95 Jahre Teneriffa in Kamerazooms

Buchpreis-Gewinnerin Inger-Maria Mahlke erzählt in „Archipel“ die zerrüttete Geschichte einer Familie von der Gegenwart bis zurück ins Jahr 1919

Von Katrin LüdekeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katrin Lüdeke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist der 9. Juli 2015, vierzehn Uhr und zwei, drei kleinliche Minuten in La Laguna, der alten Hauptstadt des Archipels, beträgt die Lufttemperatur 29,1 Grad, um siebzehn Uhr siebenundzwanzig wird sie mit 31,3 Grad ihr Tagesmaximum erreichen.

Nachkommastellengenau beginnt Inger-Maria Mahlke ihren Roman Archipel auf der Insel des ewigen Sommers, Teneriffa. Fernab alles Touristischen setzt die Geschichte bei einer Familie an, die scheinbar nur in ihrem Scheitern vereint ist. Felipe Bernadotte González ertränkt sich im Whiskey, nachdem sein Versuch gescheitert ist, die Verstrickungen seiner Familie in das Franco-Regime aufzuarbeiten. Die politische Karriere seiner Frau Ana Baute Marrero wird durch Korruptionsvorwürfe bedroht. Die Beziehung der beiden ist ebenfalls schon vor langer Zeit in die Brüche gegangen. Das Bindeglied zwischen ihnen ist die gemeinsame Tochter, die nach einem abgebrochenen Kunststudium zurück auf die Insel kommt: Rosa, die – abgestumpft von einer Welt, in der alles möglich ist – ihre Zeit am liebsten mit dem Streamen der Reality-TV-Serie Survivor füllt. Auch Julio Baute, Rosas Großvater, 95 Jahre alt, verbringt viel Zeit vor dem Fernseher in der Pförtnerloge des Asilo. Julio ist der Portier im Altenheim, in dem er selbst wohnt, und wacht dort über die Pforte nach draußen, „die Schleuse zur Welt“.

Genau dort fängt die Geschichte an und tritt lange auf der Stelle. Die Handlung scheint nicht in Schwung zu kommen, die Protagonisten bewegen sich gleichförmig zwischen noch einer Folge und noch einem Drink in ihrer Welt wie in einer Blase. Erst mit dem Schritt in die Vergangenheit kommt Bewegung in die Geschichte.

In unregelmäßigen Abständen werden die Protagonisten jünger, es kommen neue hinzu. Durch häufige Perspektivwechsel nimmt der Roman an Fahrt auf, verkompliziert sich aber auch. Die Übersicht der handelnden Personen am Anfang erleichtert das Zurechtfinden in der verästelten Familiengeschichte, denn durch die vielen Auslassungen fehlen oftmals Hintergrundinformationen. Wie durch einen Kamerazoom beschreibt die Autorin sehr bildlich und detailliert. Dadurch werden die Protagonisten jedoch nicht immer scharf gestellt; sie bleiben zu kurz im Fokus, um wirklich erfahrbar zu sein.

Die Familienmitglieder scheinen sich alle nur kurz nahe zu sein, je länger sie zusammen sind, desto mehr entfremden sie sich voneinander. So ist die Geschichte mehr durch die Landschaft, durch die Orte, durch die Randfiguren verbunden. Rosas Elternhaus, der Club, in dem Felipe Tag für Tag seinen Whiskey kippt, die Porträts seiner Vorfahren und die Bewohner des Altenheims sind wiederkehrende Motive und viel mehr Bindeglied für die Geschichte als es der gemeinsame Familienname ist.

Je breiter der Familienstammbaum wird, je mehr Personen hinzukommen, desto schmaler wird die aufgewendete Erzählzeit und desto größer werden die Sprünge. Schließlich endet der Roman im Jahr 1919 – Julios Geburtsjahr – mit der Silvesterfeier. „Auf die Zukunft!“, rufen alle beim Anstoßen; eine Zukunft, die der Roman mit seiner anachronischen Erzählweise schon illustriert hat.

