Poetische Improvisation
Annette Pehnt tritt in „Die Umarmung des Materials“ in einen poetischen Dialog mit dem Musiker und Zeichner Harald Kimmig
Von Beat Mazenauer
Poesie ist ein Plural. Zwischen klassisch strenger Form und freier Versrede sind viele Mittel erlaubt, die einen poetischen Zugang zur Welt erlauben. Mögen solche Zugänge auch verholzt sein, wie in Annette Pehnts Gedichtband Die Umarmung des Materials. „Verholzte Zugänge“ das erste Gedicht heißt. Es setzt ganz prosaisch ein:
Müde trete ich vors Haus, schaue mich um, als sei ich noch nie
hier gewesen, binde den Schal fester um den Hals und räuspere
mich, also wollte ich etwas sagen. Aber es ist niemand zu sehen,
mit dem ich sprechen könnte.
Die Autorin lässt offen, ob die Zeilensprünge hier intendiert sind, oder ob sie einfach dem Satzspiegel gehorchen. Doch gleich darauf beginnt ihr Text in Zeilen von unterschiedlicher Länge auszufasern. Der prosaische Ton bleibt indes erhalten, die Verszeilen enden oft mit einem abschließenden Punkt. In Form wie Bildsprache spiegeln sie das kalte Klirren des Winters. Bis gegen Ende des Gedichts die Zeile „Ich rutsche ab und notiere: Geländer anfertigen“ diese Stimmung auf einmal selbstreflexiv aufbricht.
Annette Pehnts Lyrik spielt in diesem Band mit solchen Effekten. Sie kreieren eine oft eisig winterliche Atmosphäre, die unter die Haut kriecht. Die Sprache bewahrt dabei einen beschreibenden, ja fast nüchternen Ton, als ob die Zeilen in ruhiger Ordnung aneinandergereiht würden. Pehnt ruft Stimmungen hervor, hält unscheinbare Szenen fest, protokolliert kleine Verrichtungen, stellt Fragen. In diese poetische Mechanik greifen indes immer wieder Motive und Worte ein, die auf Anhieb unzugehörig wirken, fremd anmuten und neue Bedeutungsschichten zwischen die Zeilen keilen.
Im Untertitel heißt der Band „lyrik live writing mit Zeichnungen von Harald Kimmig“, weshalb ein Blick auf die Entstehungsbedingungen angeraten ist. Tatsächlich sind die Gedichte als „instant writing“ in einem Dialog mit Musik entstanden. Ein erstes Video auf YouTube zeigt Annette Pehnt im Duo mit Harald Kimmig (elektrische Violine), in einem zweiten Video entwirft die Autorin Texte im Zusammenspiel mit dem musikalischen Trio Kimmig / Studer / Zimmerlin. Beide Videos geben Einblick in einen künstlerischen Prozess, bei dem die Beteiligten improvisierend und spartenübergreifend miteinander in eine poetische Interaktion treten. Pehnt und Kimmig sind in den letzten Jahren wiederholt in diesen beiden Konstellationen aufgetreten.
Im Miteinander der live-Improvisation färben das Spielen und das Schreiben aufeinander ab. Sie nehmen wechselseitig Impulse auf und übersetzen sie in die jeweils eigene Formensprache. Der künstlerische Prozess bleibt dabei transparent und riskant. In literarischer Hinsicht widerspricht dieses improvisierende Schreiben dem poetischen Verdichten, wie er üblich ist. Vorab das Schreiben, das weniger als die Musik mit den Techniken der Improvisation vertraut ist und ausgeübt wird, bleibt dabei verletzlich, verwundbar, nicht rücknehmbar. Diese Eigenheit ist als Verfremdungseffekt auch dem vorliegenden Band einbeschrieben, selbst wenn die hier getroffene Auswahl mutmaßlich auf die Lektüre-Rezeption Rücksicht nimmt. Das Klingen, Kratzen, Knistern der Instrumente findet einen Widerhall in den Gedichten:
Alles rast durch die Blutbahnen,
kommt nicht mehr raus,
bleibt alles drin und prickelt von innen gegen die Haut.
Das Prinzip der Schichtung liegt dem improvisierten Schreiben zugrunde, es entfaltet sich Zeile um Zeile, Satz um Satz, Bild um Bild. Rhythmus und Reime entstehen spontan, aus dem Moment heraus. „Sie rennen für viele,/ sie brennen für viele.“ Auffällig ist, wie Annette Pehnt auf eine prosaische Weise die Satzzeichen setzt, mit Kommas oder Punkten am Ende der Zeilen. Auch dies ist ein Zeichen dieser Kreation Satz um Satz. „Vor allem niemals zurückschauen, / forever verlaufen, / kannst du nicht mehr zählen?“ Nur selten nehmen Zeilen innerhalb eines Gedichts Verbindungen mit Zeilen auf, die auf der Zeitachse länger zurückliegen.
Es sind solche Effekte, die an dieser geschichteten live-Lyrik speziell anmuten. Gleichwohl kommen einzelne Leitmotive dabei mehrfach zum Vorschein: die „Halterungen“ etwa oder das Zerbröselnde des Alltags – das beides miteinander zusammenhängt. Sie hinterlassen den Eindruck, dass hier, bei aller Disparität, doch eine Dichtung vorliegt, die über die zufällige Setzung hinweg eine persönliche Handschrift und Haltung verrät. Die filigran gepunkteten und gestrichelten Zeichnungen von Harald Kimmig, die die Gedichte in Die Umarmung des Materials begleiten, unterstreichen diesen künstlerischen Prozess aus dem Geist der Improvisation und der spontanen Eingebung.
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