Bewegung und Gesetz
In „Der Dreh von Inkarnation“ forscht Tom McCarthy zur vollkommenen Bewegung
Von Beat Mazenauer
Vor 150 Jahren entbrannte ein Streit darüber, ob ein Pferd „fliegen“ könne. Der Fotograf Eadweard Muybridge wurde mit der Klärung beauftragt. Mit einer speziellen Anordnung von Kameras gelang ihm 1872 der fotografische Nachweis, dass bei einem trabenden Pferd für Sekundenbruchteile alle vier Hufe in der Luft sind, das Pferd also „fliegt“. Wenige Jahre später perfektionierte der Physiologe und Fotopionier Etienne-Jules Marey Muybridges Technik mit einer neuen Apparatur, der „Fotoflinte“. Diese chronofotografischen Studien der beiden Fotopioniere erregten Aufsehen und nährten eine Faszination für Bewegungsmuster und -abläufe, die bald über Fotografie und Film hinauswies. Um 1910 begann die Psychologin und Ingenieurin Lilian Gilbreth mit ihrem Mann, im industriellen Umfeld Bewegungsstudien zu betreiben. Diese bilden das Kernmotiv in Tom McCarthys Roman Der Dreh von Inkarnation – im Original The Making of Incarnation. Wie bewegen wir Menschen uns zwischen Werden und Vergehen?, fragt der Autor. Welche Muster bilden wir bei unserem Tun?
Wie fast immer bei McCarthy lässt auch dieses neue Buch die Leserinnen und Leser schwindeln ob all der Drehungen und Wendungen, Motive und Themen, Trivialitäten und technischen Spitzfindigkeiten, die er sprudelnd ins Feld führt, bis wir am Schluss kaum mehr wissen, wo uns der Kopf steht. Tatsächlich ist auch Der Dreh von Inkarnation ein narrativ komplex verschachteltes, zugleich intellektuell hoch auflösendes Buch, das eine einfache Nacherzählung nur schwerlich zulässt. Vielleicht könnte sie so lauten: Es handelt von den Dreharbeiten zu einem Film mit dem Titel Inkarnation, der eine etwas krude Sciencefiction-Geschichte erzählt. Um diesen Plot effektvoll auf die Leinwand zu bringen, wird ein immenser Aufwand mit den neuesten Motion-Capture- und Render-Technologien betrieben. Mit der Recherche dazu sind Mark Phocan und Monica Dean von der Firma Pantarey beauftragt. Sie machen sich in mehreren Forschungsinstitutionen kundig und kommen im Verlauf ihrer Recherchen auch Lilian Gilbreth (1878–1972) auf die Spur, dem heimlichen Star in diesem Roman. Gilbreth besuchte einst in Oakland mit Isadora Duncan und Gertrude Stein die Schule. Im Unterschied zu diesen beiden verknüpfte sie ihr Faible für Literatur und Bewegung aber mit der aufkommenden Maschinenkultur. Sie erforschte Anfang des 20. Jahrhunderts, der Blütezeit des menschlichen Zukunftsoptimismus, die Bewegungsmuster in repetitiven Arbeitsprozessen, beispielsweise am Fließband. Indem sie den Testpersonen leuchtende Ringe um die Finger legte, erzeugten deren Bewegungen in fotografischen Langzeitbelichtungen (Cyclographen) Lichtspuren, die vor einem gerasterten schwarzen Hintergrund visualisiert wurden. Um diese Muster auch räumlich erfahrbar zu machen, übersetzte sie Gilbreth zusätzlich in 3D-Drahtmodelle im Originalmaßstab. Das Ziel all ihrer Forschungen war die optimierte Aktion, der „beste Weg“, die „vollkommene Bewegung“. Die fotografische Technik von Muybridge und Marey sowie auch deren Bildästhetik waren ihr dafür Hilfe und Vorbild.
