Mehr als nur ein Stereotyp

Zum religiösen Gefühlswissen in der deutschsprachigen Literatur seit dem 18. Jahrhundert

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Das Gefühlswissen und die Ressentiments gegenüber dem moralisch Anderen

Wenn man die Affektivität des literarischen Antisemitismus analysieren möchte, darf man sich nicht nur auf antijüdische „Motive“, „Judenbilder“ oder „Stereotype“ in Texten kaprizieren. Aus emotionswissenschaftlicher Sicht greift man so zu kurz, wenn man die subversive Affektmobilisierung durch Literatur in angemessener Weise verstehen lernen will. Sind es doch mitunter äußerst komplexe Erzählverfahren, mit denen judenfeindliche Gefühle nahelegt werden können. Wenn der literarische Antisemitismus nicht als ‚Antisemitismus in der Literatur‘ missverstanden werden soll, der also durch das bloße Weglassen bestimmter Klischees leicht wieder zum Verschwinden gebracht werden könnte, muss man die einschlägigen Texte genauer als Ensemble untersuchen. Dann bemerkt man schnell, dass ihre Emotionalisierungsstrategien tatsächlich wesentlich komplexer funktionieren. Können doch dabei z.B. auch alle möglichen ‚verborgenen‘, also impliziten, intertextuellen, erzählperspektivischen und damit zugleich originär literarischen Darstellungsweisen im spezifischen Medium poetischer Texte in ihrem Zusammenspiel ein antisemitisches Wirkungspotenzial erst richtig entfalten.

Wichtig ist hier die Einsicht des Historikers Uffa Jensen, dass es beim Verständnis des Phänomens des Antisemitismus um mehr als bloße Stereotype geht. Jensen erinnert daran, dass menschliche Emotionen Resultat eines erlernten Gefühlswissens sind, welches auf einer Verknüpfung seit der frühen Kindheit erworbener kognitiver und emotionaler Bewertungsmechanismen beruht. Diese Bewertungen richten sich gerne anhand von Affekten wie Groll, Häme, Ekel und Ressentiments auf konstruierte Fremdgruppen, die Jensen als die „moralisch Anderen“ in die Debatte über negative Gefühle einführt. Was alle diese Gruppen eine, existiere allerdings nur „aus der Perspektive der ressentimentgeladenen Menschen“, wie es Jensen formuliert. Die Anderen verstießen nur aus der Sicht der Hassenden gegen „die moralische Ordnung der Gesellschaft“, indem sie „amoralisch handeln oder eine andere moralische Ordnung propagieren“[1]: In der Forschung nur von Vorurteilen oder Stereotypen zu reden, schreibt Jensen, verfehle „ganz grundsätzlich den wirklichkeitsverzerrenden Charakter dieser spezifischen Mischungen eines Gefühls-Wissens“.[2]

Ein Stereotyp steht also auch in einem literarischen Text zur Aufrufung eines solchen Emotionswissens von einem ‚moralisch Anderen‘ nie allein, sondern ist in der Regel mit historisch vielfach erprobten und teils uralten affektiven Skripten oder narrativen Mustern verknüpft, die in der Rezeption sehr oft mit weit verbreiteten Legenden oder auch religiösen Überlieferungen verbunden werden können, was die emotionalen Effekte eines Textes wiederum bedeutend zu erhöhen vermag. Dabei muss es sich im Bereich des Religiösen nicht einmal um rein biblische Motive handeln. Vielmehr reaktivierte die Romantik im frühen 19. Jahrhundert alle möglichen phantastischen, mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Legenden aus der Geschichte der christlichen Judenverfolgung. Dazu zählten etwa Ritualmordlegenden,[3] der Vorwurf der Brunnenvergiftung,[4] die biblische Geschichte des Verrats durch Judas[5] und der Ahasver-Mythos bzw. die Legende vom „Ewigen Juden“.[6] Diese Narrative wurden gewiss nicht immer unbedingt gezielt aus politischen Gründen aufgegriffen, sondern können auch aufgrund ästhetischer und poetologischer Pläne wie der Erzeugung des Unheimlichen oder Grotesken adaptiert worden sein. Dies schloss aber selbst im – heute nachträglich meist gar nicht mehr belegbaren – Fall, dass gar keine antisemitische Botschaft intendiert war, in der Rezeption keineswegs eine Verselbständigung der möglichen politischen Lesarten derartiger Geschichten aus. Bereits ab dem späten 18. Jahrhundert begannen solche althergebrachten Erzählmuster aus dem Kontext des christlichen Antijudaismus in fortgeschriebener Form in das Repertoire des nationalen bzw. völkischen Diskursen angepassten modernen literarischen Antisemitismus einzugehen.

