Die Sprache lügt

In Édouard Louis’ „Im Herzen der Gewalt“ finden Form und Inhalt nicht zueinander

Von Maximilian HuschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Huschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von vornherein ist klar, was das Thema des neuen Romans von Édouard Louis ist: der Bericht blanker Gewalt. Der im Original – an Michel Foucault erinnernd – Histoire de la violence betitelte Roman berichtet von einer Weihnachtsnacht, in der der Ich-Erzähler Édouard auf dem Heimweg auf der Place de la République von einem Mann, der sich als Reda vorstellt, angesprochen wird und den er nach einem kurzem Gespräch mit in seine Wohnung nimmt. Dort haben sie mehrfach einvernehmlich Geschlechtsverkehr.

In den Pausen zwischen dem Sex erzählt Reda Édouard, er sei Kabyle, wie sein Vater nach Frankreich gelangte und mit welchen Schwierigkeiten er zu kämpfen hatte. Später wird Édouard versuchen, auf der Grundlage dieser Aussagen ein Psychogramm Redas zu erstellen, um sich selbst das Vorgefallene zu erklären. Die Nacht eskaliert, als Reda mit Édouards Telefon und iPad in der Tasche gehen will. Am Ende wird Édouard mit einem Schal gewürgt, bestohlen und vergewaltigt worden sein.

Beließe Louis es dabei, käme Im Herzen der Gewalt einem Groschenroman mit etwas Homoerotik gleich. Interessant wird der Roman erst durch seine Form. Édouard ist offenbar außerstande das Vorgefallene selbst zu erzählen, zumindest nicht nach dem Abklingen eines anfänglichen Dranges, jedem, dem er begegnet, seine gesamte Geschichte zu erzählen. Stattdessen werden große Teile der Handlung durch die Berichte anderer Personen vermittelt. Besonders Édouards Schwester, die er besucht, spielt hier eine entscheidende Rolle. Sie erzählt ihrem Mann von Édouards Erlebnissen auf ihre eigene Weise, während Édouard selbst sie belauscht und ihren Bericht seinerseits berichtet. Seine Schwester kommentiert beispielsweise Édouards mittlerweile akademisch-intellektuelle Artikulation als „Feine-Leute-Gerede“ oder stellt sich ihren Bruder auf dem Heimweg vom gemeinsamen Weihnachtsfest mit Freunden vor, wie er sich mit den Büchern unter dem Arm, die er geschenkt bekommen hat, immer wieder sagt: „Was für einen Weg ich geschafft habe.“ Gleichermaßen verkommt Reda in ihrer Geschichte immer wieder zum Feindbild „Araber“.

Etwas Ähnliches ist bei den Polizeibeamten zu beobachten, die die Anzeige Édouards aufnehmen. Nach seiner Schilderung von Redas Aussehen steht für sie fest: „maghrebinischer Typus“, womit die gesamte Tat erklärt scheint. Édouard hat nach seinen Berichten und wenn er seiner Schwester zuhört, immer wieder das Gefühl, seine eigene Geschichte werde ihm entwendet, nicht bloß, weil seine Erlebnisse unter stumpfe Kategorien subsumiert werden, sondern weil sie mit äußerem Material gefüllt werden – Rassismus, Ressentiments, Vorurteilen oder Aversionen. Gleichzeitig wird die Nacht immer von ihrem Ende her erzählt, für alle steht fest, dass es so enden musste. Reda habe von Anfang an geplant, Édouard auszurauben oder sogar umzubringen. Allein durch diese Teleologie, die sich seinem Bericht nachträglich einschreibt, wird die Nacht für Édouard zu etwas Fremdem.

Für den Roman ist diese Diskrepanz zwischen Gewesenem und Erzählung zentral. Durch sie kann der Autor Édouard Louis gleichzeitig vorderhand seine eigenen Erlebnisse erzählen – im vergangenen Jahr gab es eine Anklage samt Gerichtsprozess gegen „Reda“ – und soziale Probleme und Auseinandersetzungen sichtbar machen, wie den Rassismus des Polizeijargons oder den großer Teile der ländlichen Bevölkerung. Doch anders als in seinem ersten Roman Das Ende von Eddy, in dem er die Zustände des ländlichen Frankreichs anhand seiner Biographie direkt anprangerte, schildert er sie in Im Herzen der Gewalt vermittelt durch andere Erzähler und ist so nicht gezwungen, irgendjemanden vorzuverurteilen.

