Farce, Opportunismus, Gewalt, Vernichtung

Emilio Lussus Bericht über die Machtergreifung des Faschismus in Italien aus dem Jahr 1932 ist in einer Neuauflage erschienen

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Marx notiert im Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte, Hegel habe bemerkt, „alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen“ ereigneten sich „sozusagen zweimal“, habe aber „vergessen, hinzuzufügen, das eine mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“ (Tragödie: Französische Revolution; Farce: 1848er Revolution in Frankreich). Was Marx nicht wissen konnte, weil ihm das 20. Jahrhundert fehlt: Die Wiederholungen in der Geschichte tendieren inzwischen nur noch zur Farce, aber von einer Gewalttätigkeit, die sich das 19. Jahrhundert nicht hätte träumen lassen. Oder, um es mit dem galligen Diktum des (dem Nationalsozialismus zumindest anfänglich nicht abholden) Gottfried Benn zu sagen, das „Ganze“ – gemeint war der Nationalsozialismus so um 1933/34 – komme ihm „allmählich vor wie eine Schmiere, die fortwährend ‚Faust‘ ankündigt, aber die Besetzung reicht nur für ‚Husarenfieber‘.“ Wobei nun Benn vergaß: Das ganze Stück war schon von Anfang an Mist (und auf Vernichtung angelegt) und die Besetzung eh schon.

Beide Aspekte, die Farce, das Absurde, wie auch die hemmungslose Gewalt als Markenkern faschistischer Regime, macht Emilio Lussu in seinem 1932 erstmals erschienenen Bericht über den frühen italienischen Faschismus deutlich. Lussu wurde 1890 auf Sardinien geboren und war Jurist von Ausbildung. Den Ersten Weltkrieg, zu dem er sich freiwillig meldete, beendete er als „hochdekorierter Offizier“. Nachdem er 1919 die Sardische Aktionspartei, eine „linksbürgerlich-föderalistische, republikanisch“ orientierte Regionalpartei (so Claus Gatterer im Nachwort) mitbegründet hatte, wurde er 1921 Parlamentsabgeordneter in Rom, so dass er hautnah Aufstieg und Sieg des italienischen Faschismus erlebte. Als Angehöriger der Kriegs- und Frontgeneration war er mit vielen bekannt, ja befreundet, die er später ins Lager der Faschisten wechseln sah.

Wie erwähnt, erschien Lussus Bericht 1932, also nah an den Ereignissen. Sein Buch will keine Geschichte des Faschismus sein, er wolle „die politischen Ereignisse [s]eines Landes so festhalten, wie [er] sie in den letzten Jahren erlebt habe“, der Faschismus, den er beschreibe, „ist der Faschismus, den [er] entstehen, sich entwickeln und sich behaupten sah“, nur eine spätere Zeit werde „eine objektivere Kritik ermöglichen“.

Was Lussu sieht, sind Großsprecher, Verpisser, Entwurzelte, Operndiven, wechselseitige Verständnislosigkeit, kaum zu lösende Konfliktpotentiale (vergleichbar der Nachkriegsanomie in Deutschland) und verwirrte Parteien, für die er nur Sarkasmus übrig hat. So schienen die Arbeiter in den Städten nach dem Krieg „zu meinen, die Frontsoldaten hätten vier Jahre lang vergnügte Feste gefeiert. Diese Haltung trug später wesentlich dazu bei, dass sich die Arbeiterbewegung die Sympathien der Heimkehrer und des Heeres verscherzte“.

Entwurzelt waren die im Krieg als ‚Arditi’ dienenden Soldaten, junge Männer, die in Spezialtruppen für Sonderaktionen agierten. Sie fanden nicht mehr in die „zivile Normalität“ zurück: „Arbeit und Frieden behagten ihnen nicht“, im Krieg hatten sie Kompanien befehligt, jetzt sollten sie plötzlich wieder kleine Studenten sein.

Die Sozialistische Partei, so Lussu, zerfiel nach dem Krieg in drei Flügel, der eine „predigte die sofortige gewaltsame Revolution, ein anderer erwartete das Heil von graduellen Reformen im Rahmen der Legalität, und ein dritter Flügel wusste überhaupt nicht, was er wollte. Dieser aber war der stärkste, lauteste und unruhigste“.

