Rohling mit sanftem Herzen

Herbert Achternbusch zum 80. Geburtstag

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die literarischen Arbeiten Herbert Achternbuschs widersetzen sich bekanntlich jedweder Vorstellung von einem ordentlichen Werk“, urteilte Winfried Georg Sebald bereits 1988. Achternbusch, der bayrische Filmschaffende und Theaterkünstler, Maler und Schriftsteller, gilt vielen als anarchischer Chaotiker – von Ordnung keine Spur.

Gleichwohl lassen sich konsequente Leitlinien seines Schaffens bestimmen: Die scheinbar dilettantische Bildsprache der Kamerafahrten seines beeindruckenden filmischen Œuvres kann ebensowenig Zufall sein (da genügt eigentlich schon der Hinweis auf seinen versierten Kameramann Jörg Schmidt-Reitwein) wie die vergleichsweise „offene“ Prosamischform seines erzählerischen Werkes. Die Theaterstücke sind augenscheinlich ebenso genau gearbeitet wie sein bildkünstlerisches Werk. Gerade der überwältigenden Malerei kann sich niemand entziehen, der Augen im Kopf hat: sie kann sich mit ganz großer Kunst messen, und zwar in jeder Hinsicht – kompositorisch, farblich, gestalterisch. Die Formate, die Materialien, die Farben, der Strich – der Witz, der Ausdruck, die Dynamik, die Tiefe: das ist alles restlos überzeugend, berührend, ernsthaft und komisch zugleich. Viele seiner Bilder werden uns vom Urheber in seinem Film „Die Föhnforscher“ (1984/85) erläutert.

Ein Ordnungssinn drängt sich jedem auf, der bereit ist, hinzuschauen: „Die Macht des Löwengebrülls“ (1970) beispielsweise bleibt eng auf die Bergpredigt bezogen. Hier wird quasi nochmals ,umgedreht‘, was uns vielleicht schon beim biblischen Text absurd anmutete. Sehr intelligent sind auch die Werkstiftungsideen, die etwa in den Paratexten seiner Sammelbände sichtbar werden: „Du hast keine Chance aber nutze sie“. Diese Begleitschriften schwanken zwischen verlegerischem Peritext und Autorentheorie, und sie sind derart gut gemacht, dass sie kluge Nachahmer (ich nenne Rainald Goetz) gefunden haben.

Man stellt sich den Achternbusch’schen Zumutungen mit Gewinn: Die beeindruckenden Inszenierungen Dieter Dorns und Thomas Ostermeiers (an den Kammerspielen) oder Pinar Karabuluts (am Volkstheater) belegen die Strapazierbarkeit der Texte: Es ist fast unentscheidbar, ob das nun Regie- oder Autorentheater, postdramatisches Theater, absurdes Theater, Farce oder Assoziationstheater sein soll. Alles kann eintreten, alles kann zutreffen.

Mit großer Konsequenz wird hier politisch gewütet. Zwar kann die Macht der Mächtigen damit nicht gebrochen werden, doch leidet ihr öffentliches Bild. Innenminister Friedrich Zimmermann (CSU) hat weiland einfach keine Bella figura gemacht, als er sich mit Achternbusch anlegte. Andererseits stellt diese Künstlerexistenz der Kunstfreiheit in unserem Land nicht das schlechteste Zeugnis aus: „Das Gespenst“, einst verboten, firmiert mittlerweile unter FSK 12, und man versteht die Aufregung kaum mehr, die darum herrschte.

Dieses Œuvre wird von großer Tragik und Traurigkeit getragen. Tröstlich schön, wie Achternbusch von seinen privaten Niederlagen zu erzählen vermag. Die Conditio humana bedeutet im Kern Einsamkeit, und jedes Anklopfen der Welt, jede Resonanz der Öffentlichkeit (ob Lob oder Tadel) ist Zumutung. Dies gilt auch für die Rezeption im engeren Sinne, wie beim hier zu besprechenden Sammelband „Sommernachtsträume“.

