schule.
Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
395 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429495

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