Mehr noch: Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, werden diese im kommunikativen Gedächtnis und im gesellschaftlichen Gefühlswissen weiterhin lebendigen Schauergeschichten sogar auch noch in der Gegenwartsliteratur als Skripte weiterverwendet bzw. erleben gerade in der Sphäre der Sozialen Medien und der Publizistik des Post-Holocaust-Antisemitismus eine veritable Renaissance – Stichwort Verschwörungsmythen. Mit Nicola Gess’ aktuellem Essay über Halbwahrheiten könnte man argumentieren, dass diesen Narrativen jenseits jeder Realität bei ihrem geneigten Publikum eine leicht abrufbare „anekdotische Evidenz“ zukommt.[7] Damit ist so etwas wie eine seit Jahrhunderten gepflegte gefühlsgenerierte Wahrscheinlichkeit des religiösen Hörensagens gemeint, anhand derer sich die Sozialdimension kommunizierten Wissens auf Kosten seiner Sachdimension verselbständigt, wie es der von Gess zitierte Erzähltheoretiker Albrecht Koschorke formuliert hat.[8] Selbst phantastische Geschichten können auf dieser kollektiv konstruierten Rezeptionsgrundlage als glaubwürdig, affektiv anschlussfähig und gemeinschaftsbildend empfunden werden – und zwar nicht etwa, weil sie wahr sind, sondern weil sie die geteilte Weltsicht der Rezipient*innen bestätigen.

Doing Emotions: Hierarchien der Fremdheit in Achim von Arnims „Isabella von Ägypten“

Als prominenter Fall aus der Romantik soll hier zunächst kurz Achim von Arnims 1812 erschienene Erzählung Isabella von Ägypten dienen, deren antisemitische und antiziganistische Fremdheitsbilder in ihrer frappierenden Amalgamierung lange kaum je angemessen beleuchtet, in den letzten Jahren aber zumindest mehrfach kritisch analysiert wurden. Bei Arnim kommt es in exemplarischer Weise zu einer auffallenden Verschränkung von Stereotypen des christlichen Antijudaismus mit solchen des entstehenden modernen Antisemitismus. In ihrer Überblendung von klassischen antijudaistischen und antiziganistischen Stereotypen, die massiv mit religionsgeschichtlichen Pathosszenen eines moralisch Anderen im Sinne Jensens operiert, ist Isabella von Ägypten aber ohne die Heranziehung emotionswissenschaftlichen Instrumentariums kaum angemessen auszudeuten. 

Der Text spielt im 16. Jahrhundert in und um Gent. Er handelt von der ,schönen Zigeunerin‘ Isabella, genannt Bella, deren Vater, der Herzog Michael, unschuldig als Dieb gehenkt wird – eine Szene, die gleich zu Beginn der Geschichte an die Kreuzigung Jesu erinnert.[9] Die Fremdartigkeit der anschließenden Begräbniszeremonie macht deren Sakralisierung aber zugleich zu einer dunkel und verloren anmutenden Verkehrung der christlichen Heilsgeschichte, zumal Vater Michael seiner Tochter Bella danach nur noch im Traum erscheint und nicht wie Jesus wieder aufersteht. Religiöse Szenarien dienen hier vor allem der Exklusion konstruierter Fremdheitsbilder: Sie sollen wiedererkannt werden und in ihrer unheimlichen Verzerrung einen reinigenden Reflexionsprozess über das angebliche homogene Wesen des Eigenen und die notwendige Exklusion alles störenden Fremden in Gang setzen.

