Wahrheit ohne Wirklichkeit

Die Bilder Claude Lorrains

Von Stefanie LeibetsederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Leibetseder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Autor des schmalen und doch gewichtigen Bändchens ist ein ausgewiesener Fachmann auf dem Gebiet der Kunstphilosophie und -ästhetik. In der vorliegenden flüssig und anschaulich geschriebenen Publikation widmet Karlheinz Lüdeking sich den Landschaftsgemälden des französischen Malers Claude Lorrain. Diese gelten dem breiten Publikum als Inbegriff der unbestimmten und stimmungsvollen Sehnsucht nach Arkadien, wie das von Lüdeking mehrfach angeführte Goethe-Zitat „Die Bilder haben die höchste Wahrheit, aber keine Spur von Wirklichkeit“ (S. 80.) belegt. Lüdekings Anliegen ist es anhand von ausgewählten Studienblättern und ausgeführten Gemälden des Künstlers und verwandter Werke zu zeigen, dass hinter diesem Eindruck höchst anspruchsvolle Bildkompositionen stehen.

Hierbei setzt er mit Claude Lorrains Naturstudium in der römischen Campagna ein, das diesen dazu führte, die seinerzeit gängigen Regeln der zentralperspektivischen Konstruktion zugunsten der Naturtreue ad acta zu legen. Allerdings verwendete Lorrain wohl ein sternförmiges Raster als Hilfskonstruktion für seine Naturstudien. Hierbei fällt seine Neigung zur Reduzierung der Dreidimensionalität des Raumes und Volumenreduktion auf. Aus diesem Grund zerlegt Claude Lorrain den Bildraum in eine Abfolge von hintereinander stehenden Scheiben, die durch das Kolorit der Gemälde wieder miteinander verbunden werden. Die rahmenden Bäume auf Claude Lorrains Landschaften interpretiert Lüdeking als Kommentar zum abgebildeten Geschehen. Anhand eines Vergleichs ausgeführter Gemälde mit Claude Lorrains Zeichnungen in seinem liber veritas vermag Lüdeking am Verhältnis zwischen Bildraum und Fläche nachzuweisen, dass dieser seine Gemälde regelrecht mit planimetrischen Konstruktionen vergitterte.

In seinen Gemälden, auf denen oft dieselben Bildgegenstände in unterschiedlicher Zusammensetzung vereint sind, schenkte Claude Lorrain der Darstellung der Sonne besondere Beachtung, jedoch nicht als Ausdruck der Transzendenz sondern ganz profan als Lichtquelle, und zwar besonders im Moment ihres dramatischen Unterganges und Aufganges aus der Tiefe, was die im Gegenlicht erscheinenden Objekte seiner Werke besonders spannungsvoll und gleichzeitig unrealistisch wirken lässt. Außerdem beachtet Claude Lorrain in seinen Gemälden, wie das Licht, seine Richtung, und vor allem die Luft (sowie die in ihr enthaltenen Staubpartikel) die Oberfläche der Dinge verändern und diese auch von innen heraus erleuchten.

Dies belegt Lüdeking eindrucksvoll anhand eines Vergleiches mit einem rund 150 Jahre später entstandenen Gemälde des englischen Malers William Turner. Aber auch die nicht nur segensreiche, sondern die durch ihre Hitze auch zerstörerische Wirkung der Sonne wird anhand eines Gemäldes von Turner thematisiert, während sie bei Claude Lorrain dagegen stets wärmend am Himmel steht. 

Ob die mit Hilfe der hier beschriebenen künstlerischen Mittel betriebene Verklärung der Wirklichkeit in Claude Lorrains Gemälden tatsächlich auf biografischen Verlusterfahrungen des Künstlers beruht, wie Lüdeking meint, muss dagegen offen bleiben, auch wenn die vielfältigen Vertreibungs- und Verstoßungsszenen sowie Hafenabfahrten in seinen Werken solches nahelegen. Ebenso steht es mit der so oft beschworenen Wahrhaftigkeit in Claude Lorrains Gemälden; diese gleicht einer Täuschung, die jedoch gleichzeitig ein nachhaltiges Begehren beim Betrachter hervorruft. Letzteres wird jedoch bei näherer Betrachtung der Gemälde nicht erfüllt, weswegen man von Claude Lorrain durchaus auch als einem Maler der transzendentalen Obdachlosigkeit (Georg Lukács) sprechen kann.

Lüdeking ist eine tiefgehende Erörterung der Kunst Claude Lorrains gelungen, der man den Respekt nicht versagen kann.

Titelbild

Karlheinz Lüdeking: Versuchung und Versagung in den Landschaften von Claude Lorrain.
Carl Friedrich von Siemens Stiftung, München 2020.
105 Seiten , 00,00 EUR.
ISBN-13: 9783938593332

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