Alles, was der Fall war

Dagmar Leupolds Erinnerungsroman „Lavinia“

Von Hannes KraussRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannes Krauss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aus Schilderungen von Nahtoderfahrungen weiß man, dass in den letzten Sekunden eine Art Lebensfilm im Zeitraffer abläuft. Dagmar Leupold nutzt dieses Phänomen als Plot für ihren jüngsten Roman. Die Protagonistin springt aus dem 25. Stock eines New Yorker Hochhauses, und während des Sturzes ziehen Erinnerungen an ihr bisheriges Leben vorbei – angereichert mit Beobachtungen und Kommentaren zur aktuellen Weltlage. Es gehört wahrscheinlich Mut dazu, sich vom Dach eines Hochhauses zu stürzen. Mut gehört auch dazu, ein solches Motiv als Ausgangspunkt für einen Roman zu wählen. Aber wo sonst als in der Literatur könnte man darüber aus der Ich-Perspektive berichten. 

Die Kritik reagierte verhalten, oft ratlos und distanziert auf dieses Buch. Doch es vermag – nach Einstiegsschwierigkeiten – auf seltsame Weise zu fesseln. Neben präzisen Detailschilderungen von Dingen und Orten wie auch lebendigen Porträts finden sich verstörende Passagen. Schon in früheren Romanen (wie Nach den Kriegen) hatte Leupold sich mit ihrer Biographie auseinandergesetzt, nie aber derart kompromisslos. Stellenweise gerät das Buch zur radikalen Selbstentblößung, denn die Autorin macht kein Geheimnis daraus, dass auch eigene Erfahrungen die Folie für das Leben der Protagonistin abgeben. 

Die Kapitel werden – parallel zum Sturz – von 25 bis 1 rückwärts gezählt; sie sind überschrieben mit Begriffen aus dem Wortfeld fallen, beispielsweise „Überfallen“, „Rückfall“, „Befall“, „Glücksfall“, „Unfall“, „Fallwind“, „Ausfall“. Lavinias Sturz wird zum Flug durch die Zeiten – mit gelegentlichem Innehalten; auf der Handlungsebene gibt es eine Pause in der 10. Etage, auf der Erinnerungsebene Abschweifungen in fremde Leben. Die Konstruktion ist so gewöhnungsbedürftig wie der Wechsel der Erzählverfahren und Leupolds exzessiv-assoziativer Umgang mit Sprache. Die wird zergliedert und neu zusammengefügt; harmlose Begriffe geraten zum Anagramm („Erbmaterial“ – „alarmbereit“, „Kaiser – Karies“). Das wirkt mitunter angestrengt, sensibilisiert aber für Nuancen und eröffnet Denk- und Assoziations-Räume. Eingeschoben sind längere linear erzählte Passagen: Miniaturen aus dem (amerikanischen) Universitätsbetrieb; ein liebevolles Porträt der ins Hohenlohische vertriebenen ostpreussischen Großmutter, bei der die Protagonistin in den Ferien eine ihr im Elternhaus versagte Kindheit erlebte; ein Porträt des Marburger Kommilitonen Hannes, bei und mit dem sie für kurze Zeit die perfekte Liebe erfuhr; die Porträt-Skizze einer Barkeeperin in der New Yorker Carnegie Hall und solche von Paaren, deren Leben für immer durch die Vergangenheit gezeichnet war: Beschädigte (wie die zu den Mitläufern gehörenden eigenen Eltern) und andere (wie die Holocaust-Überlebenden Hilde und Walter Stern), die trotz schrecklicher Erfahrungen mit sich im Reinen blieben. 

Nicht nur die deutsche Vergangenheit hat sich tief eingegraben in Lavinias Leben (von Opa Felix gab es ein Foto, auf dem er „dem Führer die Treue“ schwor); auch die Gegenwart (Flüchtlingskrise, USA zu Zeiten Trumps) bedrückt sie. Vor allem aber ist es die Suche nach sich selbst, die sie antreibt. „Ich stürze mir entgegen“ heißt es an einer Stelle, und der Roman beginnt und endet mit den Worten: „Wer ergründen will, muss herab.“ Da gibt es den pubertären Ekel vor dem eigenen Körper und den Missbrauch des Teenagers durch den Ehemann der Therapeutin. Ein kurzes Glück mit Hannes zerbricht – woran auch immer. Nach der Trennung von ihm kämpft sie sich durch verzweifelte Affären – in Tübingen, Italien, in den USA und andernorts. Lavinias Lebensweg ist markiert von Männern und Flusslandschaften. Die Mehrzahl der Männer wird am Ende abgehakt („ab mit euch zwischen eckige Klammern“), die Flüsse (Rhein, Lahn, Neckar, Hudson, Isar) verweisen auf Lebensstationen und sind wohl auch eine Referenz an Uwe Johnson, der 1977 anlässlich seiner Aufnahme in die „Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung“ all die Gewässer aufzählte, die sein Leben begleitet hatten, und meinte: „Am Ende könnte man mir nachsagen, ich sei jemand, der hat es mit Flüssen“. Überhaupt ist dieses Buch voller literarischer Anspielungen und Zitate – von der Antike über den mittelalterlichen Roman und Dante bis zur Gegenwartsliteratur. 

Lavinia ist Opfer (vom Missbrauch in der Kindheit bis zur Beinah-Vergewaltigung in Syrakus) und Täterin zugleich. Sie ist Gejagte und Jägerin; einmal hilft sie dem italienischen Liebhaber bei der Verführung einer naiven amerikanischen Touristin. Geschlechterbeziehungen und Machtverhältnisse, Sexualität und Begehren sind zentrale Themen dieses provokanten Romans, gelegentlich ist es sogar Liebe. Dagmar Leupold schreibt über all das, ohne in Peinlichkeit oder Kitsch abzugleiten. Manchmal ein bisschen zu forciert und manieriert – aber Sprachwut, artifizielle Konstrukte und die vielen offenen und versteckten Zitate sind wohl ein Mittel, um Lavinias Erinnerungen in ihrer Radikalität beschreibbar zu machen. 

Leupolds Umgang mit Sprache verleitet zur Nachahmung. Zwei Assoziationen seien erlaubt. Eine Abwandlung von Ludwig Wittgensteins berühmter „Welt“-Definition: ‚Biographie ist alles, was der Fall war’.  Und eine Anleihe bei Adorno: Diese ‚Minima Amoralia’ sind Reflexionen einer früh Beschädigten, die sich ihre Heilung mühsam erarbeitet, manchmal auch lustvoll erliebt hat. 

Lavinia ist ein anstrengendes Buch, das zum Abschweifen und Weiterdenken verführt. In seinen besten Passagen wird man – wie Marcel Proust formulierte – „zum Leser seiner selbst“. Auch als Mann.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Dagmar Leupold: Lavinia. Roman.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2019.
198 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783990272343

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