Keine Kopulation ohne Revolution

Jörg Magenau schreibt mit „Liebe und Revolution“ einen Westberliner Bildungsroman

Von Thomas SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Schwarz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Augenblick, aus dem heraus Jörg Magenaus Roman in Rückblenden erzählt wird, ist die Nacht des 9. November 1989. Sein Held ist ein Student der Philosophie an der Freien Universität Berlin, der begreift, dass sich vor seinen Augen ein „umstürzender, historischer Augenblick“ abspielt, eine „Zäsur“, ein „Schnitt durch die Zeit als Schritt durch den Raum“. Die Mauer war „ein Damm gegen das Verstreichen der Zeit, ein erzwungener Stillstand“, den „das Gewimmel der Menschen“ aufzulösen beginnt und so „Bewegung“ in die Geschichte bringt. Just in diesem Moment begegnet Paul in der Berliner U-Bahn-Linie 1 seiner verflossenen Liebe Beate.

Zwei Berliner Welten trennen das Paar, denn Pauls Operationsbasis ist Kreuzberg SO 36, vormals so etwas wie der revolutionäre Nabel der Welt, aus dessen Perspektive Beates Wohnung im Charlottenburger Danckelmannkiez in einer fast schon suspekten Peripherie liegt. Sie hat eine „feste Stelle als Kulturkorrespondentin für Berlin“ bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, zu der sie kein Geringerer als Marcel Reich-Ranicki geholt hat. Paul hingegen hat es nur zu einem Job beim Rundfunk im amerikanischen Sektor gebracht, immerhin nach einem Vorstellungsgespräch bei Hanns-Peter Herz höchstpersönlich, einem stolzen „Kalten Krieger“ des Berliner Journalismus. Am 9.11. begegnen die beiden am Checkpoint Charlie im Café Adler Arno Widmann von der taz, der ihnen brühwarm die Geschichte erzählt, wie er auf die Nachricht von der Öffnung der Grenzübergänge hin versucht hat, einen Abstecher nach Ostberlin zu unternehmen. Weil ihn die Grenzer nicht durchgelassen haben, kehrt er um und wird von einem „sensationshungrigen Fotografen“ als der „erste Ostler“ abgelichtet, der die Grenze passiert habe. Während das Paar zum Brandenburger Tor flaniert, um dort auf die Mauer zu klettern, begibt es sich auf die Suche nach seiner in Westberlin verlorenen, entschleunigten Inselzeit.

Von Westberlin nach Nicaragua

Paul ist Jahrgang 1963, Kriegsdienstverweigerer aus Lippstadt und die Mauer um seine Wahlheimat Westberlin ist für ihn ein „Schutzwall gegen die eigene Herkunft“ aus der „bundesdeutschen Provinz“. Weihnachten 1985 findet man Paul dann auch nicht bei seinen Eltern, sondern im Taxöldener Forst, wo Gegner des Baus einer atomaren Wiederaufbereitungsanlage im bayrischen Wackersdorf ein Hüttendorf errichtet haben. Im Studium konzentriert er sich im Sommersemester 1986 auf die Lektüre des „Kapitals“, und zwar in der strengen Schule seines Hochschullehrers Wolfgang Fritz Haug. Sein Revolutionsverständnis leitet Paul von Walter Benjamin ab, es gehe darum, das „Kontinuum der Geschichte aufzusprengen“ und „mit einem großen Tigersprung in einer besseren Zukunft zu landen“. Daraus ergibt sich für ihn die „konkrete Frage des persönlichen Engagements“ für die Revolution. Er lässt sich auch nicht durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl beirren, dem medienwirksamen Symbol für das „Scheitern des Sozialismus“. Im „Kapitalkurs“ lernt Paul schließlich seine große Liebe Beate kennen. Sie lädt ihn zur Teilnahme an einer Lesegruppe ein, die sich der „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss widmet. Vom Romananfang inspiriert fährt der Lesekreis nach Ostberlin, um den Kampf der Olympier mit den Giganten vor Ort zu studieren. Die Lesegruppe diskutiert auch die Gewaltfrage und Foucaults Diskurstheorie. Die entscheidenden Anstöße für Pauls Lebenslauf gehen allerdings zu diesem Zeitpunkt von Haug und vom Pergamon-Fries aus.

