Die Liebe auf der Ortsumgehung

Andreas Maier setzt seine Familien- und Weltsaga aus der hessischen Wetterau fort

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach „Das Zimmer“ (2010), „Das Haus“ (2011) und „Die Straße“ (2013) setzt Andreas Maier nun mit „Der Ort“ seine auf insgesamt elf Bände angelegte, autobiografisch grundierte Heimatkunde in Romanform fort. Und er bewegt sich sowohl räumlich wie auch zeitlich auf einer neuen Umlaufbahn. Die führt ihn weg von der Familie, die in den ersten drei Bänden noch eine große Rolle gespielt hat, und hin zu dem, was der Erzähler wie den Beginn eines zweiten Lebens empfindet: die Entdeckung der Liebe mit all ihren beglückenden wie verwirrenden Aspekten.

Der Idee der „Ortsumgehung“, welcher das Erzählprojekt auch seinen übergeordneten Namen verdankt, bleibt Maier gleichwohl treu – wobei von Band zu Band mehr von der kleinen Welt der Wetterau entdeckt wird. Diesmal sind es vor allem jene Orte, wo junge Menschen, Pubertierende beiderlei Geschlechts, auf zwanglose Weise zueinanderfinden können: Partykeller, Kneipen und die Spazierwege rund um das Städtchen Friedberg, in dem sich Kindheit und Jugend von Andreas Maiers Ich-Erzähler abspielen. Gegen Ende nimmt der Roman seine Leser gar noch auf eine Wahlkampfveranstaltung der CDU mit, damit wohl andeutend, dass zum Erwachsenwerden nicht nur Liebeswohl und -wehe gehören, sondern auch die Politisierung des Menschen.

Wie immer kommt das alles hochreflektiert daher, so dass man sich streckenweise nicht in einem Roman, sondern in einem gelehrten Essay über Coming-of-Age- Probleme wähnt. Entschädigt für diese Passagen erzählerischer Kargheit wird man freilich jedes Mal dann, wenn Maier aus einer Situation, die man auf ähnliche Weise selbst in seiner Jugend erlebt zu haben glaubt und die als mehr oder weniger banales Paarungsritual mit hohem Peinlichkeitsrisiko im Gedächtnis geblieben ist, gedankliche Mehrwerte herausholt, die in Staunen versetzen. Das gelingt ihm, indem er seine Erinnerungen an den kleinen Details, den fast unmerklichen Gesten sich entlangtasten lässt, die nun aber, angereichert mit den Erfahrungen und Kenntnissen des sie interpretierenden reifen Menschen, praktisch durchsichtig werden. Damit öffnen sich Erkenntniswege, die dem die Situation unmittelbar Erlebenden noch verschlossen bleiben mussten.

Ein Meisterstück dieses reflektierenden Erzählens ist die im zweiten von insgesamt vier Buchteilen geschilderte Geburtstagsfeier im Partykeller eines Schulfreundes. Aufs Genaueste wird dieser Abend Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, der für den Erzähler mehr als 30 Jahre später den „Übergang […] von einem Kindergeburtstag zu einem Nicht-mehr-Kindergeburtstag“ markiert, erinnert. Das beginnt bereits mit dem ahnungsvollen Gang durch die Straßen der Stadt, der Empfindungen in dem Jungen weckt, die ihm bisher unbekannt waren: „Ich war allein mit diesem Friedberg, diesen Mauern, diesen alten Steinen, diesem Licht, diesem Abend, und doch umfaßte das alles plötzlich viel mehr, als ich bisher in meinem Leben gesehen hatte.“

Die eigentliche Party wird für den Helden des Romans zu einer Art Initiationsfeier, die er mit einem neuen Bewusstsein von sich und der Welt verlässt. Sein Beieinander-Stehen und Einander-Umkreisen, das fast wie nach einer Choreographie ablaufende Auseinandergehen und Wiedervereinigen des Fünfzehnjährigen mit der gleichaltrigen Katja Melchior – wobei rein äußerlich in diesem Moment noch wenig mehr passiert als ein Aneinanderlehnen ihrer Köpfe – macht einen anderen Menschen aus ihm. Einen, der das, was ihm da plötzlich an Neuem geschieht, als verwirrend und ebenso beglückend wie verunsichernd empfindet: „[…] zumindest war ich am Ende des Abends ebenso glücklich wie erschöpft und hätte auf dem Heimweg genausogut tanzen wie mich übergeben können.“ 

An das Thema der erwachenden Liebe und des damit einhergehenden neuen Selbst- und Weltbewusstseins hat Andreas Maier in „Der Ort“ Motive geknüpft, die bereits in den ersten drei Bänden der Wetterau-Saga eine Rolle spielten. Dazu zählt vor allem das seinen jugendlichen Protagonisten durchdringende Gefühl des Fremd- und Andersseins, das sich auch in der Lektüre der Figur (Thomas Mann, Hermann Hesse, Fjodor Dostojewski, Knut Hamsun) widerspiegelt und es ihr erlaubt, sich selbst gegenüberzutreten wie einem Doppelgänger. Insgesamt darf man gespannt sein, wie es mit dem Helden weitergeht, nachdem er nun die Gefilde einer „zweiten ersten Welt“ betreten hat. Dass sich der Autor von Band zu Band mehr Zeit zu lassen scheint mit dem Fortschreiben seiner Geschichte deutet zumindest darauf hin, dass er es sich nicht leicht zu machen gedenkt auf dem Weg rund um die Orte seines Lebens.

Titelbild

Andreas Maier: Der Ort. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
154 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424735

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch