Mitunter ist eine Inschrift keine Inschrift, immer aber eine Inschrift
Laura Velte und Ludger Lieb stellen in einem Sammelband „Literatur und Epigraphik“ in einen gelegentlich recht überraschenden Zusammenhang
Von Jörg Füllgrabe
Literatur, Epigraphik – Epigraphik, Literatur. Mit diesen beiden Machtworten nicht des Zeitgeistes, sondern der kulturellen Tradition ist ein Zauber vorgegeben, dem sich Leserinnen und Leser wohl nur schwerlich werden entziehen können. Die zuvorderst mit Inschriften herausragender Art konnotierte Epigraphik gehört ebenso wie die Literatur(-geschichte) zum Kern selbstreferentiellen Bildungsverständnisses zumindest arrivierter Kreise der Gesellschaft – in unterschiedlicher Präsenz und verbunden mit unterschiedlichen Erfahrungen und (Be-)Wertungen. So wird eine Erwartungshaltung konzipiert, die den Ruch des Außergewöhnlichen transportiert. Inschriften sind als kulturhistorische Zeugnisse oft unprätentiös knapp, oft aber auch – vor allem wenn es sich um Panegyriken auf Tote wie Lebende handelt – von ausgreifender Bildhaftigkeit, immer aber im mehr oder minder öffentlichen Raum und mit Träger-Medien vergesellschaftet, die auch ohne weitergehende Zurüstungen Dauer garantieren.
Dass im Titel des vorliegenden Werks – Literatur und Epigraphik – indes die Literatur an erster Stelle genannt wird, sollte stutzig machen und womöglich einseitige oder gar eindeutige Erwartungshaltungen dämpfen. Und so ist es in der Tat: Wer kulturhistorisch interpretierende Abhandlungen zu einzelnen Inschriften oder Inschriftengattungen erwartet, sieht sich möglicherweise enttäuscht. Inwieweit eine Verbindung dieser beiden Komponenten im Sinne Johann Wolfgang von Goethes eine ‚wahlverwandtschaftliche‘ ist, mag erst einmal dahingestellt bleiben, zumindest aber scheint sie keine ganz konfliktfreie zu sein – denn „Literatur und Epigraphik“ kann ja eigentlich nur das Zitieren oder auch Adaptieren literarischer Wendungen oder allgemeiner Inhalte in nichtliterarischen, konkret: inschriftlichen, Texten bedeuten. Dies wären dann etwa im Rahmen einer kirchlich geprägten Friedhofskultur Bibelzitate auf Grabsteinen, um nur ein Beispiel zu nennen.
Aber so konkret wird es meistenteils nicht. Mag das knappe Vorwort mitunter mehr verwirren als klären, stellen Laura Velte und Ludger Lieb mit ihrem einleitenden Beitrag Reale und fiktive Inschriften nicht nur die einzelnen Themenfelder vor, sondern liefern auch einen definitorischen Rahmen, der allerdings äußerst weit gefasst ist. Wenn also etwa „repräsentierte[n] und nicht repräsentierte[n]“ Inschriften tatsächlich kategorialer Charakter zugemessen wird, „poetische und nicht-poetische“ beziehungsweise ästhetisch-literarische und nicht-literarische Inschriften eine eigene Größe haben und schließlich – um der Literatur zu ihrem Recht zu verhelfen – „faktuale und fiktionale Erzählungen“ als ein drittes wesentliches Kriterium angeführt werden, dann ist es vermutlich sehr schwer, Texte zu finden, die nicht irgendwie in dieses Schema passen.
Daher sei zur besseren Klärung der sowohl werbende als auch informativ intendierte Text auf der Umschlagrückseite herangezogen. Dort heißt es:
Zur Schriftkultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit gehören nicht nur Handschriften und Drucke, sondern auch Inschriften, die auf unterschiedlichsten Materialien und Gegenständen, auf Plätzen und Gebäuden angebracht wurden. Auf den ersten Blick scheint ihr Zweck offenkundig. […] Rekonstruiert man aber die Kontexte und Praktiken sowie die Bedeutung von Beschreibstoffen, Layout und Formaten, eröffnen Inschriften eine Vieldeutigkeit, die keine einfachen Antworten mehr zulässt.
