Und nichts als die Wahrheit
Jonathan Rauchs Buch „Die Verteidigung der Wahrheit“ hält, was sein Titel verspricht
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWahrheit, das ist ein ebenso großer wie umstrittener Begriff. Letzteres ist er zumindest in zweierlei Hinsicht: Zum einen ist fraglich, wie sie zu erkennen ist, und zum anderen, ob sie überhaupt zu erkennen ist. Viele vermeiden daher aus guten Gründen die Rede vom Wahrheitsgehalt und sprechen lieber vom Geltungsanspruch einer wissenschaftlichen Aussage, die eben so lange gültig ist, bis sie widerlegt wird.
Rauch weiß natürlich um diese Streitfragen und erklärt die Wahrheit unter Bezugnahme auf Karl Popper zum „regulative[n] Prinzip; eine[r] Orientierung und nicht ein[em] Ziel“. Ein Wahrheitsbegriff, der zwar, wie wohl alle Begriffsbestimmungen, nicht vollkommen konsensfähig ist, mit dem sich aber auf jeden Fall entgegen aller postmoderner Ignorabilismus- und Beliebigkeitsideologien arbeiten lässt, trägt er doch der Hegel’schen Erkenntnis Rechnung, „daß die Wahrheit nicht eine ausgeprägte Münze ist, die fertig gegeben und so eingestrichen werden kann“.
Das vorliegende Buch setzt sich aus zwei im Inhaltsverzeichnis als solche nicht ausgewiesenen Hauptteilen zusammen, die jeweils mehrere Kapitel umfassen. Im ersten historisch/theoretischen Teil legt Rauch unter Rekurs auf Philosophen wie Plato, John Locke, David Hume, Charles S. Peirce und Karl Popper sowie auf evolutionsbiologische Erkenntnisse sein Verständnis von Wahrheit, Wissenschaft und dem, was er das „epistemische Betriebssystem des Liberalismus“ nennt, dar. „Der Wahrheit auf die Spur zu kommen“ argumentiert Rauch, sei die Aufgabe der „liberalen Wissenschaften“, deren spezifische Eigenarten aus „zwei grundlegenden Regeln“ resultieren. Zum einen aus der „fallibilistische[n] Regel: Keiner hat das letzte Wort“ und zum anderen aus der „empirische[n] Regel: Niemand besitzt personengebundene Autorität“.
Dem Verständnis des Autors zufolge umfassen die so bestimmten „liberalen Wissenschaften“ neben den „harten [Natur-]Wissenschaften“ nicht nur „die weicheren und sogar die Geisteswissenschaften“, sondern auch – und das mag überraschen – den „Mainstream-Journalismus und Aspekte der Rechtslehre und der Geheimdienstarbeit“. Denn bei ihnen allen handele es sich um „Gebiete, auf denen Forscher sich des unpersönlichen kritischen Ideenaustauschs bedienen“, um evidenzbasiertes Wissen zu generieren, „und sich dabei gegenseitig für ihre jeweils an den Tag gelegte Sorgfalt zur Rechenschaft ziehen“.
Das „soziale Netzwerk“, „das die Regeln und Normen der liberalen Wissenschaft befolgt“ und somit auf dem Boden der „Verfassung der Erkenntnis“ steht, benennt der Autor mit dem Begriff der „realitätsbasierte[n] Gemeinschaft“. Im gegenseitigen Austausch verwandeln die ihr angehörenden klugen Köpfe ihre „persönliche[n] Erfahrungen und Überzeugungen“ Rauch zufolge in etwas, das „viel größer“ sei als sie alle, nämlich „in objektive Erkenntnis“. Zutreffender und überzeugender wäre es, wenn Rauch weniger vollmundig von intersubjektiver Erkenntnis sprechen würde.
Im zweiten, etwas umfangreicheren Teil behandelt der Autor verschiedene Attacken, denen sich die Wissenschaften ausgesetzt sehen, und wendet sich den Strategien der gegen sie gerichteten Angriffe zu. Dabei konzentriert er sich fast ausschließlich auf die Verhältnisse in den USA, die doch um einiges düsterer sind als die hiesigen. Zunächst unterscheidet Rauch recht überzeugend „zwei Arten von Aufwiegelung“. Die eine werde zumeist „Trollkultur“ genannt. Sie arbeite mit der „Verbreitung viraler Desinformation und alternativer Wirklichkeiten“. Ihr „Dauerfeuer der Unwahrheit“ wolle nicht „überzeugen“, sondern „verwirren und Unsicherheit, Orientierungslosigkeit“ hervorrufen. Daher haben Trolle oder Leute wie Trump und Putin auch kein Problem damit, sich ständig zu widersprechen. Vielmehr sei das gerade ein Teil ihrer Strategie. Denn die „Troll-Epistemologie“ ziele nicht auf die realitätsbasierte Gemeinschaft selbst, sondern „[versucht] eine Schwächung der Informationsumwelt, die die realitätsbasierte Gemeinschaft umgibt“. Die zweite Herausforderung werde gemeinhin unter dem Begriff der Cancel Culture gefasst und setze auf die „Ausbreitung erzwungener Konformität und ideologischer Ausgrenzung und Denunziation“. Zwar verfolgten Troll- und Cancel Culture nahezu identische Absichten und operierten „irritierenderweise [oft] faktisch wie Verbündete“, doch sei erstere „vornehmlich rechtsgerichtet und populistisch[.]“, wohingegen letztere „vornehmlich linksgerichteter und elitärer Natur“ sei. Den Urvater der Cancel Culture glaubt Rauch in Ruhollah Chomeini ausgemacht zu haben. 1989 habe er sie mit seiner gegen Salman Rushdie verhängten Fatwa aus der Taufe gehoben.
