Ende und Rehabilitation der Natur

Ludwig Fischer ermöglicht ein facettenreiches Bild des Nature Writings und skizziert literarische Auswege aus der Entfremdung von Mensch und Natur

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei realistischer Betrachtung unseres derzeitigen Verhältnisses zur Natur müsste man – viele würden fragen: Jetzt erst? – von einem endgültigen und nicht mehr zu heilenden Bruch sprechen. Spätestens mit der umfassend kapitalistischen Aneignung sämtlicher Lebensräume als Gewaltakt einer fortgeführten technisch-instrumentellen Vernunft liegen die letzten Versuche einer Rehabilitierung der echten Beziehung von Mensch und Umwelt brach. Und so wirkt das Damoklesschwert des Klimawandels als beherrschendes politisches Thema dieser Tage weitaus überzeugender in seinem Bedrohungspotenzial (Insektensterben, extreme Wetterbedingungen, Abschmelzen der Gletscher) als die rhetorischen Forme(l)n der „Rettung der Erde“ beziehungsweise der „Versöhnung von Ökonomie und Ökologie“. Konsequent wäre dementsprechend eher die melancholische Rhetorik einer gänzlich ent-naturalisierten Welt im Zeitalter des Anthropozäns, der unumschränkten Weltaneignung des homo oeconomicus, der immer noch an seine Zentrumsposition im Kosmos glaubt.

In diese „brachen Stätten“ – um einen zentralen Begriff des Autors Reinhard Jirgl aufzurufen – ragt nun ein in dieser Bezeichnung fast widersprüchliches, nachdenkliches Manifest, eine reflektierte programmatische Betrachtung hinein, Ludwig Fischers ungemein profunder Text Natur im Sinn. Er arbeitet zunächst die seit jeher bestehenden Paradoxien des Mensch-Natur-Verhältnisses, die unversöhnliche Dialektik von Überwältigung und Sehnsucht heraus: Unfähig, die Natur als ganzheitliches Ökosystem zu begreifen, in dem sämtliche Teile auf komplexe Art und Weise miteinander zusammenhängen, steht seiner herrschenden Aneignung der Umwelt immer die Sehnsucht eines Dialogs, einer Verbindung und pathetischen Inszenierung von Natur entgegen. Dieses Lavieren zwischen den Extremen verdeutlicht letztlich auch das Scheitern des Menschen an seiner natürlichen Umgebung – selbst der eigene Garten ist als „geliehenes Paradies“ dem menschlichen Wirken ausgesetzt; wirkliche Unberührbarkeit und Unzugänglichkeit von Natur wird unmöglich.

Weit weg von einer rein zivilisationskritischen Auseinandersetzung ringt Fischer jedoch um die Möglichkeiten einer Literatur, die sich bewusst mit den aufgeworfenen Ambivalenzen auseinandersetzt und als Form Ausgangspunkt einer (möglichen) Resonanzbeziehung von Mensch und Natur wird. Während die deutschsprachige Literaturtradition der Beschäftigung mit Natur leider überaus dominiert ist von der ideologischen Last einer Sehnsucht nach (völkischer) Ursprünglichkeit und entsprechende Reflexionen stark konservative bis reaktionäre Haltungen spiegel(te)n, spricht Fischer der anglistischen Linie des Nature Writings starken Vorbildcharakter zu: Thesenhaft entwickelt er ein Verständnis, das Naturwahrnehmung und Literatur deswegen verknüpft, weil beide gewissermaßen auf eine Sinneserfahrung, eine (ästhetische) Wahrnehmung zielen. Als „Selbstbeobachtung und Selbstprüfung“ ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Umwelt – wie er literarisch an (zuweilen auch eigenen) Beispielen illustriert – immer auch autobiografisch und kulturell reflexiv zugleich kodiert; Arbeit an der Natur impliziert so Arbeit am eigenen Selbst. Nature Writing ist somit auch weniger gleichzusetzen mit kitschig-gefühligen Beschreibungen, sondern beschreibt die komplexe Aufgabe, sich in kritischer Form an den krisenhaften Gegebenheiten des (zerrütteten) Mensch-Natur-Verhältnisses abzuarbeiten und über den Möglichkeits- und Simulationsraum des Literarischen neue Fragen und Perspektiven zu entwickeln.

Vielleicht sind diese Überlegungen im Stadium der Erinnerung an die Vergangenheit von Natur für viele anachronistisch und deswegen hinfällig, doch rührt das Vielversprechende der feingliedrigen Auseinandersetzung Fischers nicht daher, die abgeschaffte Natur zurückzubringen, sondern in ein Reflexionsverhältnis einzutreten und festgefügte Wahrnehmungen, Denkweisen und Aporien aufzubrechen. Literarische Reflexion als Naturreflexion reaktiviert und rehabilitiert dann etwas, was sich durch die gewalttätige Negation von Natur bereits aus der Alltagspraxis des Menschen verabschiedet hat und sprachlos geworden ist. Ludwig Fischer entwickelt auf diese Weise die programmatischen Fundamente einer literarischen Naturreflexion, in der Sprechweisen der Natur im Medium des Textes zurückgewonnen und vor allem neu erfahren werden – kein „Zurück zur Natur“, sondern ein Zukunftsplädoyer. Abgerundet wird dies als haptisches Ereignis eines sorgsam komponierten Text-Bild-Werkes, das zur Bereicherung der Leserwahrnehmung beiträgt und – wieder einmal – die Exklusivität und Klasse der Naturkunden-Reihe des Berliner Matthes & Seitz Verlags unter Beweis stellt.

Titelbild

Ludwig Fischer: Natur im Sinn. Naturwahrnehmung und Literatur.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019.
352 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783957577030

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