Licht über Finsternis!

Mischa Wolfgang Weggen liefert anhand der „Oberuferer Weihnachtsspiele“ einen „Beitrag zur Wissenschafts- und Aufführungsgeschichte“ traditioneller Stoffe und Motive im 20. Jahrhundert

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn ein recht aktueller Aufsatz zum ‚Mittelalter-Œuvre‘ Umberto Ecos mit der Aufforderung Träumt vom Mittelalter! überschrieben ist, mag das für die Gegenwart eigentümlich sein, die ja in der hiesigen Erfahrungs- und Diskurswirklichkeit oft genug eher durch eine mitunter reichlich amorphe Mischung von dystopischen Depressionen und utopischen (oder gar utopistischen?) Erwartungen gekennzeichnet ist. Gleichwohl gab es auch in der deutschen Geistes- und Literaturgeschichte zwei Phasen, die einerseits von Fortschrittsängsten, aber eben auch Fortschrittshoffnungen geprägt waren, in denen sich die skeptische Fraktion jedoch in unterschiedlicher Weise und Gewichtung auf ein rückwärts gelegenes oder wohl imaginiertes Ideal beziehen konnte. Die anhebende Industrialisierung wie auch die durch den Ersten Weltkrieg verursachten erschütternden Erfahrungen in und an der Moderne konnten ‚das Mittelalter‘ als Verheißungsort erscheinen lassen.

Dass dieser als positiv angesehen wurde und wird, lässt bereits der Buchtitel erkennen, den Mischa Wolfgang Weggen für seine Untersuchungen der Oberuferer Weihnachtsspiele wählt: Du dunkles nicht, du helles Mittelalter. Das vor das Wort „nicht“ gesetzte Komma würde wohl ziemlich genau die Einstellung gegenüber mittelalterlichen Traditionen und Strukturen widerspiegeln, die in der optimistischen Moderne weiten Teilen gerade auch der kulturellen Avantgarde zu eigen war. Und in vielerlei Hinsicht sind es die Antagonismen von ‚Tradition‘ und ‚Innovation‘, die im gesellschaftlichen Diskurs auf verschiedenen Ebenen von Relevanz sind. Hierbei steht der Verfasser zumindest implizit aufseiten der Überlieferung und bietet mit seinem Buch auch einen Blick auf konkurrierende oder teils sogar widerstreitende Perspektiven auf das Mittelalter, die im Rahmen einer allgemein antimodernistischen oder zumindest moderneskeptischen Romantik entstanden.

Dementsprechend weit ist der Bogen, der geschlagen wird, von den germanistischen Anfängen von Jacob Grimm und Karl Weinhold über Richard von Kralik oder die ‚neuen Mysterienspiele‘ Richard Wagners sowie Hugo von Hofmannsthals im 19. Jahrhundert. Aber auch die Anthroposophie eines Rudolf Steiner sowie die Tradition des womöglich durch die Traumata des Ersten Weltkriegs geprägten Laienspiels der Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts spielen eine Rolle. Weiter noch: Weggen zieht Verbindungslinien, die – nicht sonderlich überraschend – die Gepflogenheiten in der Waldorfschultradition, aber auch das eigentlich ‚traditionsunverdächtige‘ epische Theater eines Bertolt Brecht berühren. Ist also wirklich überall Mittelalter?

Dass das Epizentrum der vorliegenden Publikation die Oberuferer Weihnachtsspiele bilden, ist dem Umstand geschuldet, dass diese Spiele trotz ihrer wissenschaftlichen Aufarbeitung weiterhin ihren ‚Sitz im Leben‘ hatten und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts an ihrem primären Aufführungsort dargeboten worden waren – und es ist davon auszugehen, dass diese Tradition auch weiterhin Bestand gehabt hätte, wäre nicht die Unseligkeit des Nationalsozialismus und des von ihm heraufbeschworenen Krieges gewesen. Die ineinander verschlungenen ‚Meta-Traditionslinien‘ liegen in der in der mundartlichen Aufführungspraxis der Weihnachtsspiele im Dorf Oberufer, die zum einen Unmittelbarkeit in der dörflichen Aufführungs- und Rezeptionspraxis gewährleistete, zum anderen damit aber auch germanistisches Interesse generierte und somit noch als ‚authentische‘ Basis für spätere, nicht an die ursprüngliche Örtlichkeit gebundene Aufführungsadaptionen dienen konnte.

