„Marcel Reich-Ranicki – une critique littéraire populaire?“ Hinweise zu literaturwissenschaftlichen Beiträgen in der Zeitschrift „Germanica“

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass und wie sich die literatur- und sprachwissenschaftliche Zeitschrift Germanica der Université de Lille in ihrer Ende 2019 erschienen Ausgabe mit Marcel Reich-Ranicki auseinandersetzt, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Die beiden Herausgeberinnen der Ausgabe Stephanie Baumann und Bénédicte Terrisse arbeiten als Literaturwissenschaftlerinnen an Universitäten in Frankreich. Neben der Internationalität der Ausgabe mit Beiträgen in deutscher und französischer Sprache sowie einer Übersetzung von Reich-Ranickis Aufsatz Heinrich Heine, das Genie der Hassliebe ins Französiche von Bénédicte Terrisse und ihren Analysen dazu fällt ihr interdisziplinäres und interkulturelles Profil auf. Zur Vielseitigkeit der Fragestellungen und Aspekte, unter denen Reich-Ranickis Leben und Werk untersucht wird, gehört bereits der einleitende Beitrag der Herausgeberinnen mit seinen wissenschaftlichen Reflexionen zu unterschiedlichen Arten von „Popularität“, die für den Literaturkritiker kennzeichnend sind oder auch nicht und die an ihm bewundert oder auch verachtet wurden. Der Schweizer Literaturwissenschaftler Caspar Battegay, Autor eines Buches über Judentum und Popkultur, geht den Fragen in seinem Aufsatz „Ein großartiger Entertainer!“ Kritik als Unterhaltung oder Unterhaltung als Kritik bei Marcel Reich-Ranicki weiter nach. Dominique Dias (Université Grenoble Alpes) untersucht sprachanalytisch die Zusammenhänge von Wertungen und Emotionen in Reich-Ranickis Verrissen und Lobreden, Ursula Klingenböck (Universität Wien) textlinguistisch und -pragmatisch Nachrufe auf den im September 2013 gestorbenen Kritiker.

Neben einem Aufsatz von Audrey Kichelewski (Université de Strasbourg) über Reich-Ranickis Lebensgeschichte zwischen Polen und Deutschland und darüber, wie er in Polen nach seiner 1958 erfolgten Flucht in die Bundesrepublik wahrgenommen wurde, widmet sich eine Reihe von Beiträgen den Beziehungen zwischen dem Literaturkritiker und ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten: André Kischel (Universität Rostock) mit seinem Aufsatz über den Schriftsteller Arno Schmidt und Reich-Ranicki, Dorit Krusche (Deutsches Literaturarchiv Marbach) mit Recherchen über Kontoversen zwischen dem (ebenfalls vor 100 Jahren geborenen) Philosophen Hans Blumenberg und Reich-Ranicki (siehe dazu den Artikel von Patrick Bahners in der F.A.Z. vom 18.3.2020) und Stephanie Baumann mit Analysen der Streitigkeiten zwischen dem Büchner-Preis-Träger Peter Rühmkorf und Reich-Ranicki (vor allem über dessen Verriss des Romans Ein weites Feld von Günter Grass).

Bei ihren Recherchen im Deutschen Literaturarchiv Marbach hat Stephanie Baumann einige parodistische Verse Rühmkorfs gefunden, die sie ihrem (in dieser Ausgabe von literaturkritik.de erneut veröffentlichten) Beitrag voranstellt:

Ich, Marcellus Rex Zerreiski,
dico: dieses Buch ist Scheisski.
Quod est simplex demonstranski
mit zähn Fingärr seiner Handski.
[…]

Das Germanica-Heft bietet eine Fülle von Anregungen zu weiteren Forschungen über den Literaturkritiker und bezieht dabei auch die jüngere Generation von Kritikern ein, die ihm nachfolgte. In einem Gespräch, das Stephanie Baumann und Bénédicte Terrisse mit Ijoma Mangold führten, wird exemplarisch etwas von dem ambivalenten Verhältnis dieser Generation zu ihrem populären Vorgänger deutlich – und auch von dem zunehmenden Interesse der literaturwissenschaftlichen Forschung an der Literaturkritik.

T.A.

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Stephanie Baumann / Bénédicte Terrisse (Hg.): Marcel Reich-Ranicki – une critique littéraire populaire? Germanica 65/2019.
Université de Lille, Villeneuve d‘Ascq 2020.
205 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9782913857445

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