Lyrik eines Comiczeichners

Die gesammelten Gedichte von Nicolas Mahler

Von Wilfried IhrigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wilfried Ihrig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicolas Mahler ist ein österreichischer Comiczeichner. Er arbeitet für Zeitungen und Zeitschriften in deutschsprachigen Ländern, seit über zwanzig Jahren hat er auch viele Bücher veröffentlicht. Als Zeichner wurde er mit Preisen ausgezeichnet, 2010 mit dem Max-und-Moritz-Preis für den besten deutschsprachigen Comic-Künstler. Einige seiner Comics wurden übersetzt.

Mahler wurde 1969 in Wien geboren. In Deutschland ist er seit 2006 bekannt durch Mitarbeit an der Zeitschrift Titanic. Er hat 2011 begonnen, literarische Werke in Graphic Novels zu übertragen. Nach Alte Meister von Thomas Bernhard folgte Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil, nach diesen österreichischen Anfängen hat er auch Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust, Ulysses und Finnegans Wake von James Joyce gezeichnet. Daneben veröffentlicht er seit 2013 eigene Gedichtbände. Der erste Band, Gedichte in der Insel-Bücherei, bestand nur aus Zeichnungen, die unter einen Begriff gesetzt waren, wie Gedichte unter den Titel. 2015 erhielt er den Preis der Literaturhäuser, der für besondere Darbietungen von Literatur, etwa mit Illustrationen, vergeben wird.

Die kleine Werkausgabe die gedichte erschien 2021. Drei Gedichtbände werden mit einem signierten Siebdruck in einer Auflage von 300 Exemplaren in einem illustrierten Kartonschuber angeboten. Neu sind nur der Druck und der Schuber. Die Bücher wurden nicht verändert. Die Bände sind nicht nummeriert, nur nach den Erscheinungsjahren der im selben Verlag publizierten Erstausgaben zu ordnen. Der Band aus der Insel-Bücherei ist nicht enthalten.

Der erste Band ist dachbodenfund (2015). Die Gedichte und -zeilen sind minimalistisch. Der Titel des Bands ist die letzte Strophe des Gedichts bär mit matrosenanzug, die Strophe davor lautet: „ein wenig / eingestaubt“. Es ist, als hätte der Autor einen Spielzeugbären auf dem Dachboden gefunden, den er in wenigen Worten beschreibt. Das Gedicht strunz endet mit: „schuhsohle locker / zähne fehlen // garantiert alt“, in dem Gedicht puppenkochbuch liest man erstaunt: „rezepte leider / unleserlich (…) / eine nützliche gabe / für junge mädchen“. Zitate wie diese deuten an, wie komisch die lakonischen, sachlichen Formulierungen wirken, die das Buch beherrschen. Die Gedichte sind verständlich und nicht interpretationsbedürftig.

Der Klappentext gibt einen kurzen Kommentar zur literarischen Technik: 

Aus dem Wortschatz alter Spielzeugauktionskataloge montiert Mahler knappe Gedichte. Er schlägt aus nüchternen Beschreibungen spielerisch Funken und erzeugt mit minimalen Mitteln eine Atmosphäre von Komik und seltsamer Melancholie.

Auch dieser Kommentar ist minimalistisch. Er stellt klar, dass Mahler seine Gedichte über gefundenes Spielzeug aus gefundenen Texten über gefundenes Spielzeug montiert hat. Die Gedichte sind nicht nur durch ihre knappe Form modern, sondern es sind literarische Montagen wie es sie erst seit dem Dadaismus gibt. Damit ist diese Lyrik kategorisiert, die Faszination der einzelnen Gedichte nicht annähernd erfasst. Die Technik erinnert an Montagen der Wiener Gruppe, die abgründige Komik auch an das österreichische Kabarett. Wie mit Artmanns schwarzer Tinte oder von Georg Kreisler geschrieben wirkt das Gedicht puppenstubenpuppenmann, mit den Schlusszeilen: „funktionstüchtig // dazu / 1 schlachtermesser / für kleine / puppenstubenmetzgerei“.

Der zweite Band ist in der isolierzelle (2017). Die Gedichte und die Gedichtzeilen sind länger als im ersten Band, nur in einzelnen Fällen als minimalistisch zu bezeichnen. Ein Gedicht mit dem Titel in der isolierzelle spielt in Dayton, Ohio, dort befindet sich das älteste und größte Museum der Welt für militärische Luftfahrt. Die Isolierzelle wird wie ein Flugsimulator beschrieben. Tatsächlich ist das vorwiegende Thema der Gedichte die Raumfahrt. Einzelne Gedichte nennen ihre Quelle, wie landung auf dem mond. livesendung, wdr 1969, das endet: „jetzt sagte armstrong / ich habs / aber wir wissen nicht / was er damit meint“. Wieder sind die Gedichte komisch und melancholisch, sie wirken nur nicht derart prägnant wie in dachbodenfund, sie sind auch nicht alle montiert. In einer Anmerkung schreibt Mahler: „Ein Großteil der Gedichte in diesem Band wurden (sic!) aus folgenden Quellen montiert: (…) Die genaue Zuordnung der Textpassagen ist aus Gründen mangelnder Organisation des Verfassers leider nicht möglich.“ Die Quellen sind Technikmagazine aus den 20er bis 60er Jahren. Die Komik erwächst nicht immer aus der Montage, sondern manchmal aus gefundenen Textpassagen, manchmal aus vermutlich von Mahler hinzugefügten Formulierungen. Dadurch ist das Thema gelegentlich moderner als die Technik der Gedichte. Insgesamt wirkt der Band weniger überzeugend als dachbodenfund, eintönig durch die Beschränkung auf das Thema Raumfahrt, das vermutlich nicht viele Lyrikleser anspricht.