Dieses diverse Weiterleben und dabei natürlich insbesondere auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Oberuferer Weihnachtsspielen hatte zur Folge, dass auch eine über die Aufführungstradition hinausgehende Beschäftigung mit ihnen stattfand, sodass einzelne Aspekte daraus bereits untersucht wurden. Die vorliegende Publikation respektive ihr Verfasser suchen dabei die teils vergessenen Komponenten und Konstellationen aufzudecken, aber auch bislang unbekannte Zusammenhänge aus einer umfassenderen kultur- und wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive heraus zu beleuchten, wobei zwar kein radikaler Bruch mit älteren Forschungsergebnissen angestrebt wird, aber doch neue und mitunter unerwartete Aspekte aufgetan werden sollen.

In sechs Kapiteln (eigentlich sieben, auch wenn das abschließende mit dem Titel „Schauspiel als Religion“ nicht der Durchnummerierung unterliegt) werden Fragestellungen, Arbeitsschritte und Ergebnissicherung(en) vorgestellt und abschließend durch einen Text- sowie Abbildungsanhang ergänzt. Werden bereits in der nicht entsprechend betitelten Einführung formale und traditionale Aspekte der Weihnachtsspiele angerissen, wird das Ganze im ersten Kapitel („Kategorien religiösen Schauspiels“) noch einmal verdichtet, die Begriffe ‚Geistliches Spiel‘, ‚Mysterienspiel‘ sowie ‚Volksschauspiel‘ erläutert und bereits in einen die eigentliche Arbeit betreffenden Kontext gestellt.

Das zweite Großkapitel – „Kultus, Mythos, Mimesis“ – gibt Forschungspositionen und -ergebnisse wieder. Auch hier gehen zunächst definitorische Perspektiven voran sowie – das gilt für jedes dieser thematischen Kapitel – eine den Gesamtkomplex einleitende Vorbemerkung. Kennzeichen dieser Vorbemerkungen ist tendenziell ihr weit über einleitende Sentenzen hinausweisender Umfang sowie das komprimierte und durch Zitate belegte Vorstellen relevanter Grundlinien. Dies setzt sich organisch fort, wenn es unter dem Titel „Die Erneuerung der Mysterienspiele“ um das Wiederaufgreifen der spätmittelalterlichen Traditionslinien in der Neuzeit geht, wobei Weggen einen Schwerpunkt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzt. Dabei nimmt er auch das 19. Jahrhundert sowie eine Neuanknüpfung an die alten Traditionen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den Blick.

Diese Weite in der Betrachtung wird in der sich anschließenden „Textgeschichte“ der Oberuferer Weihnachtsspiele fortgeführt, in der die Edition Karl Julius Schröers insofern zwar knapp, aber intensiv betrachtet wird, als sie, im engeren Sinne gesehen, die Referenz für spätere Editionen lieferte. Im weiteren Sinne fiel sie aber auch „genau in die Geburtsstunde der etablierten Germanistik“, die der Verfasser mit der im Jahre 1858 erfolgten Gründung des Rostocker deutsch-philologischen Seminars verbindet.

Neben diesen ehrwürdigen Gründungsjahren werden noch weitere Bearbeitungen und Editionen aufgeführt, wobei allerdings ins Auge fällt, dass zwar zunächst eine chronologisch stringente Reihung verfolgt wird, die sich bis in die ausgehenden Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts erstreckt, dann jedoch ein Bruch erfolgt und mit der Arbeit Rudolf Steiners ein ‚neuer Stammbaum‘ vorgestellt wird. Dieser Ansatz ist generell nachvollziehbar, aber hier wäre gegebenenfalls ein eigener Abschnitt im Sinne von ‚Textgeschichte 2‘ angemessener gewesen.

Das folgende Kapitel „Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte“ ist einerseits fast genauso umfangreich wie das vorangehende, andererseits weniger fein untergliedert. Hier finden sich neben Anmerkungen zu den „Aufführungen der Oberuferer Bauern“ und den „Aufführungen der Laienspielbewegung“ auch Betrachtungen zu „Reinhold Netolitzky und [der] Bühne ‚Der Morgenstern‘“ sowie den „Aufführungen der Anthroposophen“. Zwischen diese beiden nicht nur durch die Aufführungspraxis, sondern auch grundsätzliche Positionen geschiedenen Blöcke werden als Exkurs Ausführungen zum Naturalisten mit „polemischen Ansichten“, Kurt Bleibtreu, gestellt, was sinnvoll ist, durch vorauseilende Perspektiven mitunter jedoch inkonsequent umgesetzt erscheint.