Dass die Cancel Culture ein überwiegend linkes Phänomen sei und ihren Ursprung in Chomeinis Fatwa habe, lässt sich allerdings bezweifeln. In den USA sind es gerade auch rechte und konservative Kreise, die sich als ‚Canceler’ hervortun. Sei es ‚von oben’ oder ‚von unten’. So erließ der republikanische Gouverneur von Florida Ron DeSantis 2021 beispielsweise das als Don‘t-say-gay-Gesetz bekannt und berüchtigt gewordene Parental-Rights-in-Education-Gesetz für Kindergärten und Grundschulen. Im April 2023 wurde es auf alle Schulklassen ausgedehnt. Doch damit nicht genug. 2022 erließ DeSantis das Stop-Woke-Gesetz. Es verbietet unter anderem, an Schulen Critical Race Theory zu unterrichten. ‚Unten’ sind etwa seit etlichen Jahren Eltern-Initiativen aktiv, die Bibliotheken und öffentliche Büchereien nach unliebsamen Titeln durchforsten und deren Entfernung veranlassen oder dies zumindest versuchen. Zum Opfer fallen ihnen Aufklärungsbücher ebenso wie Romane, Fantasybände oder Comics. Unter ihnen etwa John Steinbecks Von Mäusen und Menschen, eine Graphic-Novel-Version des Tagebuchs von Anne Frank, Art Spiegelmans Maus, und natürlich Margaret Atwoods A Handmaid’s Tale sowie alle nur erdenklichen Titel, die queere Themen behandeln. Selbstverständlich beschränkt sich die rechte Cancel Culture keineswegs auf das geschriebene Wort, wie leicht anhand einiger Beispiele aus der populären Musik gezeigt werden kann. So verbrannten 2003 empörte Rechte die CDs der Country Band Dixie Chicks, nachdem deren Sängerin Natalie Maine am Vorabend des ersten Irak-Krieges während eines Konzerts gesagt hatte, sie schäme sich dafür, dass Präsident George Bush aus Texas stammt. 1967, also schon lange vor Chomeinis Fatwa wurde von englischen und US-amerikanischen Radiostationen die Platte My Friend Jack der Band Smoke auf den Index gesetzt, da sie Drogenkonsum propagiere. Ein Jahr zuvor tobte in den USA ein religiöser Cancel-Sturm gegen die Beatles, nachdem John Lennon in einem Interview erklärte hatte: „We’re more popular than Jesus now – I don’t know which will go first, rock and roll or Christianity.” Und hierzulande verbannte der Bayrische Rundfunk 1963 den Nummer-Eins-Hit Schuld war nur der Bossa Nova der Schlagersängerin Manuela aus dem Programm, in dem die achtzehnjährige Jane abends in eine Dancing Bar geht. Stein des Anstoßes waren die Textzeilen: „Doch am nächsten Tag fragte die Mama:/ ‚Kind, warum warst du erst heut’ morgen da?‘“
Die Beispiele rechter Cancel Culture ließen sich schier endlos fortsetzen. Doch soll mit ihnen keineswegs gesagt werden, sie wäre nicht auch auf der linken Seite zu finden. Einschlägige Fälle aus den letzten Jahren sind hinlänglich bekannt. Doch sie sind natürlich ebenfalls alles andere als ein Phänomen der jüngeren Zeit. Schon vor mehr als einem halben Jahrhundert sprengten marxistische Studierende universitäre Vorlesungen, die sie für reaktionär oder auch nur konservativ hielten. Allerdings konnte auch schon mal eine Veranstaltung des kritischen Theoretikers Theodor W. Adorno betroffen sein.
