Antikoloniale Lektüren

Albert Londres’ Reisereportagen über die französischen Kolonien und den französischen Strafanstalten auf dem afrikanischen Kontinent

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man muss als Verleger auch Glück haben – dieses Buch kommt zum richtigen Zeitpunkt auf den deutschen Büchermarkt, nicht weil es auf eine deutsche Kolonial-Vergangenheit aufmerksam machen würde oder mit dem Finger auf die Verfehlungen der französischen Nachbarn in Afrika zeigte, sondern weil es ein Spezifikum des Umgangs mit den Kolonien aufweist: Der antikoloniale Blick ist keineswegs von der Idee der Menschenrechte geleitet, sondern von der Verwunderung darüber, dass der Kolonialismus so verschwenderisch und ineffizient mit seinen, eben auch menschlichen Ressourcen umgeht. Das alles – was heißt: die Ausbeutung der Kolonien – wäre doch viel besser und profitabler zu organisieren, wenn man‘s richtig machte. Was zwar aus den Kolonisierten keine Menschen gleichen Rechts macht, aber – als immerhin zu konstatierende Volte – zum Niedergang des Kolonialismus beiträgt. Wer einmal hinschaut, sieht nämlich nicht nur die Verschleuderung von Ressourcen, sondern auch die gleichermaßen systematische wie gedankenlose Ausbeutung der Ressource Mensch, was eben auch seine Klassifizierung als ausbeutbare Ressource miteinbezieht. Was sind da unveräußerliche Menschenrechte?

Albert Londres, 1884 geboren, bereits 1932 verstorben, war der wohl wichtigste französische Reporter des frühen 20. Jahrhunderts, immer unterwegs, immer mit der spitzen Feder (was hier einmal unterstellt wird) auf die Probleme, Ungerechtigkeiten und Unrechtsverhältnisse weisend, denen er auf seinen zahlreichen Reisen begegnete, immerhin also auf das, was war. Dabei verließ sich Londres vor allem darauf, was er sah und hörte, was er dann in einer Art und Weise niederschrieb, dass sich daraus jeder seine eigenen Schlüsse ziehen konnte. Was eben auch heißt: Das, was Londres aufschrieb, ist ohne Zweifel beeinflusst von der Haltung, der Position und dem Vor-Wissen (um nicht zu sagen: Vorurteil) des Berichterstatters. Aber Londres verfiel eben nicht in den Kurzschluss, das Urteil vor die Anamnese zu stellen, den Blick vor dem zu verschließen, was seinen Erwartungen nicht entsprach. Er ließ sich, und das macht seine Qualität aus, von dem überraschen, was sich ihm, und vor allem, wie es sich ihm präsentierte. Ein Widerspruch, der sich nicht lösen lässt, sondern nur auszuhalten ist.

Die andere Bibliothek hat 2013 bereits einen Band mit Reportagen Londres‘ aufgelegt, in denen sich unerhörte Texte von seiner China-Reise, von seiner Reise zu den Juden Osteuropas und zu den Perlenfischern fanden. Nun folgen zwei Afrika-Berichte, die es in sich haben.

Denn Londres bereiste die französische Kolonie Kongo nicht irgendwann in den Hochzeiten des Kolonialismus, sondern in den späten 1920er Jahren. Dennoch finden sich bei ihm ähnliche Muster wie in dem berühmten Kolonialroman jenes Niederländers, der sich selbst Multatuli nannte. Der Roman: Max Havelaar. Eduard Douwes Dekker (1820–1887), wie der Autor mit Klarnamen hieß, hatte in seinem 1860 erschienenen Roman bereits die desaströse Kolonialpolitik der Niederlande attackiert, dabei aber die inhumane Behandlung der autochthonen Bevölkerung nicht mit den allgemeinen Menschenrechten kritisiert, sondern mit der skandalösen Verschleuderung von Ressourcen, die die enormen Profite, die mit den Kolonien zu machen wären, unnötig schmälerte.

Ähnliches vermerkt auch Albert Londres in seinem Bericht, denn, wie Irene Albers und Wolfgang Struck in ihrem Nachwort betonen, Londres war im Grundsatz keineswegs gegen den Kolonialismus eingestellt, wies aber genüsslich auf die katastrophale französische Verwaltung im Kongo hin: Missmanagement, Korruption, Nachlässigkeit, strukturelle und offene Gewalt, basale Ausbeutung. Dass der vorgebliche zivilisatorische Auftrag, mit dem der französische Staat sein Engagement im Kongo verkaufte, kaum mehr Camouflage zu nennen war, wird bereits mit den ersten Reportagen erkennbar, die Londres im Oktober und November in der Tageszeitung „Le Petit Parisien“ veröffentlichte. Allein der Unterschied zwischen „Untertan“ (Sujet) und „Bürger“ (Citoyen) macht deutlich, dass die Kolonisierten eben keine gleichberechtigten französischen Staatsbürger waren, sondern Bürger zweiter Klasse. Und deren Leben galt eben nicht viel: Die rekrutierten Arbeiter, mit denen die Kongo-Ozean-Bahn, Straßen gebaut oder Edelhölzer geerntet werden sollten, wurden geschlagen, beschimpft, vernachlässigt und dem Tod überlassen.

