Einzelheiten sind wichtiger als das große Ganze

Andreas Lindner liefert eine originelle Interpretation von Robert Louis Stevensons Roman „Die Schatzinsel“

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Treasure Island  (Die Schatzinsel) von Robert Louis Stevenson, erschienen 1883, diese Abenteuergeschichte, die als Jugendbuch und als Bildungsroman berühmt wurde, ist auch ein sprachliches Meisterstück. Der erste Satz des Werkes, der einen ganzen Absatz von einem Dutzend Zeilen bildet, ist kompliziert und packend zugleich, ein künstlerischer Geniestreich. Seinen Anfang bildet ein Nebensatz (mit Partizip konstruiert: „ … these gentlemen having asked me …“), der in der Übersetzung von Friedhelm Rathjen (1997) so lautet:

Da Squire Trelawney, Dr. Livesey und die übrigen jener Gentlemen mich gebeten haben, die ganzen Einzelheiten [!] über die Schatzinsel von Anfang bis zum Ende niederzuschreiben und dabei nichts zurückzuhalten außer der Lage der Insel, und dieses bloß, weil es da immer noch ungehobne Schätze gibt,

– worauf dann der Hauptsatz folgt: „ergreife ich … meine Feder …“. Der Leser wird sofort mit einer Fülle von Einzelheiten konfrontiert, und obendrein liefert Stevenson gleich zu Beginn die Formulierung „die ganzen Einzelheiten“ – im Original: „the whole particulars“. Andreas Lindner legt in seiner Treasure Island-Studie auf diese Stelle den Finger und sagt, der Zauber des Buches liege genau in den „particulars“, in den Besonderheiten und Einzelheiten. Wie im Laufe des Romans einzelne Wörter und Erzähldetails an verschiedenen Stellen verschiedene Symbolwerte bekommen, sei „‚abenteuerlicher’ als die abenteuerliche Handlung selbst“.

Indes sorgen die Einzelheiten und Besonderheiten nicht für Zerstückelung. Lindner stellt dar: Der Zauber dieses Erzählens liege in den „Korrespondenzen“ zwischen den Einzelheiten, in ihren „Entsprechungen, Gegenläufigkeiten und Widersprüchen“. Die Einzelheiten „verleihen sich gegenseitig Farbe und Profil“. So ist das Leben der Piraten, der „Piratenkreislauf“, geprägt von „Rum“, „Guineen“, „Schrift“. Der Rum schafft Lust auf Jagd nach Guineen, nach Geld und Gold; Geld erfordert schriftliche Buchhaltung (die Piraten legen Geld an in kapitalistischer Manier), und Gold erfordert Verstecke mit sorgfältig beschrifteten Schatzkarten; und all dies verführt wieder zum Konsum von Rum. Eine andere Seite des Alkoholgenusses zeigen die positiven bürgerlichen Helden des Romans, die Wein und Kognak schätzen und den „richtigen Gebrauch“ davon machen, als innere Stärkung für ihren Kampf gegen die Bösen und für ihr vornehmes Leben überhaupt. Durch ein Glas Wein wird der jugendliche Held und Ich-Erzähler Jim Hawkins in ihre Kreise aufgenommen. Die Einzelheiten sind symbolisch aufgeladen, oft steht dasselbe Element für Zivilisation und für Tod.

Andere Beispiele für solche vielstimmigen „particulars“ sind der Sand (der schon längst vor dem Inselabenteuer auf dem Boden von Wirtshäusern erscheint), die Bibel (aus der die Piraten abergläubisch Stellen herausschneiden), die jeweils verwendete Flagge (es gibt die englische und die der Piraten), der Mond (der Helligkeit schafft, aber auch Silberfäden in die Landschaft projiziert, die „Gefängnisgittern“ ähneln). Die Schatzinsel bietet, obwohl gereist wird, nirgends ein Tableau fremder Kulturen; stattdessen nennt sie Summen von Besonderheiten, die mal Vertrautes, mal Fremdes ankündigen. Man könnte wohl auch sagen: Stevenson ist die Empirie wichtiger als intellektuelles Systematisieren.

Die gesamte Handlung wird also durch kleine Bausteine zusammengesetzt – so wie Stevenson zuerst eine minuziöse Zeichnung seiner Insel entworfen hat, ehe er die Geschichte niederschrieb. Lindner spricht in diesem Zusammenhang (unter Rückgriff auf Stevensons eigene theoretische Darlegungen) von einem „synthetischen Stil“.

Zu diesem Stil gehören auch die humoristischen und ironischen Elemente: Ausgerechnet der Friedensrichter Trelawney schwärmt vom Gold, in dem er sich bald „wälzen“ werde, und er hat denselben biblischen Vornamen wie der Ober-Pirat John Silver. Dieser wiederum verbreitet die bürgerliche Lebensmaxime „Dienst ist Dienst“. Den stolzen Namen „Admiral Benbow“ trägt ein ärmliches Gasthaus.

Interessant ist auch, dass, wie Lindner entdeckt, einmal eine Frau eine bedeutende Rolle spielt: Jims Mutter, aufs Aufräumen erpicht, ist es nämlich, die letztlich dafür sorgt, dass die bedeutsame Insel-Karte in Jims Hände gerät. Erst recht interessant sind Lindners intertextuelle Beobachtungen. So seine Hinweise auf den Mond in Arno Schmidts Werk – dort wie bei Stevenson bescheine der Mond in geradezu metaphysischer Position das gefährliche Abenteuer – und sein Betonen der realistischen und gleichzeitig romantischen Tradition, die Stevenson mit seinen Motivdetails aufnimmt. Diese Tradition finde sich auch bei Theodor Fontane in seinem Roman Irrungen, Wirrungen. Wenn freilich Lindner das Schaffen Stevensons mit dem Webstuhl- und Schifflein-Motiv bei Goethe vergleicht, so ist das schon die aufdringliche Koketterie eines Liebhabers der Literatur.

Auch sehe ich nicht recht, wie man, was Lindner tut, eine „Theologie der Schatzinsel“ entwerfen kann. Stevenson geht es nämlich, und das zeigt doch Lindner immer wieder, nicht um ‚das große Ganze’, sondern eher um die Empirie. 

Wie soeben angedeutet, muss man nicht allen Feinheiten in Lindners Studie zustimmen. Jedenfalls ist sie mit ihrem Scharfblick und ihrem Facettenreichtum eine höchst vergnügliche Lektüre. Die bibliografischen Angaben sind manchmal unpräzise (etwa heißt es „Google Eintrag“ statt: wikipedia). Doch zu loben ist diese philologische Sorgfalt: Zitate aus der Schatzinsel werden auf Deutsch geboten und ihr originaler Wortlaut in Fußnoten beigegeben.

Kommen wir nochmals auf Stevensons Anfangssatz zurück. Dieser eröffne, erklärt Lindner, die Suche nach dem Schatz, und dabei sei, genau besehen, dieser Schatz vielleicht das Buch selbst, das der Leser aufmerksam lesen und als originelles Kunstwerk entdecken und durchdringen möge. 

Titelbild

Andreas Lindner: Sprachschatz, Phantasieschatz, Schatzsuche. Robert Louis Stevensons „Treasure Island“.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2022.
148 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783826064081

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