Das Interesse eines Rudolf Steiner beziehungsweise seiner Adepten an dieser Spieltradition mag in den Augen des Verfassers sowohl Segen als auch Fluch gewesen sein, zumindest lässt die Überschrift des letzten ausgewiesenen Kapitels, „Anthroposophische Aneignung“, Assoziationen zum negativ behafteten Komplex der ‚kulturellen Aneignung‘ aufscheinen. Weggen sieht in der ‚Aneignung‘ der Oberuferer Weihnachtsspiele durch Steiner und seine Bewegung in gewisser Hinsicht die ‚Überlebensgarantie‘ dieser Tradition, die andernorts wenn nicht abgebrochen, so doch zumindest ausgedünnt gewesen sei – dies allerdings um den Pries einer dann ausschließlich anthroposophischen Interpretation der spätmittelalterlichen Tradition. Hier wiegen, so der Verfasser, insbesondere rassistische und antisemitische Komponenten schwer, die sowohl mit der Person Steiners selbst als auch denjenigen verbunden seien, die in seiner Erbfolge stünden. Und subkutan seien diese auch, trotz der Stuttgarter Erklärung aus dem Jahr 2007, immer noch gegenwärtig.

Nun wären Steiner und die Anthroposophie mit Vorwürfen antisemitischer Sprache nicht alleine; gerade auch Passionsspiele bis hin zu Johann Sebastian Bachs musikalischer Adaption dieses Komplexes werden immer wieder damit konfrontiert, wobei die sich darstellende Problematik nicht von der Hand zu weisen ist. Weggen verweist allerdings drauf, dass es nicht ausschließlich die Anthroposophie gewesen sei, die die Tradition gerettet habe, denn – auch wenn es Steiner nicht bemerkt hatte – die alte, ortsgebundene Aufführungstradition bestand weiterhin, sodass der ‚anthroposophische Rettungsversuch‘ offenbar einem Irrtum entstammte.

Das abschließende ‚Nicht-Kapitel‘ „Schauspiel als Religion“ wäre vielleicht geschickter mit ‚Erweitertes Fazit‘ überschrieben worden, bietet es doch in erster Linie eine Paraphrase des Vorangehenden. Dass dabei die Auseinandersetzung mit dem beobachtenden germanistischen Forschungsansatz eine wesentliche Rolle spielte, ist offensichtlich und wurde auch durch Hinweise auf bestehende wie ‚altüberlieferte‘ Forschungslücken belegt. Aber – das mag positiv, neutral oder negativ beurteilt werden – ein wesentlicher Aspekt des Buchs ist die transzendentale Metaebene zu den Oberuferer Weihnachtsspielen, denn

die Oberuferer Weihnachtsspiele […] sind Ausdruck der Geisteshaltung ihrer jeweiligen Spielgemeinschaft. […] Für viele Teilnehmer dieser Aufführungen […] wurden und werden die Oberuferer Weihnachtspiele als ein Ersatz für einen kirchlichen Gottesdienst aufgefasst, womit der Ursprung des liturgischen Spiels wieder erreicht ist.

Die Publikation bietet, wie Weggen betont, Anknüpfungsmöglichkeiten an parallele Forschungsansätze im Themenfeld liturgischer Spieltradition. Mag vielleicht nicht jede Schlussfolgerung ‚alternativlos‘ sein, liefert das Werk dennoch – oder vielleicht auch gerade deshalb – eine gute Basis für weitere Diskussionen. Mit seinen adäquaten Textbelegen, der umfangreichen Bibliographie sowie zahlreichen Abbildungen und einem beigefügten Personenregister wird das Buch insbesondere für diejenigen von Interesse sein, die sich speziell mit der Rezeptionspraxis mittelalterlicher religiöser Schauspiele befassen oder allgemein an der Tradition, Rezeption und Neuorientierung von Aufführungspraxis Interesse haben.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Mischa Wolfgang Weggen: „Du dunkles nicht, du helles Mittelalter“. Die Oberuferer Weihnachtsspiele im 20. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Wissenschafts- und Aufführungsgeschichte.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2024.
446 Seiten, 54,00 EUR.
ISBN-13: 9783826088940

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