Die Verurteilung fällt generell schwer. Édouard selbst berichtet beispielsweise, wie er durch das Vorgefallene zum Rassisten wird und in jedem dunkelhäutigen Mann eine Bedrohung sieht. Gleichermaßen mildert seine Schwester den Diebstahl Redas ab, indem sie erzählt, wie Édouard selbst als Jugendlicher mit „seiner Bande“ ein Mädchen bestohlen hat. Des Weiteren versucht Édouard, sich das Leben und die Gründe Redas für die Tat mit Vergleichen zu ihm bekannten Personen zu erklären. Der Leiter des Asylantenheims von Redas Vater scheint ihm einer einsamen und stets gehassten Frau ähnlich, die er in seiner Jugend kannte. Reda selbst erinnert ihn an seinen Cousin, der in der Schule aus dem Fenster sprang, um seinen Mut zu beweisen. Édouard versucht so, die erlittene Gewalt durch den Vergleich mit ihm bekannten Personen oder Erlebnissen zu rechtfertigen. Auch er selbst füllt seine eigene Geschichte mit äußerem Material, um sie sich plausibel zu machen. Am Ende steht die Einsicht: „die Sprache lügt.“ Sie ist nicht fähig, Tatsächliches abzubilden, sondern verformt es. Diese Deformationen durch die Erzählung anderer Personen werden im Roman von Édouard durch kurze Kommentare oder eigenes Schildern als solche desavouiert – was ihnen die Prägnanz nimmt, da es am Ende doch Édouard ist, der erzählt, auch wenn er anderen scheinbar den Vortritt lässt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass er am Ende des Romans zu einer eigenen Sprache zurückfindet und in den letzten Kapiteln wieder selbst erzählt. Der Roman hat offensichtlich als Therapie gewirkt. Zumindest für ihn.

Durch die mehrschichtige Erzählstruktur gewinnt der Roman an Komplexität und erlaubt es Louis, geistreiche Anmerkungen überall dort einzustreuen, wo es gerade passt. So erscheint das eine Mal Lärm oder Gewalt als Substanz, die sich nur durch die Menschen verwirklicht und an sich unabhängig ist. Das andere Mal heißt es, die Menschen ergeben sich völlig in ihre Umstände, was bedeutet, man müsse bloß die Umstände ändern, um jene zu verbessern. Oder: während die Stille ist, sind die Menschen nur Instrumente, sie hervorzubringen. Doch was geistreich scheint, erweist sich als gedankenarm. Keine Einheit, die sich aus den Assoziationen des Autors ergäbe, oder bloß ein Zusammenhang lässt sich ausmachen, durch den sich die Form vor dem Inhalt rechtfertigte. Was an Inhalt defizitär ist, lässt sich auch durch die Form nicht wettmachen. Die Verschachtelung ist unterhaltsam, aber ergibt sich nicht aus dem Erzählten und wirkt deshalb schlicht künstlich. Außer etwas Amüsement stellt sich kein Mehrwert ein. Gerade die Kommentare Édouards, die zwischen Hilflosigkeit und wilder Aggression oszillieren, zerschlagen das mühsam aufgebaute fragile Gestell der unterschiedlich verwobenen Erzählungen, indem schlussendlich doch das „Feine-Leute-Gerede“ nicht umhinkann, das letzte Wort für sich zu beanspruchen.

Außer der Erzählung einer ungewöhnlichen Begebenheit voller Gewalt und der Aufdeckung anderer Arten der Gewalt wie Rassismus oder Ressentiments durch die verschachtelte Erzählweise hat der Roman nichts zu bieten. Es werde zu wenig über die Gewalt in der Gesellschaft geschrieben, meinte Louis kürzlich in einem Interview mit der Taz. Dass Schreiben darüber allein noch keinen guten Roman ausmacht, hätte ihm aber ebenso klar sein müssen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Édouard Louis: Im Herzen der Gewalt. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Hinrich Schmidth-Henkel.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
219 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783103972429

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