Gillian Pyes Aufsatz ist weniger als Analyse von „Sintflut“ (1984) zu verstehen  denn als Auswertung von Kritikerstimmen, die Achternbusch auf der Bühne erlebt haben. Thematisiert wird „die Wirkung der Komik“, die teils als „Schwachsinn“ oder „Jux“ (Benjamin Henrichs), teils als „Albernheit“ und „Geblödel“ (Georg Hensel), teils als Mischung aus „Kalauer“ und „Galgenhumor“ (Barbara Schmitz-Burckhardt) wahrgenommen wird. Entspricht den Worten eine Wirklichkeit? Und lässt die sich komik-theoretisch spezifizieren? Oder soll solches Schubladendenken etwas über den Zustand unserer Kritik aussagen? Funktion dieses „Unsinnshumors“ könne es sein, „einen Sinn für Utopie zu schaffen“, an „Kindertheater“ (Henrichs) und Kindheitsmuster anzuknüpfen, indem man die unbekümmerte und lustvolle Art zu denken, zu träumen und zu leben wiederentdeckt, die uns „in der Schule kastriert worden“ (Jürgen Serke) sei. Solche Küchenpsychologie zitierte Michael Rutschky in seinem Beitrag für den Merkur: „Auf der Suche nach Verfolgern“.

„Von einem gewissen Format an hat jeder seine Verfolger vom Dienst.“ Dieses Bonmot Ernst Jüngers aus der Goethepreis-Rede trifft auch auf Achternbusch zu; so stöhnte er über Jörg Drews, der den Dichter mit immergleichen Hommagen bedachte. Herbert Achternbusch darf sich über einen neuen Band von Manfred Loimeier ärgern, freuen oder belustigen, aber solche Treue und Vasallengefolgschaft hat auch ihre eigene Tragik. Dabei tritt der Gelehrte, Professor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, als leiser und behutsamer Ethnologe dieses Gesamtwerkes und folglich ohne kolonialen Gestus auf. Doch nicht ohne Anspruch, diesen erratischen Subkontinent Bayerns nach allen Seiten hin durchmessen zu wollen. Bei seiner stupenden Analyse der Neufassung des „ungeliebten“ Theaterstücks „Susn“ freilich (das Achternbusch mit „Kuschwarda City“ zusammenspannte) fehlt mir, dem Anhänger biographischer Lektüren, die Ausleuchtung der „privaten“ Entstehungsbedingungen (auch der persönlichen Sozialisation Hartmut Riederers). Noch leben die Zeitzeugen, noch könnte man sie befragen – und ihr Werk dazu, das sie, fast unbemerkt von der Öffentlichkeit, gestiftet haben.

Loimeiers Sammelband vereinigt in sich verstreut schon Publiziertes mit eigens für diesen Anlass Erarbeitetem. Neue Stichworte der Achternbusch-Rezeption verdanken sich Bernd Reifenberg, der die französischen Stimmen zum Werk zusammengetragen hat, soweit sie die Inszenierungen der Bühnenstücke und die wenigen Prosa-Übersetzungen betreffen (die französische Germanistik nimmt Reifenberg aus). In Frankreich setzten die Inszenierungen eines kritischen, realitätsnahen „Theaters des Alltäglichen“ einen Kontrapunkt gegen einen „politisch abstinenten Ästhetizismus“. Achternbusch wurde „poetisch“ zu einem „Nachfahren der Romantiker“ erklärt, zu einem „Rohling mit sanftem Herzen“ (Michel-François Demet), dessen Ambiguität „verschärfte Traurigkeit“ (Claude Yersin) mit bitterer Lustigkeit mische. Als Dramatiker wurde er in Frankreich positiv aufgenommen, allenfalls wurde einzelnen Inszenierungen vorgehalten, dass sie zur „Normalisierung“ und damit Entschärfung des Dramentextes tendierten: Seine „Tragödie der Entmenschlichung“ müsse in ihrem ganzen Schrecken und Überdruss gezeigt werden: „Alles hier ist rau, spitz, greifbar. Dem Publikum verschlägt es den Atem.“ (Désiré Calderon)

Diese Atemlosigkeit mag mit der „Realpräsenz“ des Autors in seinen Figuren zusammenhängen, die besonders in seinen Filmen erfahrbar wird. Jacques Le Rider hat diesbezüglich von der „mythomanie autobiographique“ gesprochen, und Colette Godard, die bedeutendste Theaterkritikerin Frankreichs, stimmt mit Rider darin überein, wenn sie von einer „schamlosen autobiographischen Serie“ spricht, die „niemanden, vor allem nicht den Autor“, schone.