Sein Wunsch, sich in sozialen Kämpfen zu engagieren, führt ihn in eine „Mittelamerika-Solidaritätsgruppe“, die in Nicaraguas Hauptstadt Managua eine Produktionshalle für eine Frauenkooperative, eine Näherei, aufbaut. Paul belegt einen Sprachkurs am Lateinamerika-Institut der Freien Universität und bucht einen Sprachkurs in Spanien. Dort trägt das Besichtigungsprogramm auch dazu bei, Pauls Konzept der Revolution zu entwickeln. Sie sei eine „unfertige Kathedrale“, vergleichbar der Sagrada Família von Antoni Gaudí in Barcelona: „Sie kann nie fertig werden, weil ihr Wesen im Werden, in der Veränderung besteht.“ Die Revolution sei ein „sich aufwärts schraubender Traum“, der Traum der Vernunft. Für die Rückreise verabredet sich Paul mit Beate, sie fahren nach Portbou und verbringen eine Liebesnacht am Strand „unterhalb der Felswand und der Treppe ins Nichts“, dem Denkmal, das an den Tod Benjamins erinnert. Als Paul am nächsten Morgen aufwacht, hat Beate ihn sitzen lassen.

Pünktlich zur „Nacht des Ersten Mai in Kreuzberg“ 1987 kommt Paul nach Berlin zurück. Die „Bürgerkriegsszenen“ nimmt er als „eine Art Theaterinszenierung“ wahr, „weil all die Straßenkämpfer ganz genau wussten, dass sie sich am Ende auf den Rechtsstaat verlassen konnten und am nächsten Morgen die BSR alle Scherben und Trümmer zusammenfegen würde.“ Für Paul jedoch wird es ernst, als er Mitte Mai als Brigadist nach Nicaragua fliegt. Ein Visum als „Internacionalista“ beglaubigt seinen „revolutionären Status“. Die „Reise in ein exotisches Land“ mit Schildkröten am Pazifikstrand und Kakerlaken in der Wohnung erweitert Pauls Horizont ungemein. Um die Welt revolutionär zu verändern, kommt es zunächst einmal darauf an, Beton für den Bau einer Fabrik zu mischen. Allerdings ist Nicaragua auch ein wirkliches Kriegsgebiet, und Paul muss hilflos zusehen, wie konterrevolutionäre Contras seine Genossin Sigrid gewaltsam entführen. Ein Treffen mit Präsident Daniel Ortega, der die Verfolgung der Contras zusichert, ändert nichts daran, dass Sigrid verschollen bleibt. Das revolutionäre Engagement hat sie wahrscheinlich mit ihrem Leben bezahlt. 

Abschied von Kreuzberg

Als Paul im November 1987 aus Nicaragua zurückkehrt, ist für Beate in Berlin das Leben weitergegangen. Mitte Juli hat sie an der Anti-Reagan-Demonstration auf dem Kurfürstendamm teilgenommen, auf der vom Kaufhaus des Westens bis zur Urania alle Schaufenster zertrümmert worden waren. Beate distanziert sich von den Autonomen, die sie als „egomane Pyromanen“ bezeichnet. Paul verbringt im Sommer 1988 einige Wochenenden auf dem Kubat-Dreieck, einem Biotop an der Mauer, das Landbesetzer gegen den Bau einer Verbindungsstraße verteidigen wollen. Als die Westberliner Polizei das Gelände räumt, flüchten die Besetzer über die Mauer in den Todesstreifen: „Es war ein erster Test, dass die Mauer sich beklettern und überwinden ließ“. Für die Bildungsbiographie des Helden wird die Universität gleichgültig, er lässt sich dort nicht mehr sehen. Konsequent klafft im Roman das Wintersemester 1988/89, als an der Freien Universität Berlin die Studierenden monatelang in den Streik treten, als Leerstelle.

Zu den Stärken von Pauls Charakter gehört zweifellos die Fähigkeit zur Selbstironie. Wenn er anfangs behauptet, dass studentische „Bürgersöhnchen oder -töchterchen“ nur Taxi fahren, um „das proletarische Selbstbewusstsein“ zu stärken, dann steht die Aussage noch unter Ironieverdacht. Unter dem Eindruck des Mauerfalls verfestigt sich bei ihm jedoch ein geradezu geschichtsmetaphysisches Erklärungsmuster des Taxifahrens. Paul moniert an seiner „Generation“, dass sie vor dem Hintergrund der Nazi-Verbrechen aus der „ererbten Schuld“ heraus eine allzu skeptische Einstellung entwickelt habe. Aus der „Abwehr der Täter“ sei eine „generelle Ablehnung des Tuns“ entstanden. Ihre Kritik der „Machtausübung“ habe eine ganze Generation zu „Untätigen“ gemacht. Das „sogenannte Engagement der Intellektuellen“ sei „immer ein bloßes Verhinderungsengagement gewesen“. Paul unterstellt seiner Generation ein „Misstrauen gegenüber Karrieren“ und ein „Desinteresse an beruflichem Aufstieg“, eine „Selbstgenügsamkeit in Existenzen als Taxifahrer oder Privatgelehrter“. Selbst eine „auf Jahrzehnte“ ausgedehnte „Studentenzeit“ führt Paul auf „diese historisch begründete Handlungsverweigerung“ zurück.