Nun ist dies bereits auf eine nebulöse Art nahe am Allgemeinplätzlichen, stimmt aber Leserinnen und Leser auf eine Lektüre ein, in der das Phänomen ‚Inschrift‘ in eben jenem Sinne diskutiert und interpretiert wird, also Epigraphik neben einer rein summarisch-deskriptiven Auflistungsarbeit auf ihren ‚Sitz im Leben‘ hin überprüft wird. Das zugegebenermaßen geschickte Wendemanöver, das darauf folgt, macht die zu erwartende Frustration nicht unbedingt geringer, mag aber auf diese zumindest vorbereiten. Denn eine – hier großmütig unterstellte – Steigerung wird demnach dadurch generiert, dass „man real erhaltene mit solchen Inschriften konfrontiert, die in Chroniken, Legenden oder mystischen Visionen dieser Zeit beschrieben werden“. Wer mag dazu schon Nein sagen?
Aber wie weit geht etwa die Suche nach den ‚virtuellen Inschriften‘? Hinsichtlich des theologischen Aspekts gerade auch nonsubstanzieller Epigraphik beispielsweise nimmt es Wunder, dass die geheimnisvolle flammende Inschrift aus der alttestamentlichen Daniel-Überlieferung keine Erwähnung findet, hätte doch der Beitrag zu Mechthild von Hackeborn, in dem gerade derlei flüchtige Epigraphik im Kontext wortwörtlich visionärer Offenbarung thematisiert wird, die Möglichkeit geboten, ad fontes zu gehen; diese ‚Quelle‘ wäre geradezu als grundlegende Referenz für den Band prädestiniert. Eigenartig ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Mitherausgeberin Laura Velte zwar unter dem attraktiven wie Entschlossenheit signalisierenden Titel Materiam vici unter anderem zwar auf den Parzival eingeht, hier allerdings das flüchtige Phänomen einer Schrift auf dem Helm Gahmurets in den Blick nimmt, das zwar beeindruckend sein mag, aber kaum zum Kern der Dichtung gehört, während sie die ebenso flüchtige Inschrift auf dem Gral, die immerhin den künftigen Gralskönig verheißt und somit eine handlungsleitende Bedeutung innehat, nicht berücksichtigt.
Insgesamt vier Themenblöcke werden in dem Werk vorgestellt: „Visionäre Schriftlichkeit: Materielle Gebete und Inschriftenallegorien“, „Imaginationen vom Ende: Soziale, topologische und symbolische Dimensionen der Grabinschrift“, „Urbane Leseräume: Murale Visualisierung von Bildung und Wissen“ sowie „Multimediale Konstellationen der Inschrift im genealogischen und kosmologischen Zusammenhang“. Warum dann jedoch das Fazit unter Themenblock vier subsumiert wird, bleibt ebenso fraglich wie der Zusammenhang zwischen Beiträgen und annonciertem Themenfeld in einigen weiteren Fällen. Auch die sich auf den ersten oberflächlichen Blick anbietende Paarung ‚real – virtuell‘ wird nicht immer eingehalten, sodass der Ansatz ‚Realität gegen Fiktion‘, der an sich einen großen Reiz hat, allenfalls bedingt verfolgt wird.
Eine gewisse Irritation mag auch durch den vorgegebenen Aufbau ausgelöst werden: So gibt es Tagungsbände, in denen, quasi in verschriftlichter Form des Tagungsgeschehens, dem jeweiligen Themenabschnitt eine Einleitung vorangestellt wird, die dann von der Sektionsleiterin oder dem Sektionsleiter verfasst wird. Es gibt auch Tagungsbände, in denen die Diskussion zu den Beiträgen einer Sektion wiedergegeben wird. Ein Band, in dem jeweils zwei Beiträgen ein „Kommentar“ nachgestellt ist, ist dem Rezensenten bislang jedoch noch nicht untergekommen.