Das Fiume-Abenteuer des Dichters Gabriele DʼAnnunzio ist wirklich blutige Farce, Unterabteilung Operette. Husarenfieber, nicht Faust. Lussu: „Gabriele DʼAnnunzio, Dichter und Held, erhob sich mit Leier und dem Schwert gegen die“ Pariser Waffenstillstandsbeschlüsse. Auch D` Annunzio war vom Krieg geprägt, doch „war sein Fall ernster, denn er hatte sich an gewisse Ansprüche gewöhnt und konnte ohne prunkvollen Hofstaat nicht leben“. Am 12. September 1919 besetzt DʼAnnunzio mit Freischärlern Fiume und herrscht dort

als moderner Kondottiere; er sprach viermal täglich zu seinem Volk, organisierte Streifzüge zu Lande und Piratenakte zu See. Er gab Fiume eine eigene korporative Verfassung. Er schloss geheimnisvolle Pakte mit Balkanmächten, mit Japan und sogar mit sowjetrussischen Stellen ab. Er sandte Italien, Europa und der Welt lange Botschaften, die bald in Prosa, bald in Versen abgefasst waren. Zuweilen drohte er auch mit einem Marsch auf Rom.

Doch den wird dann ein anderer veranstalten – falls es diesen Marsch so überhaupt gab. Der frühere Sozialist Benito Mussolini verspricht allen alles und bietet Industriellen und Großagrariern seine Schlägertrupps, die ‚fasci’ an. Er ist ein Verpisser (Leute-seid-nicht-feige-lasst-mich-hintern-Baum). Stets blieb der spätere Duce in ausreichend Abstand: „Mussolini verließ nie den Kommandoposten; nie nahm er an gefährlichen Unternehmen teil.“

Vergleichbar der deutschen Situation fand auch in Italien eher eine Machtüberlassung als eine Machtergreifung statt. Auch hier gab es eine Art Franz von Papen (ich vereinfache natürlich gnadenlos und verzerre damit auch). Giovanni Giolittis (1842–1928) Versuch, die Faschisten in einen Nationalen Block einzubinden, scheiterte, er trat 1921 zurück (und leistete im Parlament später Widerstand gegen die Faschisten). Doch schon bei den Wahlen 1921 war kaum mehr freie Rede möglich, Gewalt war schon auf der Tagesordnung. Die Ideologie des Faschismus ist Gewalt und Aktion. Die Faschisten gewinnen an Stärke. Nach dem Sturz einer weiteren Regierung im September 1922 wird Luigi Facta (1861–1930) Präsident des Ministerrats, verspottet als „Präsident Zuversicht“: „Facta“, so Lussu, „war die vollkommene Inkarnation des Wesens der parlamentarischen Demokratie Italiens“: heillos beschwichtigend, realitätsblind, die Faschisten unterschätzend. Ein Marsch auf Rom? Unmöglich, denn er, Facta, sei in Rom „’mit [s]einen Regimentern und Kanonen’.“

Nüchtern, wenn auch oft zutiefst enttäuscht und angewidert, bemerkt Lussu, es sei schwer, „in der Politik Fixpunkte festzulegen. In der Seele eines jeden Demokraten schlummern die Keime für alle möglichen Entwicklungen. Jeder kann – ohne gegen die Logik der Evolution zu verstoßen – Faschist oder Kommunist werden“. Immer wieder beobachtet und beschreibt er Umfaller, Opportunisten, teils Menschen, die er als seine Freunde betrachtet hatte und die urplötzlich oder nach einer längeren Entwicklung im Lager der Faschisten landen, teils als 150 %ige. Alle hatten natürlich „genügend ideelle Gründe zur Hand, um die konkreten Gründe für den Gesinnungswechsel zu rechtfertigen. Derartige Konversionen waren im Italien jener Jahre durchaus keine Seltenheit; man bezeichnete sie als Bewusstseins- oder Gewissenskrisen“.