Paul könnte wissen, dass ihm sein romantischer Kachelofen in Kreuzberg nichts nutzt, wenn er ihn im Winter nicht beheizen kann. Beim RIAS jobbt er, weil er Kohle braucht und es für völlig unangemessen hielte, von elterlicher Unterstützung zu leben, womöglich noch unter Vortäuschung einer Existenz als fleißiger Student. Das kritische Prekariat der Privatdozentenschaft Westberlins fährt schlicht deshalb Taxi, weil es bei zig Bewerbungen gescheitert ist. Es mag ja Glückspilze geben, die wie Paul gleich bei der ersten Bewerbung an die richtigen Leute geraten, aber das ist nicht die Regel.

Um seine eigene Entwicklung auf eine materialistische Linie zu bringen, erklärt Paul, dass das „ganze Sehnsuchtspotential“ der „Mittelamerikasolidarität“ auf nichts anderes als „aufs Handeln, aufs Tun“ ausgerichtet gewesen sei, vergleichbar der Praxis derjenigen, die die Mauer zu Fall gebracht haben. Im November 1989 versteht Paul angesichts einer „schwarz-rot-goldenen Fahne“ mit rundem Loch in der Mitte, dass nun endlich auch in Deutschland eine „neue Zeit“ angebrochen sei. Man müsse jetzt „nicht mehr in ferne Weltgegenden reisen“, um sich „zu engagieren“, denn jetzt gerate „die Geschichte auch hierzulande in Bewegung“. Paul bewundert die Menschen, die um ihn herum solche „Löcher schwenken“: „Das ist auch eine Tat.“ – Die philosophischen Reflexionen des Studenten Paul über die revolutionäre Praxis münden in einen ironiefreien Salto mortale in das abgründige Loch des nationalen Taumels, der Deutschland am 9.11.1989 befallen hat.

Magenaus Roman lenkt die Sympathie auf eine engagierte Figur, die er aber auch als befangen in einer gewissen Unbedarftheit preisgibt. Auf diese Weise öffnet die Erzählung einen Spielraum für eine reservierte Lektüre, der die Überwindung einer angeblich paralytischen intellektuellen Fixierung auf die Nazi-Vergangenheit unter Ausbildung des deutschen Nationalcharakters samt Schwenkung der Nationalflagge nur als mageres Ergebnis zeitgemäßer Bildungsanstrengungen erscheinen darf. Lesenswert ist der Roman vor allem deshalb, weil er eine Recherche im linksalternativen Archiv der 1980er-Jahre in Westberlin bietet, dessen politisches Lokalkolorit er nicht nur aus Pauls Perspektive beleuchtet.

Das zweite Thema des Romans ist die Liebe Pauls zu den Frauen: „Die, die er begehrte, interessierten sich nicht für ihn und erschienen ihm vollkommen unerreichbar in ihrer Schönheit, und die, von denen er sich verführen ließ, waren solche, auf die er von sich aus nie verfallen wäre.“ Der Held macht die erbauliche Erfahrung, dass allein schon die Fama seiner geplanten Reise nach Nicaragua, das exotische „Revolutionsabenteuer“ also, einer „erotischen Aufladung“ beim anderen Geschlecht gleichkommt. In der Welt von Magenaus Roman ist die Revolution der Kopulation entschieden förderlich. Das Nachdenken über die revolutionäre Praxis befördert auch die Liebe zwischen Paul und Beate. Am Ende der langen Nacht des Mauerfalls lautet die entscheidende Frage: Zu mir oder zu dir, soll heißen, nach Kreuzberg oder Charlottenburg? Zukunftsweisend nimmt das Paar den Nachtbus mit der Nummer 19.

Titelbild

Jörg Magenau: Liebe und Revolution.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2023.
304 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783608987485

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