Obgleich dieser Umstand in dem kryptischen Vorwort Erwähnung findet und – so die Herausgeber dann in der Einleitung nochmals ausführend – die jeweiligen Kommentare im Rahmen der Tagung realiter abgegeben wurden, wirft derlei grundsätzliche Fragen auf. Die Fachtagung selbst fand vom 7. bis zum 9. Oktober 2020 in Heidelberg statt. Das war zwar nicht während des ersten Lockdowns, gleichwohl ist es wahrscheinlich, dass es Einschränkungen gab, vielleicht sogar einen virtuellen Aspekt – dass also Erweiterungen im Rahmen einer Videokonferenz dazu gehörten. Dies würde etwa die Kommentare erklären helfen, allerdings finden sich hierzu keine Informationen.
Das ‚Dunkelfeld‘ tagungswirklicher Virtualität als gegeben vorausgesetzt: Warum wurde das Ganze auch im vorliegenden Tagungsband fortgeschrieben? Wurden die Beiträgerinnen und Beiträger diesbezüglich um ihre Zustimmung gebeten oder zumindest informiert? Es ist schon etwas anderes, sich vor Ort in einer Kongress-Situation Fragen und einer Diskussion zu stellen oder auch Kommentare zu hören, als den eigenen Beitrag in dem entsprechenden Band kommentiert zu sehen, auch wenn diese Kommentare im vorliegenden Fall weitgehend Paraphrasen der vorhergehenden Beiträge sind.
Die avisierte Meta-Perspektive scheint in den entsprechenden Kommentaren allenfalls marginal auf. Lediglich Sarina Tschachtli brilliert mit ihrem Kommentar zu den Beiträgen von Julia Bohnengel und Lukas Hermann, indem sie vorschlägt, von ‚fingierten‘ anstatt von ‚fiktiven‘ Inschriften zu schreiben. Dass neben dem lesenswerten Fazit von Michael Ott und Iris Roebling-Grau (hier werden im Nachgang Rahmensetzungen erläutert, was gewiss zur Hinführung sinnstiftender gewesen wäre) zwei weitere Beiträge (Geistliche Inschriften des Spätmittelalters – visionär, materiell von Racha Kirakosian sowie Das genealogische Reimgedicht in der Wernau’schen Chronik (1592) des Valentin Salomon von Fulda. Überlegungen zur Frage nach der inschriftlichen Ausführung von Jan Ilas Bartusch) unkommentiert bleiben, bleibt unaufgelöst und erschließt sich auch nicht im Kontext der Publikation.
Alles in allem liegt mit Literatur und Epigraphik ein Tagungsband vor, dem zweifellos das Attribut ‚seltsam‘ gebührt. Vieles – bezogen auf die strukturelle Rahmengebung, nicht auf die Einzeltexte – wirkt auch nach wiederholtem Lesen undurchdacht fragmentarisch. Die im Großen lesenswerten Beiträge werden lediglich durch ein hauchdünnes Band des im allerweitesten Sinne gemeinsamen Sujets, das sich als ‚Irgendwas mit Epigraphik‘ kennzeichnen ließe, zusammengehalten – oder eben auch nicht. Es scheint eher so, als wären hier in größerem Umfang Miszellen zusammengetragen und durch den kleinstmöglichen Meta-Begriff zusammengeführt worden. Und auch die in einzelnen Texten dem Fließtext zugesellten und durchweg sehr schönen Illustrationen erhellen zwar das Einzelne, den jeweiligen Beitrag, aber nicht unbedingt das Ganze. Schade! Sind eine knappe Einleitung, in der die rahmengebenden Strukturen zu definieren gesucht, und ein Fazit, in dem diese erläutert werden, tatsächlich genug, um die Einzelbeiträge zu einem überzeugenden Ganzen zusammenzuführen? Bemerkenswert ist überdies, dass der Band auf der Homepage des Erich Schmidt Verlages komplett zum kostenlosen Herunterladen bereitgestellt wird. Ein Ergebnis mangelnden Zutrauens oder wohlüberlegter Open-Access-Politik? Es bleiben einige Fragen offen.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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