Wie Rauch an einigen aktuellen Beispielen zeigt, können „Zielpersonen solcher Kampagnen […] gesellschaftlich zu Aussätzigen werden – sie können ihren Ruf ebenso verlieren wie ihre Jobs oder ihre Unternehmen, ganz abgesehen von vielen ihrer Freundschaften und sozialen Kontakten“. Nicht immer scheinen die Anstrengungen der cancelnden Meute von Erfolg gekrönt. So etwa im Falle von J. K. Rowling, deren Werke sowohl evangelikale Rechte wie auch transaktivistische Linke canceln wollen. Werden Rowlings Harry-Potter-Romane auch nach wie vor gelesen und gekauft und jüngst sogar deren Verfilmung als TV-Serie angekündigt, bleibt auch die gegen die Autorin gerichtete Kampagne nicht ohne Folgen. Denn die „Beschämung“ Prominenter „dient in jedem Fall auch als Warnung an andere“. Damit folgen die Aktionen der Cancel Culture ganz Mao Zedongs zynischer Maxime: „Bestrafe einen, erziehe hunderte.“ Und dies sehr erfolgreich, wenn man etwa den bundesdeutschen Umfragen zur freien Meinungsäußerung glauben schenken darf.
Überdies, so argumentiert Rauch, gehe es beim Canceln darum, die „eigene Tugendhaftigkeit“ und die „Verbundenheit mit der eigenen Gruppe“ zu signalisieren, sodass sich die „erzwungene Konformität“ auf eine Art und Weise nach innen richtet, wie man sie von sektenähnlichen Gruppierungen kennt.
Gegenwärtig wird die Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre dem Autor zufolge auf dreierlei Weisen bedroht, von denen die beiden letzten überwiegend von Linken angewandt werden. Die erste nennt Rauch „die fundamentalistische“. Ihr zentrales Argument besteht in der „Gewissheit“, dass die gegnerischen „Ideen […] so eindeutig und offensichtlich falsch“ sind, dass sie nur auf Bösartigkeit, Dummheit oder Ignoranz beruhen können. Als zweite macht der Autor „die egalitäre“ aus, die sich insbesondere auf „Fairness“ beruft und besagt, die abgelehnten Feststellungen sind „per se unterdrückerisch und ihre Äußerung benachteiligt eine bestimmte Perspektive oder Gruppe“, wenn sie nicht gar ganz grundsätzlich erklärt, dass „die Idee der objektiven Wahrheit selbst […] unterdrückte Gruppen [ausgrenzt]“. Die letzte der drei Herausforderungen bezeichnet der Autor als „die humanitäre“. Sie rekurriert auf das „Leid“ und kritisiert, dass die abgelehnte These oder Theorie „auf eine gewalttätige oder gewaltanaloge Weise“ verletzend sei. Mehr noch, „wenn subjektiv verletzende Äußerungen Gewalt sind, dann ist auch Kritik Gewalt, und dann ist die ganze Wissenschaft ein einziger Verstoß gegen Menschenrechte“.
„In einer streitbaren Kultur“ sind „emotionale Verletzungen“, die durch Kritik hervorgerufen werden, nicht zu vermeiden. Einschüchterungen und sozialer Druck „zum Zweck der Unterdrückung intellektueller Vielfalt“ sind dennoch nie gerechtfertigt, denn sie „verstoßen“ in jedem Fall gegen die Freiheit der Wissenschaft, was auch immer als „vermeintliche Rechtfertigung“ vorgebracht werden mag. Wenn aber Worte zu Gewalt erklärt werden, scheine „die Anwendung physischer Gewalt, um einen Redner zum Schweigen zu bringen“, eine „legitime Selbstverteidigung“ zu sein.
In den letzten Jahren habe sich sogar „in der realitätsbasierten Gemeinschaft“ selbst „ein überzogener Anspruch auf emotionale Sicherheit […] ausgebreitet“. Dies ist eine umso fatalere Entwicklung als dieser „sogenannte ‚Safetyism’ […] grundsätzlich […] mit der Freiheit der Rede, der intellektuellen Vielfalt, dem Streben nach Erkenntnis und dem sozialen Frieden unvereinbar [ist]“. Der „einzige Safe Space für Minderheiten“ sei in der allgemeinen „freien Rede“ zu finden, hält Rauch dem entgegen.
Philosophieren, schrieb Arthur Schopenhauer, verlange den „Muth[,] keine Frage auf dem Herzen zu behalten“. Ein Mut der auch erforderlich ist, um Wissenschaft zu betreiben. Ohne Menschen, die diesen Mut besitzen und sich wie der Autor für das einsetzen, was er Wahrheit nennt, ist der unbehinderte Austausch von offenen Fragen, zu überprüfenden Thesen, heranreifender Überlegungen und Erkenntnisse (nicht nur in den Wissenschaften) verloren. Dieser Austausch ist darum so bewahrenswert, ja täglich neu zu erringen, weil Freiheit und Demokratie ohne ihn nicht denkbar sind.
Zu hoffen ist daher, dass Rauchs Buch hierzulande möglichst viele Menschen im Wissenschaftsbetrieb ermutigt, stärker für die Freiheit von Forschung und Lehre einzutreten. Allein darum schon ist seine Übersetzung zu begrüßen.
|
||