Zuhause in Amorbach

In seinem Roman „Odenwald“ legt Thomas Meinecke eine diskursive Spur von Theodor W. Adorno zu Gender Trouble

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Theodor W. Adorno verbrachte die Sommerfrische gern in Amorbach im Odenwald. Schon als Junge stieg er hier mit seinen „zwei Müttern“, der leiblichen Mutter Maria und ihrer Schwester Agathe, im Hotel zur Post ab. Der Odenwald ist ein Quell für Sagen und Märchen, von den Nibelungen bis zu den Brüdern Grimm. Die Region wird bis heute vom Fürstenhaus zu Leiningen geprägt. Vor zwei Jahrhunderten förderte dieses, nicht zuletzt, um mögliche Unruhestifter loszuwerden, die Auswanderung nach Texas, wo angeblich freies Land zu vergeben war. Solchen Geschichten spürt der Erzähler Thomas in Odenwald nach, gemeinsam mit dem Figurenkollektiv Meret, Morten, Cord, Kordula, Walter und Malwida. Auch dieser inzwischen achte Roman Meineckes fächert das Themenspektrum weit auf und verarbeitet Angelesenes und Gefundenes in eine diskursive Textcollage. Drei untereinander verzahnte Erzählstränge lassen sich herauslesen.

Theodor W. Adorno war Philosoph und Kulturkritiker. Er war aber auch Autor und Musikliebhaber. Meinecke erwähnt ein Libretto aus seiner Hand, Der Schatz des Indianer-Joe, das bei Freund Benjamin wenig Zuspruch fand. Und er war ein Schüler Alban Bergs und leidenschaftlicher Komponist. Allseits bekannt ist schließlich Adornos harsche Kritik am Jazz, Meinecke zitiert ausführlich daraus in seinem Roman. Auf dieser musikalischen Fährte begegnet ihm auch ein eher unbekannter Komponist, der bei seinem Lehrmeister John Cage in Ungnade gefallen war:

Julius Eastman, African-American, out, openly gay, der den Fehler begangen hatte, Cage-Lieder in High Camp, sprich flamboyanter Form zu performen.

Mit Eastman klingt der zweite Erzählstrang in Odenwald an: Judith Butlers Gender trouble von 1990 und seine Folgen. Meinecke lotet die Motive Gay, Black, Jazz und Minimal Music in alle Richtungen aus und lässt seine Romanfigur Meret dabei auf eine hübsche Fundsache stoßen. Beim Googeln entdeckt sie einen „nicht jugendfreien Spielfilm mit dem Titel ADORN“, ein „experimentelles erotisches Spiel“, in dem die Pornodarsteller nackt beginnen und sich „während des Liebesspiels nach und nach anziehen“. Dazu setzt Meinecke ein längeres Zitat aus einem Gespräch zwischen Adorno, Benjamin, Scholem, Schönberg, das Carlo Djerassi 2008 verfasste und in dem Adorno einwendet:

That’s why there are no pornographic composers. Sexually provocative word in a musical work assume the same function as filthy pictures in an erotic text.

Das freundschaftlich miteinander verbundene Figurenkollektiv umgarnt den Denker Adorno so auch mit Fragen zu Körpercodes und Genderfluidität. Neben Eastman und seiner „ozeanischen“ Musik treten dabei der skurrile Feenfeminist Joséphin Péladan oder das role model Eleanor Rykener auf: eine „transgender woman“ aus dem 14. Jahrhundert.

Die beiden Themenstränge werden in einem dritten durch historiographische Beschreibungen des Odenwalds und des Fürstenhauses zu Leiningen ergänzt, mit speziellem Blick auf die fürstliche Auswanderungspolitik, die an Thomas Meineckes ersten Roman The Church of John F. Kennedy von 1996 anschließt. In diesem Kontext taucht auch die Figur eines Dr. Schubbert auf, der eigentlich Friedrich Strubberg hieß und unter dem Pseudonym Armand die Abenteuer- und Westernliteratur erfand, bevor Karl May dem Genre zu internationaler Resonanz verhalf.

Begleitet werden diese erzählerisch-essayistischen Stränge von selbstreflexiven Anmerkungen und Zitaten zu Meineckes eigener Produktionsästhetik, die auch diesem Buch zugrunde liegt. Etwa mit einem Zitat von Bettina Bildhauer, wonach „Meineckes Texte die Unterscheidung nicht nur zwischen männlich und weiblich, zwischen körperlichem und diskursiv konstruiertem Geschlecht aufheben, sondern die Unterscheidung zwischen Körper und Diskurs selbst“.