Nun also folgt tatsächlich der Marsch auf Rom oder sowas ähnliches. Im Oktober 1922 findet ein Kongress der Faschisten in Neapel statt. À Roma! wird am 26. Oktober beschlossen, am 28. sollʼs losgehen. Derweilen fährt Mussolini nach Mailand – 600 km von Rom entfernt: „600 Kilometer zwischen dem Oberkommandierenden und dem kämpfenden Heer“ sind eine „außergewöhnliche Distanz. Dafür aber bietet Mailand den Vorteil, dass es nur wenige Kilometer zur Schweizer Grenze sind“.

Die Mobilmachung funktioniert schlecht, aber im Grunde ist die Demokratie am Ende und wehrt sich hin und wieder nur noch ein bisschen:

Das Marschziel ist klar: Rom. Doch herrscht ein heilloses Durcheinander. Es gibt Missverständnisse, Verspätungen, Pannen aller Art; die Marschkolonnen brechen auseinander, finden einander nicht; der Aufmarsch an den Sammelpunkten erfolgt schon verspätet. Außerdem haben die meisten Faschisten keine Waffen; viele haben Jagdgewehre mitgebracht: für die Gewehre aus dem Heer ist nicht genügend Munition vorhanden.

Lebensmittel werden „schon am ersten Tag knapp“. Und eigentlich müsste diese Farce (Faust angekündigt, Husarenfieber gegeben) am Ende sein. Die Faschisten bekommen etwas Gegenfeuer: „Die Situation hat sich ins Gegenteil verkehrt. Panik erfasst die Faschisten, steigert das Durcheinander in ihren Reihen. Sollte der Staat sich wirklich verteidigen?“

Es bleibt zwar bei Husarenfieber, aber die Macht wird doch übernommen. Facta geht zum König, will sich von diesem (bitte immer schön legal), ein Dekret über den Belagerungszustand ausstellen lassen, das macht Vittorio Emanuele nicht mit, am 29. Oktober erhält Mussolini ein Telegramm vom König, er möge bitte die Regierung bilden. Die Marschkolonnen sind immer noch 100 km von Rom entfernt und kommen erst am 31. Oktober dort an. Ein echter Eilmarsch zur Eroberung der Macht! Lussu:

Die Ruhe überschwemmt Italien. Die Zeiten der Unordnung sind vorbei. Keine Streiks mehr, keine Plünderungen, kein Bruderblut auf den Straßen. Der Staat hat sich in neue Gewänder gehüllt und schreitet feierlich einher. Triumphierend kehrt das Recht aus langer Verbannung heim,

„(a)lle Glocken läuten festlich: Der Friede ist angebrochen. Italien will zur Ruhe kommen“. Lussu machte sich „keine Illusionen“ über die Lage: „Von nun an“ war nicht nur gegen die faschistische Partei „zu kämpfen, sondern gegen den ganzen Apparat des Staates, den Mussolini an sich gerissen hatte“.

Der Faschismus sitzt noch nicht fest im Sattel, in seiner Regierungserklärung am 16. November muss der Duce drohen, den Abgeordneten Furcht einjagen. Auch in der Fläche nehmen Farce und Gewalt an Fahrt auf, in Städten und Gemeinden, in denen die Mehrheit des Gemeinderats auf einer „regimefeindlichen Haltung beharrte“, schloss sich die Minderheit dem Faschismus an, um die Mehrheit aus dem Sattel zu heben, stets natürlich im Interesse der Gemeinde:

Nicht selten kam es vor, dass sowohl die Mehrheit als auch die Minderheit zum Faschismus überliefen, und dass sie einander weiterhin mit unverminderter Hartnäckigkeit bekämpften. Die einen beschimpften die anderen als Opportunisten und Profitgeier, jede Seite pries sich als Hüterin der lautersten faschistischen Ideale. Und die einen wie die anderen sandten Boten und Vertrauensleute nach Rom, um Freunde zu werben, um Bündnisse anzubahnen, um das alte Spiel des Gebens und Nehmens, der uneigennützig-einträglichen Freundschaften ins neue System hineinzuretten.