Seine Theorie des Skandalons entwickelt Claus-Michael Ort am ikonographischen Zeichen des Kreuzes. In Achternbuschs Theaterstück „Der Frosch“ (1981) wird es in die „verkehrte Richtung“ getragen – eine häretische Überhöhung des „Falschen“, an der nicht wenigen bayrisch-katholischen Kulturschaffenden gelegen zu sein scheint. Achternbuschs Film „Das Gespenst“ (1982) stand an der Wiege der „geistig-moralischen Wende“ der Regierung Kohl und forderte dessen und deren ersten Innenminister heraus. Dieser verweigerte Achternbusch die Auszahlung einer ausstehenden Rate der Filmförderung des Bundes, die bereits bewilligt war. Was war geschehen? Achternbusch hatte eine „Plastik des Gekreuzigten“ zum Leben erweckt und als Schlange vom Kruzifix erlöst. Diese Reanimation Christi in Gestalt seines „teuflischen Antagonisten“ ging filmisch auf ein anstößiges Odeur zurück, das der Schwester Oberin entfleucht war. Letztere verwandelte sich in einen Adler und trug die Jesus-Schlange im Schnabel davon. Beide wurden am Ende aus der Welt entlassen, als könne sich die christliche Auferstehungshoffnung doch noch erfüllen: zwar nicht am Kreuz und nicht in einer mit Gott „wesensgleichen“ Gestalt, aber doch als Teil der Schöpfung. Wesensgleich mit dem eingeborenen Herrn sind im Film drei – ebenfalls gekreuzigte – Frösche, die der Ober (der verwandelte Christus) befreit, indem er ihnen die Fesseln löst.

Der „Wirkung von Komik“ bei Achternbusch wendet sich die bereits erwähnte Gillian Pye zu, und nicht lustig ist es, wie sorglos sie zitiert: Da wird ein im Lexikon zitierter poetologischer Passus aus „Die Alexanderschlacht“ (1971) umstandslos als Bekenntnis des Autors gelesen, und ein Zitat Achternbuschs wird W. G. Sebald in den Mund gelegt. Völlig konfus das Ganze, wie auch Sebald selbst wenig Erhellendes zu „Achternbuschs theatralischer Sendung“ eingefallen ist. Weder durchschaut er die „Editionspolitik“ des Autors, noch kann er etwas mit der „Deponie“ (als der Backlist) des Suhrkamp Verlages anfangen, dem er polemisch „Profitgier“ unterstellt. Und die Äußerung Achternbuschs, er habe „mit dem Schreiben von Theaterstücken“ weiter nichts bezweckt, „als sich eine Altersversorgung zu schaffen“, scheint Sebald ernst genommen zu haben. Er hat nichts begriffen von Achternbusch.

Sorgfältiger gearbeitet sind dagegen die Überlegungen Marion Chénetier-Alevs zur „Mündlichkeit“ in den Stücken „Ella“ (1978), „Gust“ (1980) und „Susn“ (1980). So beobachtet sie beispielsweise, dass in der französischen Bühnenfassung des Zwei-Personen-Stücks „Ella“ (Regie Claude Yersin) alle diejenigen Inquitformeln fehlen, die zur Zerstörung der „Illusion einer vollkommenen Übereinstimmung“ von Mutter (Ella) und Sohn (Joseph) führen könnten: „Was man stattdessen festhalten kann, ist, dass der von Joseph vorgetragene Monolog eine Art Monstrum an Erzählung ist. Wie soll man einen Lebensbericht nennen, der – weil der eigentliche Erzähler nicht mehr in der Lage ist zu sprechen – von einer anderen Person in Ich-Form erzählt wird, die diesen nicht erlebt hat, und dessen Inhalt aus einer längst vergangenen Zeit stammt?“

Es ist wieder das Spiel des „Dazwischen“, das uns hier erneut begegnet und bei der Interpretation zu respektieren ist: „Mind the gap!“