Wenn man die damit angepeilte zeitgenössische Rezeption von Arnims Isabella in unsere heutige Sprache und in das aktuelle popkulturelle Gedächtnis übersetzen möchte, argumentiert die Novelle bereits mit der ‚Zigeuner‘-Begräbnisszene zu Beginn frei nach dem Motto: „Das ist doch eigentlich unsere Religion, aber in dieser pervertierten Form vom Friedhof der Kuscheltiere wollen wir sie hier nicht, sie soll aus ‚unserem Land‘ und ‚unserem Volk‘ verschwinden, damit wir nicht selbst zu Zombies werden.“

Die Liste entsprechender Textbelege ließe sich fortsetzen. Wie der Erzähler am Ende der Novelle angesichts eines ägyptischen Totengerichts über Bella apodiktisch anmerkt, gehöre dieses denn auch wirklich „nicht in unsere europäische Welt“.[10] Zugleich besiegelt Bellas früher Tod am Ende der Geschichte, dass es, so Claudia Bregers lakonische Schlussfolgerung, „die Bestimmung der ortlosen ‚Zigeuner‘ ist, ihren Ort auf der Erde zu verlieren und unter dieselbe zu verschwinden“.[11]

Zu wenig betont wurde in der deutschsprachigen Forschung bislang, dass Isabella im Text unter der Hand auch zu einer ,schönen Jüdin‘ wird, die sich mit den falschen ‚judaisierten‘ Betrüger*innen einlässt und in ihrem sonderbaren Somnambulismus von Anbeginn eine verschattete Geister- und Totenwelt symbolisiert. An Arnims emotivem Szenario fällt jedenfalls auf, dass die Leserinnen und Leser offenbar eine gewisse Erleichterung darüber empfinden sollen, dass auch dieses angedeutete Jüdische in Bella am Ende six feet under landet und so aus der deutschen Realität der hier entworfenen Textwelt verschwindet.

Isabella verliebt sich bei Arnim zunächst aufgrund der strategischen Kuppelei der hexenartigen Braka[12] in jenen Prinzen, der später zum historischen Karl V. (1500-1558) gekrönt werden soll und erschafft anhand der Instruktionen unheimlicher Zauberbücher aus dem Nachlass ihres Vaters ein Mandragora-Wurzelmännchen, den „Allraun“, wie Arnim ihn schreibt, ein hässliches und bösartiges Mini-Monster, mit dessen Hilfe es möglich ist, vergessene Schätze zu heben und viel Geld zu machen, das jedoch bald auch anmaßende Ansprüche auf die Heirat Bellas erhebt.[13] Wie auch eine Reihe weiterer Figuren im Umkreis der Protagonistin wird der Alraun zwar nicht explizit als jüdisch bezeichnet, aber mit ‚judaisierenden‘ Kennzeichen geradezu überhäuft, um mittels des so im Publikum abgerufenen stereotypen Wissens besondere Empörung zu triggern und die Fassungslosigkeit über Bellas Naivität zu steigern, sich freiwillig und gutgläubig einem solchen Dämon auszuliefern.