Für ihren Roman wurde Mahlke mit dem Deutschen Buchpreis 2018 ausgezeichnet. Bereits 2015 war sie mit Wie ihr wollt für den Preis nominiert. In der Erklärung der Buchpreis-Jury heißt es:

Inger-Maria Mahlke erzählt auf genaue und stimmige Weise von der Gegenwart bis zurück ins Jahr 1919. […] Vor allem aber sind es die schillernden Details, die diesen Roman zu einem eindrücklichen Ereignis machen. […] Faszinierend ist der Blick der Autorin für die feinen Verästelungen in familiären und sozialen Beziehungen.

Die Begründung ist sehr treffend für den Schreibstil der Autorin. So beweist sie ihr Gespür für die Nuancen zwischenmenschlichen Handelns, indem sie ihre Charaktere immer wieder mit Themen konfrontiert, die das Familienleben belasten: Homosexualität, Depressionen, Alkohol- und Drogensucht, Affären und Ehebruch. Über all dem wirft die politische Situation stets einen Schatten auf das Leben der Protagonisten. Die eine Hälfte der Familie ist es, die vom faschistischen Regime profitiert hat, während die andere darunter leiden musste.

Die Geschichte wirkt trotz der vielen unterschiedlichen Fokussierungen nicht überladen, da die Themen immer nur angerissen und wenig Hintergründe erwähnt werden. Das Buch ist ein Querschnitt durch die Geschichte Teneriffas, eine Übersicht über die Probleme einer Zeit und einer Familie.

Die jeweilige Gegenwart begründet sich in der Vergangenheit, dennoch bleibt oft eine direkte Auflösung der Hintergründe offen. Die Geschichte versucht sich nicht zu rechtfertigen und bietet nur mögliche Ursachen an, ohne konkret zu werden. Der Fokus des Buches liegt mehr in der Art des Erzählens als in den geschichtlichen Hintergründen. So kann auch das Glossar oftmals nicht weiterhelfen, der interessierte Leser muss Vorwissen mitbringen oder sich anderweitig informieren.

Die Sprache ist durch eine parataktische Aneinanderreihung von Ellipsen, von Halbsätzen geprägt. Die langen Sätze werden zum Teil durch Inversionen aufgebrochen. So entsteht der Eindruck, direkt in die Gedanken des jeweiligen Protagonisten zu blicken.

Diese bruchstückhafte, lakonische Sprache spiegelt den Roman auch inhaltlich gut wider – so ist in der Geschichte alles nur angerissen und knapp gehalten, aber doch voller Details. Es ist eine Geschichte voller Zooms – ein Fotoalbum voller einzelner Polaroids, die von früheren Tagen erzählen. Die malerische Kulisse Teneriffas tut ihr Übriges zum Bilderbuchfeeling. Im Kontrast dazu steht die in alle Einzelteile zerlegte Familiengeschichte, die definitiv kein Bilderbuchstoff ist. Aus einzelnen Bruchstücken kreiert Mahlke ein lückenhaftes Bild der Geschichte Teneriffas. Dabei bleiben viele Leerstellen und viele offene, unabgeschlossene Erzählstränge, die nebeneinander ins Leere führen und dabei doch immer wieder miteinander in Berührung kommen.

Archipel ist ein Kunstroman – erzähltechnisch raffiniert und verschlungen, aber auch sperrig und keine leichte Kost. Nicht für den Leser, aber fürs Lesen gemacht.

Die Rezension ist im Rahmen eines Master-Seminars unter Leitung von Jörg Schuster am Germanistischen Institut der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg zum Thema „Literarische Neuerscheinungen: Analyse, Kritik, Rezeption – Die LiteraTour Nord“ entstanden.

Titelbild

Inger Maria Mahlke: Archipel. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018.
432 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783498042240

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