Hans-Edwin Friedrich stellt Achternbusch in die Tradition einer Ästhetik des Hässlichen. In den achtziger Jahren habe Achternbusch begonnen, „sich intensiv mit der Judenvernichtung auseinanderzusetzen.“ Sie sei, quasi als das Hässliche schlechthin, in der Kunst zu beheimaten. Indem Friedrich die verstreut vorliegenden Bezugnahmen auf den Holocaust zusammenstellt, entsteht ein völlig neuer Kontext, „der die Sinnbezüge der Binnentexte ausweitet.“ Er folgt damit einer Werkpolitik Achternbuschs, die ganz ähnlich vorgeht, indem sie Einzeltexte (Erzählungen, Filmscripts, Theaterstücke und so weiter) zu Textsammlungen kollationiert. Diese „Ensembles“ werden vom Autor nicht selten dergestalt rekombiniert, dass sie eine neue „Textsukzession“ mit neuer Umgebung entstehen lassen, die neue Lesarten erzwingt. Solche Ensembles tendieren zum Rhizom: Die Texte „wurzeln“ quasi in bestimmten Themen, Motiven, Stoffen, Milieus und treiben immer neue Blüten. In der Konsequenz ändert sich mehrfach die Assemblage des Werkganzen, zumal einzelne Texttypen medial transformiert werden können (Erzählung wird Filmstoff, Filmstoff wird Theater und so weiter). Toposhaft bewegliche Versatzstücke „wandern“ zudem innerhalb dieser Werkstiftung ,in progress‘ und übernehmen andere Funktionen. Für jeden also, der sich mit Werkpolitik und Werktheorie beschäftigt, wäre hier manches Spannende zu beobachten, etwa auch, wie thematische Anker einem solchen Werk innere Konsistenz verleihen können: Einzelbeobachtungen, „Stellen“, werden so als ubiquitäres Prinzip erkennbar, der „schlimme“ Einfall wird zum peinigenden Stachel im Fleisch der genusssüchtigen Kulturindustrie und ihres biersatten Publikums.

Helmut Kreuzer erläutert uns die lange Phalanx der Filmschaffenden, die sich Achternbusch als Ahnenreihe selbst auserkoren hat. Während die literarischen Klassiker in bewährter Bohemien-Tradition abgewatscht werden (mit der Ausnahme Hölderlins, und der war kein Klassiker im engeren Sinne), werden Charlie Chaplin und die Marx Brothers, Jerry Lewis und Karl Valentin, Rainer Werner Faßbinder und Akira Kurosawa glorios illuminiert und apostrophiert. Die Zusammenstellung ergibt eine an Komik und Absurdität, filmischem Handwerk und Ressourcen, Knappheit und Improvisation orientierte Ahnenreihe: Hier spielt das Banale ins Groteske, das Groteske ins Vulgäre, das Sonderbare ins Anstößige, das Exotische ins Poetische.

Viele weitere Beiträge wären hier zu würdigen: Birgit Haas untersucht die „Persiflage auf das kritische Volkstheater“ bei Achternbusch; Ulrich Breuer untersucht die Anfänge des – hoppla – „autobiografischen Schreibens“ in „Hülle“ (1969); Thomas Elsaesser wendet sich den „Tarnformen der Trauer“ in „Das letzte Loch“ (1981) zu. Außerdem enthält der Band ein Premierenverzeichnis der Theateraufführungen sowie eine Bibliografie der Primär- und der Sekundärliteratur.

Ein Würdiger soll das Schlusswort haben, einer, der nicht für eine Kritik wirbt, die aus der Nähe kommt – Rainald Goetz über „Der letzte Schliff“ (1997): Dies sei „wirklich und in Wirklichkeit das totale und absolute und programmatische und foltermäßig konsequent durchgehaltene GEGENTEIL von irgendsowas Ähnlichem wie Schliff, Bearbeitung, Gestaltung – die reine Urform – Dokument der Qual.“ („Abfall für alle“)

Titelbild

Manfred Loimeier (Hg.): Sommernachtsträume. Essays zu Büchern, Filmen und Theaterstücken von Herbert Achternbusch.
Bibliothek der Provinz, Weitra 2018.
390 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783990287729

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