Londres verweist immer wieder auf das Muster der benachbarten belgischen Kolonie, deren vorbildliche Verwaltung er bewundernd lobte. Dass sie nicht minder menschenverachtend war und dass deren Fokus auf der Ausbeutung der Kolonie lag, bleibt dabei unberücksichtigt – zumal die Rücksichtslosigkeit des belgischen Regimes in Afrika, das bis Anfang des Jahrhunderts sogar als Privateigentum des belgischen Königs Leopold II. betrieben wurde, berüchtigt ist.

Aber der Punkt, auf den es Londres ankommt, ist, dass es die Franzosen verabsäumt hätten, sich um eine effiziente Ausbeutung der Kolonie zu bemühen, was in etwa bedeutet, dass es das bessere Geschäft wäre, die Ortsansässigen nicht wie den letzten Dreck, sondern anständig zu behandeln. In der kapitalistischen Logik heißt das, sie für ihre Arbeit zu bezahlen und ihnen ansonsten gleiche Rechte zuzusprechen, als sie zu entrechten und umzubringen, sie effizient einzusetzen, als sie wegen sinnloser Aufträge wochenlang durchs Land wandern zu lassen oder sie, statt Maschinen, zum Ernten, Verarbeiten und zum Transport von Gütern und Lasten zu verwenden. „Bananenmotor“ nennen die Kolonialverwalter dieses System.

Dass die Kolonisierten in Londres‘ Bericht nicht zwingend besser dastehen, versteht sich aus dem System heraus: Von einer über Jahrhunderte ausgebeuteten, entrechteten und vernachlässigten Gesellschaft kann man kaum erwarten, dass sie auch nur ein Mindestmaß an akzeptablen Strukturen aufweist. Die schwarzen Monarchen treten mithin auf wie misslungene Imitationen europäischer Herrscher, die einheimischen Kapos schwingen sich zu unbarmherzigen Kopien ihrer Herren auf. Das gesamte Kolonialsystem wirkt – spätestens aus heutiger Sicht – wie eine absurde Variante des europäischen Herrschaftssystems, nur dass die Rollen hier anders verteilt werden, und der Umstand, ein weißer Franzose zu sein, ein unerhörtes Privileg ist.

Londres‘ Bericht erscheint nicht zum ersten Mal auf Deutsch, und die neue Ausgabe greift auf die Übersetzung von Yvan Goll aus dem Jahr 1929 zurück, die im selben Jahr wie die französische Vorlage unter dem Titel Schwarz und Weiß erschienen ist. Lediglich der Epilog, der in der deutschen Ausgabe 1929 fehlte, ist neu übersetzt worden. Allerdings wurde die Übersetzung Golls, wie in den editorischen Hinweisen zu lesen ist, überarbeitet und dabei unter anderem an die neue Rechtschreibung angepasst, was einer Übersetzung nicht schadet. Allerdings wurde der Text auch terminologisch geändert, vor allem, was die seinerzeit allgemein übliche Verwendung des Wortes „Neger“ betrifft, der auch Goll weitgehend folgte. Ein Blick in die alte Fassung der Übersetzung zeigt zwar, dass Goll in seinen Bezeichnungen variiert, gelegentlich „Schwarzer“ verwendet, aber eben doch häufiger das N-Wort, ohne dass auf den ersten Blick Bedeutungsdifferenzen erkennbar werden. Im durchgesehenen Text wird, heutigem Sprachgebrauch näher, durchgängig „Schwarzer“ eingesetzt, in anderen Varianten auch etwa „afrikanisches Land“ für „Negerland“. Dem ist wohl kaum zu widersprechen, da Goll selbst bereits in einer begrifflichen Umbruchsituation lebte.