Der dritte Band ist solar plexy (2018). Auch diese Gedichte haben nicht die Kürze und Prägnanz von dachbodenfund. Der Band hat den Untertitel erotische gedichte, die ersten Bände waren nur gedichte. Plexy heißt eine Frau, die als „sexy“ charakterisiert wird. Wieder stellt eine Anmerkung klar, dass nicht alle, aber ein Großteil der Gedichte montiert wurde, diesmal aus Erotikmagazinen der 60er und 70er Jahre. Die Gedichte sind nicht pornographisch, nicht einmal erotisch, sie führen Klischees vor, mit denen Erotikmagazine Pornographie und Erotik darstellen: „dem staunenden gast / wird europas wildeste pornografie geboten“. Manchmal glaubt man, die unfreiwillige Komik einer Quelle zu ahnen: „das fesche fotomodel / baumelt barbusig / am mastbaum“. Manchmal macht Mahler eine literarische Anspielung, wie mit dem Gedicht die verwandlung, das den Titel der berühmten Erzählung Kafkas trägt, aber geradezu antiliterarisch berichtet, in einer Bar habe „der rassigste käfer der mir je / zu gesicht gekommen war“ gesessen. Obwohl man nie genau weiß, welche Passagen montiert sind, ist dieser Band überzeugend wie dachbodenfund, von einer leserfreundlichen Modernität. Er enthält großartige Gedichte mit irrwitzigen Textfunden, durch nicht weniger gekonnte Formulierungen ergänzt, komisch und kurzweilig zu lesen.

Mit dem ersten Band hat Mahler die literarische Montage entdeckt und am konsequentesten angewendet. In den späteren Bänden weiß der Leser nicht genau, wie ein bestimmtes Gedicht entstanden ist, ob alle Passagen eines Gedichts vorgefunden sind, welche Formulierungen hinzugefügt wurden. Die Wirkung der Gedichte im zweiten Band wird aber nicht dadurch geschmälert. Etwas weniger überzeugend wirken sie allenfalls durch die Länge der übernommenen Passagen. Da anscheinend ganze Sätze montiert wurden, nicht nur einzelne Wörter, stichwortartig aneinandergereiht wie im ersten Band, fragt man sich gelegentlich, ob die Wirkung nur der Quelle zu verdanken ist, ob eine gefundene Formulierung vielleicht nur wie eine Stilblüte wiedergegeben wird.   

Die Gedichtbände sind illustriert wie alle Bücher Mahlers, aber seine einzigen Bücher, in denen das Bild dem Wort untergeordnet ist. Jeder Band enthält 20 bis 30 farbige Illustrationen, fast immer auf ein einzelnes Gedicht bezogen, die Zahl der Gedichte ist größer. Die Bilder sind in den ersten Bänden manchmal auf dieselbe Druckseite wie ein Gedicht gesetzt, im dritten Band ganzseitig gedruckt. Die Farbgebung ist im ersten Band am strengsten minimalistisch. Die einzige Farbe ist Rot, als Grundfarbe des Umschlags und kleinflächig in den Illustrationen, mit etwas schwarzer Farbe, meist nur zur Konturierung.

Mahler macht keine Angaben zur künstlerischen Technik. Den einzigen Hinweis gibt die Bezeichnung Siebdruck für das Einzelblatt, das der Ausgabe hinzugefügt ist. Im Rezensionsexemplar war er nicht enthalten. Die Verlagswerbung zeigt, dass es sich um die Illustration der vorderen Umschlagseite von dachbodenfund handelt, auf weißem statt rotem Grund. Man darf deshalb annehmen, dass die Bilder keine aquarellierten Tuschezeichnungen sind, wie man denken könnte. Dafür spricht auch die gleichmäßige Tönung aller Farbflächen. Mahler variiert nur die Form der Farbflächen, er arbeitet ohne Nuancen des Farbauftrags.

In allen Bänden wirken die Bilder noch lakonischer als die Gedichte. Man könnte sich manche Gedichte und Bilder einzeln publiziert vorstellen, aber ihr Zusammenspiel verstärkt die Wirkung. Mahler passt damit in die Nachfolge der Neuen Frankfurter Schule um die Zeitschrift Titanic, zu deren in Karikatur und Dichtung brillanten Doppelbegabungen wie Robert Gernhardt und F. K. Waechter. Er bewahrt zugleich die Tradition der österreichischen literarischen Moderne von Kafka bis zur Wiener Gruppe. 

Titelbild

Nicolas Mahler: die gedichte.
Luftschacht Verlag, Wien 2021.
285 Seiten in 3 Teilen, 37,00 EUR.
ISBN-13: 9783903081963

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