Hinter jedem Informations- und Theorieschnipsel lauert so eine Fülle von Verweisen und Assoziationen. Geneigte Leser:innen werden sich vielleicht fragen, was aus einer derart verwobenen Textur zu gewinnen sei. Eine packende Story ist es mit Sicherheit nicht, dazu hält Meinecke konsequent Abstand. Vielmehr sampelt und collagiert er in Odenwald mit Erkenntnislust und permanenter (Selbst-)Reflexion kulturelle Phänomene, die sich am erwähnten Themenspektrum kristallisieren. Einmal spielt der Erzähler dabei auf das leidenschaftliche Kopieren von Bouvard und Pécuchet an, an anderer Stelle zitiert er Ursula Le Guins Literarische Theorie der Tragetasche, in der alles gesammelt wird, damit es am Ende einen Roman in Form eines „kontinuierlichen Prozesses“ ergibt.

Vor allem aber kommt mit Adorno die kritische Theorie ins Spiel, die Marcus Quent als „Prozess der Auflösung“ beschrieben hat: „Das Wesen des kritischen Denkens liegt nicht im Urteil, sondern in der Unterbrechung des Urteils.“ Eine derartige Veränderung, mit der Setzungen und Positionen aufgelöst würden, sei genau das, „wo ich vielleicht jetzt gerade auch hindenken möchte“, schiebt der Erzähler Thomas nach. Ein Roman wie Odenwald arbeitet daran, indem er in Raum für unverhoffte Begegnungen schafft, ohne diese miteinander in zwingende Relation zu setzen.

Seit drei Jahrzehnten ist Thomas Meinecke seiner „Fundstück-Ästhetik“ treu geblieben. Seine Romane gleichen sich und erscheinen doch immer wieder überraschend neu variiert. Was wir aus seinen Büchern gewinnen, ist die Lust am assoziativen Zusammendenken von Phänomenen, Gegebenheiten und Sachverhalten, die immer wieder auch verblüffende Verwandtschaften offenbaren. Die beiläufige Frage Malwidas, ob Thomas eigentlich an seinem Paris-Roman sitze, „mit dem er uns schon seit Jahren in den Ohren liegt“ spielt auf ein anderes Vorbild an: Walter Benjamins PASSAGEN-WERK. Meinecke variiert es zur pop-modernen Collage.

Das Verfahren mag inzwischen etwas aus der Mode gekommen sein angesichts des Erfolgs von rasanten Krimiplots und gefälligen Storys. Handkehrum ist das internet-affine Themensampling wie immer nah am Zeitgeist, bloß dass Meinecke bei seinen Recherchen die allgegenwärtige Hektik rausnimmt und die ergoogelten und erlesenen Informationen unaufgeregt darlegt, reflektiert und sie mit kreativen Verknüpfungen versieht.

Das liest sich nicht immer einfach, schon gar nicht auf Anhieb schlüssig. Wer sich aber auf diese Struktur einlässt, nicht gleich jedes Motiv fix einordnen will, auch längere, oft englische Zitatpassagen aushält, kann mit der Lektüre lustvoll in ein Textgewebe eintauchen, das Überraschungen bereit hält und deswegen auch Vergnügen bereitet. Allein schon Adornos Kommentare zum Jazz klingen aus heutiger Optik ja zuweilen unfreiwillig komisch.

Kunst wird entkunstet (…) Nichts darf sein, was nicht ist wie das Seiende. Jazz ist die falsche Liquidation der Kunst: anstatt dass die Utopie sich verwirklichte, verschwindet sie aus dem Bilde.

Am 7. Oktober 2023, notiert Meinecke gegen Ende des Romans, „während in Israel das bestialische Pogrom der HAMAS gegen die jüdische Zivilbevölkerung tobte“, sei im Amorbach eine Erinnerungstafel an Theodor W. Adorno enthüllt worden, mit einem Zitat des Philosophen: „Amorbach, die einzige Gemeinde auf diesem fragwürdigen Planeten, an dem ich mich im Grunde noch zuhause fühle.“

Titelbild

Thomas Meinecke: Odenwald. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
440 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783518431917

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