Eine Gefahr für die Literaturgeschichte

In Anthony McCartens Roman „Jack“ steht das Beatnik-Idol Jack Kerouac vor der letzten Herausforderung seines Lebens

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Von Jack Kerouac lernte ich schreiben. Seine Engel und Dämonen waren meine eigenen“, hat der 1961 in New Plymouth/Neuseeland geborene Romancier, Theater- und Drehbuchautor Anthony McCarten bekannt. Nun hat er – nachdem in seinem letzten Roman Leben und Werk einer anderen amerikanischen Legende, des Erfinders Thomas Alva Edison, im Mittelpunkt standen – ein Buch über sein Idol geschrieben. Es ist, wie man das von McCarten nicht anders erwarten durfte, keine Romanbiographie geworden, sondern ein Nicht-Fiktives und Fiktives elegant verbindender, unterhaltsamer und mit überraschenden Wendungen nicht geizender Roman über einen Künstler und seine vielen Masken.

Das Buch nimmt seine Leser mit in das Jahr 1968. Es ist Jack Kerouacs vorletztes Lebensjahr – am 21. Oktober 1969 wird der Schriftsteller im Alter von 47 Jahren sterben. Kerouac, der mit seinem Roman On the Road (1957) zum wichtigsten Vertreter der sogenannten „Beat Generation“ und später – nachdem ihn Kritik und bürgerliches Publikum zu seinen Lebzeiten durchgehend abgelehnt hatten – zu einem Klassiker der modernen amerikanischen Literatur wurde, lebt mit seiner Mutter und seiner dritten Frau Stella abgeschieden in Saint Petersburg/Florida.

Von dem Mann, dem einst die Teenager in Massen nachliefen, weil er mit seinen Romanen wie kein Zweiter das Lebensgefühl einer ganzen Generation zum Ausdruck brachte, ist nicht mehr viel übrig. Alkohol, Selbstzweifel und wachsende Schuldgefühle den Menschen gegenüber, denen er seine Karriere verdankte, sind dabei, ihn langsam zugrundezurichten. Da erscheint eines Tages die Literaturstudentin Janet Weintraub an seiner Tür. Sie hat die feste Absicht, die erste Biografie des Kultautors zu verfassen. Und sie ist gut vorbereitet von Berkeley aus zu ihrer Mission aufgebrochen, so dass sie das Bild, welches sich ihr in Saint Petersburg bietet, nicht abzuschrecken vermag.

Jack ist aus der Perspektive dieser jungen und enthusiastischen Frau geschrieben, die mit ihrer Unbefangenheit und Frische nicht nur den Leser mitreißt, sondern auch den verschlossenen, alkohol-, drogen- und todessüchtigen sowie zu unvermittelten Wutausbrüchen neigenden Schriftsteller allmählich davon überzeugt, die Beschreibung seines Lebens in ihre Hände zu geben. Dass beide – sowohl die Figur des Jack Kerouac im Roman als auch der Leser, der der Ich-Erzählerin ohne Arg und Misstrauen in ihre Geschichte hinein folgt – von Janet hinterlistig getäuscht werden, macht den Clou am Ende des ersten Buchteils aus.

Da übertreibt es die eifrige Möchtegern-Biografin nämlich zum Ärger ihrer Gastgeber, indem sie einen Kirchenbesuch der drei Kerouacs nutzt, um derem Haus einen unerlaubten Besuch abzustatten. Sie ist auf der Suche nach dem legendären Briefarchiv des Schriftstellers, von dem Jack Kerouacs Mitstreiter Allen Ginsberg einst behauptete, in ihm würde sich, akribisch geordnet, alles finden, was man über die Epoche und Kerouacs Rolle in ihr nur zu wissen begehre. Als Janet beim Durchstöbern seiner privaten Dokumente von Jack entdeckt und zur Rede gestellt wird, schließlich gar von der Familie des Hauses verwiesen werden soll, flüchtet sie sich in die Behauptung, die Tochter des Schriftstellers aus seiner zweiten, kurzen Ehe mit der Schriftstellerin Joan Haverty zu sein. Das Briefarchiv habe sie lediglich nach Beweisen dafür durchsucht, dass der Autor, der sich nach der Scheidung geweigert hatte, zu seiner Vaterschaft zu stehen, sich dieser Tatsache trotzdem sehr wohl bewusst war.

