Eine gescheiterte Ethik, (un-)soziale Medien und ein feministisches Paar

Die Humanistische Akademie hat den dritten Band ihrer Jahresbücher „Humanistik und Philosophie“ veröffentlicht

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit 2020 bringt die Humanistische Akademie alljährlich einen Band ihrer Schriftenreihe Humanistik und Philosophie heraus. Der nunmehr dritte Jahresband bietet neben einem James Stuart Mill und Harriet Taylor Mill gewidmeten Schwerpunkt sechs Aufsätze zu den beiden Bereichen „Philosophie und Kunst“ sowie „Politik und Gesellschaft“. In ihnen erörtert der Herausgeber des Bandes Frank Schulze die „Grenzen und Möglichkeiten“ einer „weltliche[n] Spiritualität“, während Jonas Grutzpalk den Metaphern nachgeht, mit denen die Corona-Pandemie beschrieben wurde.

Andreas Müller erklärt hingegen, woran die Ethik Ayn Rands „scheitert“. Sein Text ist umso interessanter, als sein Autor vor etlichen Jahren auf der „Suche nach einer atheistischen Alternative zur christlichen Ethik“ selbst bei der US-amerikanischen Religionskritikerin gelandet war und sich zu einem glühenden Verfechter ihrer moralphilosophischen Auffassungen entwickelte. In dem vorliegenden Text geht Müller nun allerdings hart mit Rand und somit auch mit sich selbst ins Gericht. Eine derart ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstkritik ist durchaus zu würdigen, geht im vorliegenden Fall allerdings auch mit einer gewissen Egozentrik einher.

Vuko Andrić wiederum befasst sich mit den Gefahren, die der Demokratie durch die sozialen Medien drohen, und erörtert, wie ihnen angemessen zu begegnen sei. „Problematisch“ seien etwa die dort nicht selten anzutreffenden „moralisch anstößigen Wertungen“, aber auch manche „(nicht per se wertenden) Tatsachenbehauptungen“. Gelegentlich gingen beide Hand in Hand. Nun seien allerdings weder „alle Hasskommentare strafbar“, noch handele es sich bei Desinformationen um einen „eigenen Straftatbestand“. Doch nur, wenn ein solcher erfüllt ist, seien „bloße Ordnungsmaßnahmen als Reaktion auf problematische Inhalte in sozialen Medien gerechtfertigt“. „Regulierungen“ nicht strafbarer Hasskommentare und Desinformationen wie etwa das „Löschen von Beiträgen mit problematischen Inhalten, das Versehen von Beiträgen mit Faktenchecks oder Warnungen, Demonetarisierung, ‚normative’ Algorithmen in Suchmaschinen, Deplatforming“ hält der Autor hingegen nicht für vertretbar. Denn solche Maßnahmen seien nicht mit den „Grundwerten liberaler Demokratien“ vereinbar und würden überdies „den Wert sozialer Medien für gleichberechtigte demokratische Prinzipien reduzieren“. Immerhin handele es sich bei ihnen um „ein primäres Forum für demokratische Diskurse“. Dieser Befund mag in Diktaturen zutreffen. In Demokratien sind die sozialen Medien hingegen wohl kaum demokratie- und deliberationsfördernd. Da „nicht einzusehen“ sei, weshalb sie „Privateigentum und damit der Verfügungsgewalt von nicht-staatlichen Akteuren unterworfen sein sollten“, regt Andrić die Verstaatlichung sozialer Medien an. Gerade in Hinblick auf Diktaturen ist das allerdings ein mehr als fragwürdiger Vorschlag.