Allerdings bezieht sich das Nachwort von Irene Albers und Wolfgang Struck auf den Sprachstand der 1920er Jahre, der ja immer wieder zu Diskussionen führt. Dabei weisen sie darauf hin, dass der Begriff „Neger“ eben keineswegs eine historisch unbedenkliche Bezeichnung gewesen sei, der einen Menschen schwarzer Hautfarbe oder afrikanischer Herkunft bezeichnet habe, sondern kolonial und rassistisch grundiert gewesen sei. Dafür führen sie einen Roman der Frau Yvan Golls, Claire Goll, über die Verbindung eines Schwarzen mit einer Weißen an, in dem das Wort in dem Moment ein herabwürdigendes Moment erhält, in dem die weiße Frau es im Streit gegenüber dem schwarzen Mann fallen lässt. Allerdings fällt der Begriff im Roman Der Neger Jupiter erobert Europa, 1926 auf Deutsch im Rheinverlag und bei Ullstein erschienen (1987 gab es eine Neuausgabe bei Argon in Berlin, dtv zog 1996 nach) nicht bei einem ersten Streit, dem dann der Niedergang der Beziehung zwischen Jupiter Djilbuti und Alma Valery folgt, sondern ist – an einem relativ späten Punkt der gemeinsamen Geschichte – Ausdruck der sich stetig verstärkenden Konflikte des Paares, in die das Skandalon der schwarz-weißen Beziehung von Anfang an eingewoben ist. Djilbuti wird von Anfang an – eben auch von der jungen Alma Valery – als „Neger“ bezeichnet, oder eben gelegentlich als „Schwarzer“. Weiße Amerikaner, denen das Paar begegnet, tuscheln sogar das offen despektierliche „Nigger“, was in der Erzählung ausdrücklich geschildert wird. Die Bezeichnung, genauer aber der Status des Jupiter Djilbuti in der weißen Gesellschaft ist mithin von Anfang an als prekär gekennzeichnet. Die Konflikte, Reaktionen, Konfrontationen, Differenzen und Vorurteile, die sich an der Hautfarbe und an kulturellen Differenzen festmachen, sind ja gerade Thema des Romans, der damit weniger die Verwendung des Begriffes zu suspendieren sucht, sondern die tief sitzenden und weit reichenden kulturellen Muster und Vorurteile auf- und angreift.

Das bedeutet schließlich, dass zwar die Redaktion des Textes Albert Londres‘ sinnvoll und geboten war, weil damit ein (vielleicht ungewollt) antikolonialer Text in einer lesbaren Form vorgelegt werden kann. Für den Roman Claire Golls jedoch wäre eine solche Redaktion kontraproduktiv, was die Diskussion auf die immer weiter um sich greifende Debatte über die Redaktion von Texten aus dem 20. Jahrhundert lenkt, in denen diese Bezeichnung verwendet wurde. Ob und in welcher Weise er ersetzt werden kann, ist eben nicht unabhängig von der Entstehungszeit, vom Einsatz des Begriffs oder vom Kontext zu entscheiden. Und seine Verwendung ist keineswegs immer ein Indiz für eine Infizierung des Textes durch eine koloniale Haltung, so verdeckt sie auch sein mag.

Womit dann genau das geschehen ist, was anscheinend auch den Nachwortverfassern zu Londres‘ Afrika-Reportage passiert ist: Sie vernachlässigen sträflich die zweite Reportage Hätte Dante das gesehen, in denen Londres die Verfahren der französischen Gefangenenlager in Nordafrika schilderte. Die Reportage erschien bereits 1924 im selben Blatt wie die französische Vorlage der Kongo-Reportage. Eine deutsche Übersetzung gab es bislang nicht, wenngleich die Zustände in den Lagern einigermaßen bekannt sind. Die Lektüre der Reportage Londres‘ allerdings überbietet alles, was einem vielleicht noch aus Henri Charrières Roman Papillon (1969) und dem darauf basierenden Film, die allerdings die Verhältnisse im Gefangenenlager in Französisch-Guayana schildern, im Gedächtnis geblieben ist: absurde Haftstrafen, Erniedrigungen, grundlose und endlose Gewalt, unangemessene Strafen und Haftverlängerungen, Selbstverstümmelungen, sadistische Gefängnisaufseher, ein System, das Gewalt ausübt und züchtet. Biribi, wie der Text im französischen Original heißt, beschreibt das Gegenstück zum kolonialen Frankreich, ein Frankreich, das seine Unterwelt immer weiter ins Nichts verstößt und zum Verschwinden bringen versucht, und sich dabei immer weiter in ein Unrechtsystem verwandelt, in dem auch die bürgerliche Welt nicht unberührt bleibt. Eine Gesellschaft, die sich ein solches Strafsystem leistet, kann sich nicht zivilisiert nennen. Das sollten wir uns auch für andere Gelegenheiten merken.

Titelbild

Albert Londres: Afrika, in Ketten. Reportagen aus den Kolonien.
AB - Die andere Bibliothek, Berlin 2020.
369 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783847704249

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