Wenn die Masken Trauer tragen

Helmut Lethens Staatsräte

Von Markus SteinmayrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Steinmayr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Bücher, die liest man von vorne bis hinten. Es gibt aber auch Bücher, die man von hinten nach vorne lesen sollte. Denn erst mit dem Nachwort erschließt sich die Relevanz des Buches für die Gegenwart, in der wir leben und von der aus der Autor spricht.

Die Gegenwart, über die Helmut Lethen in seinem neuen Buch spricht, ist geprägt durch das Aufkommen der Neuen Rechten: „Auseinandersetzungen mit der Caroline Sommerfeld setzten das Buch unter Strom.“ Dies gilt aber auch für den Leser, denn die Auseinandersetzung mit der Neuen Rechten, ihren politischen Formen und ihren Verschleierungs- und Verstellungstaktiken zieht sich als Hintergrundrauschen der Gegenwart durch den Text, ohne dass die Protagonisten genannt würden.

Zum anderen ist diese Gegenwart geprägt durch das, was Lethen in der Einleitung mit „Überreste der Täterwelt“ beschreibt. Diese ‚Überreste‘ „zirkulieren auf dem Marktplatz der Gegenwart“. Mit den ‚Überresten‘ meint Lethen ganz sicher nicht Devotionalien oder Ruinen, sondern die Persistenz von Haltungen, Einstellungen und Ideen, die in der Gegenwart beobachtbar sind. Es geht in Die Staatsräte nicht nur um den Untertitel, nämlich die Elite im Dritten Reich, sondern auch um eine Archäologie der Gegenwart.

Zur Archäologie der Gegenwart gehört ganz sicher die unendliche Faszinationsgeschichte des Verhältnisses von Geist und Macht. Im Zentrum dieser Geschichte steht nach Lethens Auffassung die Entwicklung einer politischen persona. Welche politische Maske trägt wer und warum zu welcher Zeit?

Wer das vielfältige Werk Lethens auch nur in Ansätzen kennt, wird rasch eine Beharrlichkeit auf bestimmte Themen und Fragen feststellen. Seit knapp fünfzig Jahren stellt Lethen die gleichen, aber nicht dieselben Fragen immer wieder neu und anders. Es sind die sehr grundsätzlichen Fragen nach einer politischen Anthropologie des zwanzigsten Jahrhunderts und ihrem Zusammenhang mit literarischen, d.h. fiktiven Ordnungen. Brechts Lesebuch für Städtewohner, Falladas Kleiner Mann- was nun, Graçians Handorakel, Helmut Plessner, Carl Schmitt; jeder, der sich mit den genannten Texten und Autoren beschäftigt, trifft irgendwann auf Lethens Arbeiten.

Auch im neuesten Buch von Lethen kommen diese Fragen wieder vor. Die Konstellation ist nun aber nicht mehr neusachlich, sondern nationalsozialistisch. Lethen erprobt seine Methode an neuem Material. Ähnlich wie in seiner autobiographischen Skizze Auf der Suche nach dem Handorakel erprobt Lethen hier wieder seine Theorie. Material bildet aber jetzt nicht seine eigene Lebensgeschichte, sondern die Geschichte der vier preußischen Staatsräte Gustav Gründgens, Carl Schmitt, Ferdinand Sauerbruch und Wilhelm Furtwängler. Warum der Staatsrat, warum diese vier? Helmut Lethen gibt die Antwort:

Gründgens machte auch Plessners Auffassung von der Natur des Menschen ein Schauspiel, Schmitt eine Staatslehre, Sauerbruch panzerte sich in stoischem Berufsjargon, Furtwängler lebte im Strahlenkranz des Dirigentenpults. Wir werden es erleben. Die Ordnungsstruktur des starken Staats übte auf alle vier eine große Anziehungskraft aus.

Und um genau diese ‚Anziehungskraft‘ geht es, um die Verführungskraft des Totalitären und die Nähe des Mandarins zur Macht. Lethen beschreibt das Dritte Reich als ein kulturelles, soziales und politisches Bio- und Chronotop für neusachliche Experimente der Verpanzerung des Selbst, der Poetik der Verstellung und Verzerrung von Identität. Die neusachliche Kühle der Elite trifft auf eine heiß laufende Volksgemeinschaft. Und dieser Konflikt wird immer drängender und treibt die vier Protagonisten, obwohl sie, wenn auch nur scheinbar, die Nähe zum Machthaber genießen und im Zentrum stehen, an den Rand der nationalsozialistischen Gesellschaft.

Das fünf Großkapitel umfassende Buch hat in zwei Kapiteln Geistergespräche zum Gegenstand. Mit Geistergesprächen setzt Lethen Diskurse und Begegnungen in Szene, die so nicht stattgefunden haben. Diese Geistergespräche bilden den Kern des Buches, das im Kern ein soziales Drama der in Deutschland verbliebenen Kulturelite ist. Lethen begründet seine Methode wie folgt: „An Originaltönen herrscht kein Mangel, aber die Fiktion spricht lauter.“ Die Gespräche beginnen mit einer Begegnung der vier Staatsräte im September 1936. Sie werden immer wieder unterbrochen durch realgeschichtliche Referenzen (Röhm-Putsch, Stalingrad, Attentat des Zwanzigsten Juli, Kriegsende). In diesen Geistergesprächen, die mehr Monologe als Gespräche sind, setzen die Protagonisten ihr Theorie- und Kunstprogramm in Szene. Sie treffen auf wenig bis gar keinen Widerstand.

In der Lektüre dieser Gespräche wird eine emotionsgeschichtliche Lage deutlich, die man als Sehnsucht nach stabilen Formen in Leben, Arbeit und Politik deuten kann. Diese stabilen Formen, die im Laufe von Lethens Erzählung erodieren, sind Überreste jener Ich-Panzerung, die von den vier Staatsräten immer wieder gesucht wird: Carl Schmitt im Gehäuse seiner politischen Theorie, Ferdinand Sauerbruch in der Antisepsis des Operationssaals, Gustav Gründgens in der Schauspiellehre und Wilhelm Furtwängler in der abgeschlossenen Kulturkammer des Konzertsaales. Diese Erosionen und ihre Reflexion sind dann Gegenstand des letzten Geistergesprächs nach Kriegsende, in dem so etwas wie ein Nachleben des Staatsrats thematisiert wird.

Helmut Lethens Buch kann man als Bündelung, als summa seiner bisherigen Beschäftigung mit der politischen Anthropologie lesen. Die Staatsräte werden nicht nur Amtsträger, sondern sie sind, in Walter Benjamins Worten, „soziale Charaktere“. An diesen sozialen Charakteren kann man studieren, wie aus einer Idee der politischen Anthropologie der zwanziger Jahre eine Art Lebens- und Kunst- und Forschungsprogramm geworden ist. Dies gilt mit Sicherheit nicht nur für Schmitt, Furtwängler, Sauerbruch und Gründgens, sondern auch und vor allem für Helmut Lethen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Helmut Lethen: Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich: Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2018.
351 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783871347979

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