Von da an gehört sie dazu, ja, der verbitterte Mann entdeckt, jetzt da er Vater einer schon erwachsenen Tochter geworden zu sein scheint, sich nicht mehr mit Windeln, fehlendem Nachtschlaf und pubertären Allüren herumquälen muss, sondern den fertigen Menschen sozusagen frei Haus geliefert bekommen hat, plötzlich Seiten an sich, die ihn den Plan, sein „Ich“ aus der Welt zu schaffen, noch einmal überdenken lassen.

Allein die Situation ist nicht von Dauer. Denn da gibt es noch Petey, den Sohn von Kerouacs verstorbener älterer Schwester, zu dem der Schriftsteller über die Jahre eine Art Vater-Sohn-Verhältnis entwickelt hat. Dass dem eine aus dem Nichts aufgetauchte Cousine, die von einem Tag auf den anderen nicht nur sein Zimmer im Haus des Schriftstellers, sondern auch  seinen angestammten Platz in der Familie okkupiert hat, ein Dorn im Auge ist, ist voraussehbar. Nicht zu erwarten ist freilich für den Leser die Wendung, die Anthony McCartens Roman nimmt, nachdem der auf einen einmonatigen Heimaturlaub aus Vietnam zurückgekehrte Petey Nachforschungen über das neue Familienmitglied anstellt. Denn plötzlich steht Janet Weintraub wieder ganz allein da und stellt in den Augen anderer tatsächlich jene „Gefahr für die Literaturgeschichte“ dar, von der das Buch an einer Stelle spricht.

Jack ist ein Roman über die vielen Gesichter eines Künstlers und die Tragik, die daraus entstehen kann, dass er über den Identitäten, mit denen er in seinen Büchern spielt, das eigene Ich verliert. Hat Kerouac in dem Roman, der seinen Ruf begründete, auf das Leben des als Outsider zu dem Schriftstellerkreis um ihn, Allen Ginsberg, William Burroughs, Lucien Carr und andere an der New Yorker Columbia Universität gestoßenen Neal Cassidy zurückgegriffen, ihn selbst und seinen so hypnotisierenden wie teilweise unverständlichen Redeschwall in der Figur des Dean Moriarty und dem treibenden Stil von On the road  verewigt, so tut Janet Weintraub/Haverty eigentlich nichts anderes, wenn sie sich dem „Meister der Verstellung“ – ebenfalls getarnt als eine andere – nähert. Für ihren Professor, der sie am Ende des Romans dazu überreden will, die mit Kerouac geführten Tonbandinterviews für die Allgemeinheit freizugeben, hat sie für diese Verhaltensweise auch eine Begründung auf Lager: „Schau dich doch um. Wir haben 1969. Überall legen die Leute sich gerade eine neue Persönlichkeit zu. Eine ganze Kultur macht das.“

Dass Jack Kerouac und die anderen Autoren der Beat Generation für die damit gemeinte Aufbruchsstimmung unter den amerikanischen Jugendlichen am Ende des so sinnlosen wie verlustreichen Vietnamkrieges und mitten in der harmoniesüchtig-drogenbefeuerten Flower-Power-Bewegungs-Zeit mit ihren Gedichten, Romanen und nicht zuletzt ihrem ungebundenen, öffentlich zelebrierten und vielfach nachgeahmten Lebensstil mitverantwortlich waren für das Entstehen einer amerikanischen Gegenöffentlichkeit, steht außer Frage. Und wenn Anthony McCartens Heldin am Ende dieses kleinen Romans selbst der Beerdigung des verehrten Schriftstellers nur aus der Ferne beiwohnen darf, setzt sie auch ganz klar die Tragik seines Lebens in Beziehung zur Tragik einer Gesellschaft, der er ein anderes Ideal zu vermitteln suchte: „Warum soll nicht ich das sein, die eine Geschichte über einen Mann schreibt, der auseinanderfällt in einer Gesellschaft, die auseinanderfällt, und warum soll ich nicht auch die Namen der Opfer solcher Spiele nennen?“

Was Janet im Buch freilich verwehrt bleibt, macht ihre geschickt erfundene Geschichte für den Leser von Jack dennoch deutlich: Literatur ist immer ein Wagnis, auch für den Schreibenden, der Gefahr läuft, sich in seinen Figuren zu verlieren. Und doch hat die damit verbundene Tragik auch eine andere Seite, die nämlich, dass unsere Welt ärmer wäre an Kunstwerken, wenn deren Schöpfer immer die gebotene Rücksicht genommen hätten.

Titelbild

Anthony McCarten: Jack. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié.
Diogenes Verlag, Zürich 2018.
255 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783257068566

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