Die fünf James Stuart Mill und Harriet Taylor Mill gewidmeten Beiträge befassen sich kenntnisreich sowohl mit dem Leben als auch dem Wirken beider. Bedeutungsvolle Neuigkeiten haben sie der Forschungsgemeinde allerdings kaum zu bieten. Für einen Aufsatz recht ausführlich, zeichnet Robert Zimmer anhand von Mills Autobiographie die durch das utilitaristische Erziehungskonzept seines Vaters geprägte „Persönlichkeitsentwicklung“ des liberalen Denkers nach. Dabei würdigt der Autor Mills Lebensbeschreibung als eine der „großen philosophischen Autobiographien“ und stellt sie in eine Reihe mit Augustinus’ Confessiones und Rousseaus Confessions. Zugleich handele es sich bei ihr um „so etwas wie de[n] utilitaristische[n] Gegenentwurf zu Rousseaus Emile“. Dass Rousseau in dem genannten Werk allerdings ein „fortschrittliches Erziehungskonzept“ vertreten habe und für eine „erfahrungsorientierte und rationale Volksbildung [plädierte]“, ist bestenfalls die halbe Wahrheit, wie die Lektüre des der Erziehung und Bildung Sophies gewidmeten Teils des maskulinistischen Erziehungsprogramms Rousseaus zeigt.

Mill wiederum habe sich ungeachtet seiner Gelehrtheit und Scharfsinnigkeit hinsichtlich seiner „geistige[n] und weltanschauliche[n] Orientierung“ nie von einer gewissen „Unselbständigkeit“ befreien können. So habe er es nicht gewagt, seinem Vater „explizit zu widersprechen“. Nach dessen Tod habe Harriet Taylor seinen Vater als „absolute[] intellektuelle[] Autorität“ abgelöst und ihre „Anschauungen“ seien für ihn „prägen[d]“ geworden. Das mag so gewesen sein. Ob Mill allerdings tatsächlich der „erste[] männliche[] ‚Feminist’ in d[er] Philosophiegeschichte“ war, scheint doch fraglich. Nicht wenige sprechen diese Ehre Charles Fourier zu.

Nicht John Stuart Mill, sondern Harriet Taylor Mill wendet sich Gerda Rosenberg zu und vertritt die nicht eben neue These, dass sie „mehr als die Frau hinter dem großen Philosophen“ war. Mit etwas hagiographischem Zungenschlag preist sie die „geistige Symbiose“ von Harriet Taylor Mill und John Stuart Mill, die das „allerhöchste[] Niveau“ erreicht habe.

Bemerkenswerter ist der Beitrag von Dieter Birnbacher, der zeigt, dass Harriet Taylor Mill in Fragen der Frauenemanzipation viel radikaler dachte als John Stuart Mill. Oder, um es etwas vorsichtiger auszudrücken, dass sie zumindest weit radikalere Texte publizierte. Möglicherweise könnten für Mills relative Zurückhaltung auch taktische Überlegungen eine Rolle gespielt haben, mutmaßt Birnbacher und vertritt die „Hypothese“, „dass Mill mit Harriets radikaleren Ideen stärker sympathisierte“, als die von ihm nach dem Tod seiner Partnerin veröffentlichten Texte erkennen lassen, deren „Konservativismus von dem Wunsch diktiert“ gewesen sein könnte, „so viele Leser wie möglich von seiner Sache zu überzeugen“.

Wie dem auch sei, jedenfalls revidierte Mill nach dem Tod seiner Partnerin deren damals „bahnbrechende Vorstellung, dass die Ehepartner ihre Aufgaben so definieren, dass berufliche und häusliche Aufgaben gleichzeitig [sic] erfüllt und die Einnahmen aufgeteilt werden“. Offensichtlich habe Mill also sogar noch für die von ihm anvisierte gerechte und ideale Gesellschaft eine „traditionelle“ Geschlechterrollenverteilung vorgesehen. Das war schon damals nicht sonderlich feministisch.

Mögen auch nicht alle Beiträge des Schwerpunktes dazu geeignet sein, die Forschung voranzubringen, so sind sie doch durchaus informativ und regen zur näheren Beschäftigung mit den Werken John Stuart Mills und Harriet Taylor Mills an.

Titelbild

Frank Schulze: Humanistik und Philosophie 3.
Alibri Verlag, Aschaffenburg 2022.
193 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783865693730

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