Flaneur der Erinnerung

Andreas Maier setzt sein hessisches Heimatepos mit „Die Straße“ fort

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Januar 2013 erhielt Andreas Maier gemeinsam mit Éric Vuillard aus den Händen von Kulturstaatsminister Bernd Neumann und seiner französischen Amtskollegin Aurélie Filippetti den Deutsch-Französischen „Franz-Hessel-Preis“. Die Intention dieses Preises ist aufs engste mit diesem Namen verbunden. Franz Hessel war, als Übersetzer und Schriftsteller in Paris und Berlin, ein deutsch-französischer Brückenbauer par excellence, ein einheimischer Weltenwanderer, der die Region, in der er aufgewachsen ist, gar nicht beschreiben muss, weil er so gut von ihr erzählen kann. Die Stadt wird ihm zur Landschaft, die Heimat wird zum Roman, die Kindheitserinnerung zur Muse. In diesem Sinne hat Walter Benjamin 1929 Franz Hessel beschrieben: als „Priester des genius loci“, als schlendernden Memorierer. Andreas Maier steht in dieser ehrwürdigen Reihe. Auch er ist ein fantasievoller Flaneur, ein Beschwörer der Erinnerung an seine hessische Heimat, die er seit seinem Debütroman „Wäldchestag“ (2000) in vielen Gemütslagen beschrieben hat, manchmal grimmig, gelegentlich amüsant, immer aber mit einer gehörigen Portion grotesken Humors.

Mit den 2010, 2011 und 2013 erschienenen Romanen „Das Zimmer“, „Das Haus“ und „Die Straße“ knüpft Maier an seine literarischen Anfänge an; der Handlungsort ist abermals die Wetterau nördlich von Frankfurt. Doch das Regionale wird hier ins Universale gewendet, insbesondere im großen epischen Zugriff. Die Romane sind tragikomische Herkunftsgeschichten, freundliche Verfremdungen der Heimat, ironische Heimatkunde. Mit ihnen hat der Autor eine auf elf Teile angelegte Familiensaga begonnen. Sie steht unter dem Arbeitstitel „Ortsumgehung“. Neu ist auch die autobiografische Direktheit des Erzähler-Ichs, das mit dem Autor weitgehend übereinstimmende Züge trägt. Doch es ist vollkommen nutzlos, Andreas Maiers Romane auf eine reine Autobiografie zusammenzustutzen. Denn Andreas Maier kopiert nicht sein „Ich“ in den Roman hinein, sondern lässt seine einheimische Erinnerung sprechen; und diese Erinnerung verfährt bekanntlich sprunghaft, sie hat hier tote Winkel und dort vollgestopfte Kammern, sie ist ein „ins Einstmals“ planierter Ort, auf dem der Erzähler mit Lust und Laune sein Frühgedächtnis flanieren lassen kann. In seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen mit dem ebenso kurzen wie unwiderlegbaren Titel „Ich“ hat Maier einbekannt, dass er die Literatur als Hilfsmittel schätzt, um „ein Ich sichtbar zu machen“.

Während die erzählende Stimme in „Das Zimmer“ und „Das Haus“ das Kind ist, das die unheimlichen Familiengeschichten mit unschuldigem Augenaufschlag mitbekommt, was Szenen von grotesker Komik erzeugt, führt der dritte Roman des Zyklus auch wörtlich hinaus auf „Die Straße“. Die räumlichen und zeitlichen Entwicklungslinien werden konsequent verlängert. Im Mittelpunkt steht nun der Teenager. Seine Aufklärung, die sich vor allem im Bereich des Geschlechtlichen ereignet, ist zugleich eine Aufklärung der Sprache und einer gar nicht mehr kindlichen Weltsicht, die sich in halbverstandenen Wörtern aus der „Bravo“, in Schlafzimmerblicken und „Doktorspielen“ niederschlägt. In der Erinnerung sucht der Ich-Erzähler einen eigenen Ort. Er findet ihn halbwegs zwischen seiner älteren Schwester, die mit amerikanischen Soldaten anbändelt, und dem amerikanischen Gastschüler John, einem – wie es heißt – „dicken Kuriosum“, der sich mit der Frage, warum die Leute überhaupt zu dieser oder jener Meinung kommen, gegen die Zudringlichkeiten seiner Umwelt wappnet.

Andreas Maier erzählt mit raffinierter Ironie von den, wie er sagt, „Maschinisierungsgraden der Sehnsucht“. Episch ist er an Balzac, sprachlich an Thomas Bernhard orientiert (über den er promoviert hat). So entsteht aufs neue ein antiidyllischer Heimat-Roman. Und ein verkappter Erinnerungsroman. Die Erinnerung wird erzählbar als Heimatgeschichte, die Zweifel und Selbstironie aushält. Bei Ernst Bloch, der die Kindheit als einziges Paradies anerkannte, worin „aber noch niemand war“, geht es um die Utopie vom Umbau der Welt in Heimat: „Nicht nur wir, sondern die Welt selber ist noch nicht zu Hause“. Andreas Maiers Roman lässt sozusagen die Erinnerung zuhause ankommen. Aber dieses Zuhause ist kein Glück im Winkel, sondern eine Brücke zum Anderen. Andreas Maiers epische Heimat hat offene Grenzen, räumlich und zeitlich.

Titelbild

Andreas Maier: Die Straße. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
190 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423950

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