Im Nachlass von Lilian Gilbreth entdeckt Monica Dean nebst Modellen, Fotos und Notizen eine gewichtige Leerstelle. Die Archivschachtel Nr. 808, die mit der Abkürzung T. T. in Zusammenhang steht, ist verschwunden. Wie Dean bald erfährt, fahnden mehrere Personen danach. Der Grund für dieses Interesse besteht mutmaßlich in der Nachlassnotiz „Schachtel 808 ändert alles“ sowie in einem fragmentarischen Tagebucheintrag: „Name für Kraft, die alle Dinge in Bewegung hält?“ Das weckt Fantasien über ein Perpetuum mobile, eine Weltformel …
Mit diesen teils technischen, teils kriminologischen Erzählvektoren entfaltet McCarthy seine Geschichte, die er in alle Richtungen dreht, wendet, verformt und verwirft. Mal erzählt er dabei hochauflösend präzise von Laborversuchen, etwa in der Berliner Versuchsanstalt für Wasserbau und Schiffbau. Mal theoretisiert er über „das Wesen des Werktätigen im Rhythmus seiner Maschine“ oder einfach über physikalische Bewegungsgesetze. Und immer wieder lässt er durchblicken, dass verschiedene Personen mit unterschiedlichen Absichten hinter dem Rätsel der fehlenden Archivschachtel her sind. Alle diese Aktionen und Reflexionen ändern oft abrupt ihren Fokus und schweifen gerne vom kleinsten Detail unvermittelt auf ein völlig neues Feld ab, um so schillernde motivische „Frakturnetze“ zu bilden, wie es McCarthy nennt. Dabei erschließen sich anregende Zusammenhänge, beispielsweise zwischen den alten griechischen Archonten (also hohen Beamten), dem archeion (Amtslokal), dem Archiv und den arcae (Kisten aus Akazienholz respektive Särgen). Und wer weiß schon, dass das digitale rendern eine etymologische Quelle in der Bibel (Markus 12,17) hat: „Render therefore unto Caesar the things that are Ceasars’s …“
Gerne greift McCarthy, der sich wissenschaftlich als ausgesprochen versiert erweist, auch zu Beschreibungen, die hyperdifferenziert physikalischen Jargon benutzen, was – gelinde gesagt – höchste Aufmerksamkeit und im Falle des Nichtverstehens auch einiges an Geduld erfordert. Der Faszination, die von diesem Buch ausgeht, tut das allerdings nur wenig Abbruch.
In einem Essay, der am 13. April 2023 in der Schweizer Wochenzeitung WoZ erschien, weist Tom McCarthy darauf hin, dass Motion Capture heute allgegenwärtig ist, sei es mit Leuchtdioden visualisiert, sei es mit Lasertracking und Datenanalysen errechnet. Schon Gilbreths ästhetisch anmutende Darstellungen und Objekte hätten sich als zweischneidig erwiesen, „indem sie die Arbeiter:innen ermächtigte und andererseits die Kontrolle durch die Chefs verstärkte“. Mit anderen Worten befreien optimale Bewegungsabläufe die Arbeitenden von unnötiger Mühsal, zugleich erlauben sie eine Maximierung des Profits. Immerhin war angeblich sogar Lenin von Gilbreths Analysen begeistert. Vor allem aber hat diese mit ihrer Suche nach der optimierten Bewegung unsere Gesellschaft weit über die Arbeit hinaus geprägt. „Online wie offline leben wir im Inneren eines riesigen Gilbreth-Cyclograph, in einer offenen Blackbox“, so McCarthy. Darüber lässt uns dieser Roman nachdenken. Wohin führt das massive Sammeln von Bewegungsdaten eigentlich?
Der Dreh von Inkarnation verbindet eine Filmerzählung mit Wissenschaftsgeschichte, dazu kriminologischen Elementen (allerdings ohne unnötig aufgeblasenem Thrill) und einer Gesellschaftskritik, die nie ganz auf die Ebene des allzu Manifesten aufploppt. Das Buch ist so gleichermaßen wunderbare Anregung wie intellektuelle Zumutung. Mit der notwendigen Gelassenheit aber bereitet seine Lektüre durchaus Spaß. Die Auflösung der Suche nach Schachtel 808 bietet obendrein eine schöne Überraschung. T. T. erweist sich als Abkürzung für „Tether Tennis“ (Schnurtennis oder Swingball), in dem Gilbreth und ihr Geistesverwandter, der lettische Briefpartner und Physiker Raivins Vanins, eine sublime Bewegungsvielfalt entdeckten, die sich der Optimierung entziehe, weil sie vielfältig, schön und lustvoll, vor allem aber nutzlos sei. Genau dies: Nutzlosigkeit, entwischt dem System der Optimierung. Die menschlichen Körper, so McCarthy im erwähnten Essay, geraten in einen Modus, in dem ihre Energie ihren Zweck übersteigt: Sie sind nicht produktiv – und in diesem Mangel an profitablem Output sammeln diese Körper eine grenzenlose Potenz, die sie für jeden denkbaren andern Gebrauch öffnet.
So erstaunt es nicht, dass die mysteriöse handschriftliche Notiz von Gilbreth, die immer als „amove“ auf eine Bewegung hin gelesen wurde, im Grunde „amore“ meint: die Liebe als Bewegungsmuster. So schließt sich der Kreis zurück zu Lilian Gilbreth, die Literatur studierte und zeitlebens eine große Liebe zu Dante und dessen „diritta via“ hegte: dem geraden schönen Weg.
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