Die hohe Poetik der Trivialität des Lebens

Olga Martynova lässt in ihrem Roman „Der Engelherd“ Engel auf uns herabblicken

Von Stefan TuczekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Tuczek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn es Engel geben sollte und sie auf uns herabblicken, was würden sie wohl denken? Könnten sie unsere Taten nachvollziehen und auch gut heißen? Oder würde sich das Erblickte ihrem Verständnis entziehen? Olga Martynova gibt in ihrem neuem Roman Der Engelherd eine klare Antwort: Die Engel verstehen uns Menschen nicht wirklich, genauso verstehen umgekehrt wir Menschen sie nicht. Nur manchmal, wenn ein Engel besonders traurig wird, weil ihn das Gesehene doch berührt, dann wird aus ihm ein Mensch, der ganz verwirrt ist und sein Dasein in Trauer unter den Menschen verbringen muss.

Martynova erzählt vom alternden Schriftsteller Caspar Waidegger, der sich jeden Tag mehr bewusst wird, dass sein Leben bald enden wird. Immer wieder überlegt er, was aus seinem Besitz und seinem schriftstellerischen Nachlass werden wird; da er keine Verwandten oder eine Ehefrau hat, wird der Nachlass wohl wertlos und vernichtet werden. Er kokettiert mit der jungen Doktorandin Laura, die ihre Doktorarbeit über Waidegger schreibt. Zwar führen sie eine rein sexuelle Beziehung, in der Laura immer für Waidegger da ist, aber beide wünschen sich mehr: Er würde sie gerne heiraten, damit sie seinen Nachlass verwalten kann, aber ist sich der Lächerlichkeit dieses ,Altherren-Wunsches‘ nach einer jungen und attraktiven Witwe bewusst. Laura leidet darunter, immer nur ,auf Abruf‘ bei Waidegger sein zu können. Gerne würde sie eine vollwertige und gleichberechtigte Beziehung führen. Beide wollen mehr, reden aber nicht über ihre Gefühle beziehungsweise ihre Bedürfnisse.

Auf einer zweiten Narrationsebene erzählt die Autorin von einem Buch, das Waidegger gerade schreibt: Sein neues Buch „Zwischenfall am See“ soll ein guter Trivialroman werden, denn laut Waidegger ist nichts schwieriger, als einen guten Kitsch- und Trivialroman zu schreiben. Der Roman soll so trivial wie das Leben werden, aber schnell stellt sich heraus, dass Waidegger unbewusst über das Leben seiner Mutter S. schreibt. Diese hatte während der NS-Zeit einen Geliebten aus dem Widerstand, der sich jedoch erschoss und sie somit schwanger alleine ließ. Nur der Ermittler W., der die Umstände des Todes des Geliebten von S. untersucht, kommt hinter ihr Geheimnis. Er erpresst sie mit diesem Wissen und bringt sie dazu, ihn zu heiraten. Doch das vermeintliche Glück wird durch die Geburt des Kindes Maria getrübt: Sie ist behindert und wird von W. den Euthanasie-Ärzten übergeben. Ein Zwischenfall, der sich durch Waideggers ganzes Leben ziehen wird, denn auch er hat eine behinderte Tochter namens Maria. Und so stellt sich ihm immer wieder die Frage, ob er ein guter Vater für seine Tochter ist oder ob es wohl besser wäre, wenn sie nie geboren worden wäre. Die Schuld der Eltern, die ihr Kind ermorden ließen, und Waideggers Schuld, kein guter Vater gewesen zu sein, werden zum Stoff seines geplanten Romans.

Auf einer dritten Ebene, die Martynova mit „Journal eines Engelsüchtigen“ überschreibt, erzählt ein „Engelsüchtiger“ von Engeln, die er gefangen hat. Diese seien sowohl körper- als auch zeitlos sind und somit überall gleichzeitig. Er versucht zu beschreiben, was die Engel sehen und sagen, was aber nicht leicht ist, da sie nicht über die menschliche Sprache verfügen und die Menschen ihnen auch fremd in ihrem Verhalten sind. Die Engel kommentieren das Geschehen der zwei anderen Erzählebenen und führen die Handlungsstränge zusammen. Auf diese Weise machen sie die Wiederholungen des Lebens und besonders der Schuld deutlich.

Die drei Erzählebenen stehen nicht nur für sich, sondern sind miteinander verbunden, was wiederum dazu führt, dass die Zeitebenen von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zusammenfallen – so wie die Engel an keine Zeit gebunden sind, so sind auch die Erzählebenen an keine Zeit gebunden. Dadurch gewinnen die darin geschilderten Konflikte etwas Zeit- und Raumloses. Der Kniff, dies durch die Erzählebene der Engel zu gestalten, ist recht kreativ. Allerdings wird dadurch offensichtlich, dass die Konflikte, die Waidegger und Laura für sich ausfechten müssen, sehr allgemeingültig sind, denn sie tauchen zu jeder Zeit immer wieder auf. Damit kommt Martynova der Forderung ihrer Romanfigur Waidegger nach Trivialliteratur nach: Nichts ist trivialer – gewöhnlich – als das Leben. Die Autorin ist sich dessen bewusst, wenn sie Waidegger darüber reflektieren lässt und letztendlich selber der Forderung nachkommt. Trivial soll aber hier nicht bedeuten, dass der Roman keinen künstlerischen Anspruch hätte. Durch die Darstellung von ,gewöhnlichen‘ der Problemen – seien es Beziehungsprobleme oder die Auseinandersetzung mit dem Alter und der eigenen Sterblichkeit – erhebt sie das Alltägliche gekonnt zum Gegenstand der Literatur. Ein Hauch von Melancholie liegt über ihren Figuren; alle sehnen sich nach etwas, das sie nicht bekommen, weil sie nicht miteinander reden – entweder aus Stolz oder aus Peinlichkeit. Martynova verzichtet bewusst auf groß angelegte und konstruierte Begründungen oder auf tiefenpsychologische Gründe, die für das Scheitern der Figuren verantwortlich sind. Es sind gewöhnliche und banale Gedanken, die die Figuren davon abhalten, glücklich zu sein. Daneben zeichnet sich die Autorin durch einen trockenen Humor aus, der die Melancholie auflockert – zum Beispiel wenn Waidegger mit einem Heupferdchen über das Leben diskutiert und sich herausstellt, dass das Heupferdchen eigentlich ein Mann namens Grille ist und Waidegger in seiner eigenen Gedankenwelt versunken war.

Martynovas Roman ist in seiner Poetik des Allgemeinen recht überzeugend. Zum Schluss bleibt die Frage stehen, ob unsere Probleme, Ängste und Sorgen, aus kosmischer Sicht betrachtet, nicht doch banal und unverständlich sind.

Titelbild

Olga Martynova: Der Engelherd. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
362 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783100024329

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