Eine wahrlich imposante Geschichte zum Wiederaufbau des Imperium Romanum (darunter tat es Mussolini bekanntlich nicht) stellt das glorreiche Abschneiden der sardischen Koloniallegion dar. Anfangs gab es Rekrutierungsprobleme. Man erhöht den Sold, schon wird´s besser. Die Ia Legione reist von Cagliari nach Libyen. Man hört eine Weile nichts von ihr. Sie hat ja wahrscheinlich allerhand zu tun, Imperium organisieren und so. Eines Tages greifen arabische Stämme die Oase von Kufra an, die Stunde der Ia naht. Keiner der Legionäre rührt sich zum Gegenangriff, sie verlangen ihren rückständigen Sold. Der Befehlshaber will die Rädelsführer verhaften lassen, doch nun greifen die Legionäre

zu den Waffen und verhinderten die Ausführung des Befehls. […]. Militärische Disziplin ist eine ernste Sache, solange jeder militärisch stramm gehorcht; aber wenn es einmal mit diesem einen Detail nicht mehr klappt, dann können Soldaten schlimmer werden als ein Haufen rabiater Zivilisten.

Der Angriff auf die arabischen Stämme wird abgeblasen, die Legion aufgelöst.

In der zweiten Hälfte des Jahres 1923 herrscht der Faschismus ungehindert, doch ist die Zustimmung immer noch oft mau. Am 10. Juni 1924 wird der sozialistische Politiker Giacomo Matteoti (1885-1924) von Faschisten ermordet, sein Leichnam im August gefunden. Matteotis Ermordung führt u.a. dazu, dass Mussolinis Zustimmung in der Bevölkerung zurückgeht. Er muss handeln, am 3. Januar 1925 übernimmt er die „Verantwortung“ für die Ermordung (was immer das heißen mag). Und er handelt. Hat Mussolini bis dato noch versucht, mit dem Parlament zusammenzuarbeiten, so wird ab jetzt jede Opposition unterdrückt, die Pressefreiheit eingeschränkt, eine Geheimpolizei aufgebaut.

Lussu selbst wird verhaftet, während seiner dreizehnmonatigen Haft zieht er sich eine (wohl tuberkulöse) Rippenfellentzündung zu, die ihn an den Rand des Todes bringt. Im November 1927 wird er auf die Insel Lipari verbannt, er erholt sich nur langsam. 1929 gelingt ihm mit dem sozialistischen Politiker und Publizisten Carlo Rosselli (1899–1937) sowie dem Journalisten und Antifaschisten Fausto Nitti (1899–1974) der fünfte Fluchtversuch.

Wie das weiterging mit dem Faschismus, das muss hier nicht erzählt werden. Hier ging es vor allem um die Anfänge aus Sicht eines hellwachen Demokraten (über den man im hilfreichen Nachwort des Übersetzers Claus Gatterer zur ersten deutschen Ausgabe 1971 einige biographische Details erfährt). Husarenfieber und Farce: so blieb der Faschismus nicht. Zumindest muss daran erinnert werden, dass er in seiner Spätphase seit 1943 von Gnaden des nationalsozialistischen Deutschland italienische Juden verfolgte und der Vernichtung preisgab. So wurden aus Italien knapp 7000 Juden in NS-Vernichtungslager deportiert, von denen lediglich 830 überlebten (unter ihnen Primo Levi).

Dem Folio-Verlag ist für die Neuausgabe dieses wichtigen Berichts nicht genug zu danken. Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass für den/die deutsche/n Leser/in zum einen nicht nur das erwähnte Nachwort von 1971 nachgedruckt worden wäre, sondern eine knappe Erläuterung der von Lussu als selbstverständlich angesehenen Kontexte und Fakten erfolgt wäre. Überdies wäre eine Erneuerung des Glossars hilfreich gewesen. So musste ich mir manche der oben skizzierten Fakten zusammengoogeln oder aus dem Buch Wolfgang Schieders Der italienische Faschismus 1919–1945 (München, CH Beck 2010) zurecht- und zusammenlesen. Das ist etwas schade.

Titelbild

Emilio Lussu: Marsch auf Rom und Umgebung. Ein Bericht.
Aus dem Italienischen von Claus Gatterer.
Folio Verlag, Wien 2022.
272 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783852568652

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