Bellas Liebe zu Karl endet indes unglücklich, da dieser mit Hilfe eines Rabbiners einen Golem Bella schafft, der seiner Geliebten zum Verwechseln ähnlich sieht, damit der Alraun diese aus Lehm gebildete Kopie heiraten und Prinz Karl die originale Isabella nicht streitig machen kann. Karl fällt jedoch prompt auf den eigens geschaffenen Trug herein und beginnt eine sexuelle Beziehung mit Golem Bella. Damit verliert er das Vertrauen und die Liebe der echten Bella, die schließlich ihr eigenes Volk wie eine messianische Anführerin zurück nach Ägypten führt, um dort frühzeitig zu versterben.[14]

Diese religiösen Stereotypen, die sich in dieser Novelle zu schauerliterarischen Emotionalisierungsskripten verdichten, fallen durch eine Fortschreibung des Ahasver-Mythos auf, der zunächst im Blick auf die „moralisch Anderen“ der Sinti und Roma wiederbelebt wird. Bei Arnim sind es Isabellas Landsleute, welche Joseph und die heilige Mutter Gottes Maria auf ihrer Flucht nach Ägypten mit deren Jesuskind verstoßen und sich so einem Fluch ausgesetzt haben sollen.[15] Nicht also ‚wie die Zigeuner‘, wie die alte rassistische deutsche Redensart über unordentliche Zeitgenossen lautet, sondern ‚wie die Ewigen Juden‘ sei die Hälfte der Angehörigen des Rom-Volks bei Arnim in Reue soweit in Europa umhergezogen, „als sie Christen fänden“.[16] Arnims ,Zigeuner‘ sind in später Einsicht zum Christentum konvertiert und können schließlich als bußfertige Sünder mit Bellas Hilfe in ihr gelobtes Land Ägypten zurückkehren. Während die antiziganistischen Stereotypen bei Arnim jedoch mit diesen ambivalenten Zeichen eines durch Buße und Konversion noch rettbaren, weil so nach Ägypten zurückzuführenden Volks der ‚Zigeuner‘ versetzt werden, ist Isabella von Ägypten zugleich ein explizit antisemitischer Text, in dem die krypto-jüdischen Nebenfiguren, deren Machenschaften ständig auf Isabellas und Karls Identitäten und Handlungen abzufärben drohen, auf alle nur erdenkliche Weise dämonisiert, ridikülisiert und perhorresziert werden.

Arnims Isabella von Ägypten kann demnach mit der heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Beobachtung früher Antisemitismustheorien vor 1945 gedeutet werden, dass insbesondere der christliche Antijudaismus als Emotionalisierungsfaktor auch über die Epochenschwelle um 1800 hinaus fortlebte und sich mit dem modernen Judenhass effektvoll verband. Hans-Joachim Hahn findet diese Erkenntnis früher Antisemitismus-Analysen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einem soeben erschienenen Beitrag mehrfach wieder. So u.a. in Aurel Kolnais phänomenologischem Essay „Versuch über den Haß“ aus dem Jahr 1935: „Wenn man bedenkt“, so Kolnai, dass „wohl kein Haß jemals glühender und weltbewegender war als der Religionshaß, so wird man die Vermutung nicht allzu absonderlich finden, daß jeder echte Haß einen Splitter von Religionshaß in sich birgt.“[17]

Mit Elystan Griffiths und Martin Wagner wiederum ließe sich Arnims erzieherischer Text zugleich als ein Beispiel für ein „Genre of Obedience“ verstehen, gründend in der spezifischen deutschen Aufklärungsgeschichte des 18. Jahrhunderts, in der Denker wie Immanuel Kant nicht nur die individuelle Freiheit der Menschen betonten, sondern vielmehr immer noch nach Kompromissen zwischen der überkommenen Herrschaft und dem Reformdruck im Umkreis der Französischen Revolution von 1789 suchten.[18] Griffiths’ und Wagners These zur Wertevermittlung durch literarische Genres ließe sich im Blick auf Isabella von Ägypten mit dem Doing Emotions der romantischen Gothic-Literatur im frühen 19. Jahrhundert verbinden, wie es sich bei Arnim entfaltet: Literatur produziere Bedeutung durch bestimmte Formen und Normen, wobei insbesondere die Funktion des Genres für die aufklärerische Vermittlung zwischen Gehorsam und Agency, also einer individuellen Emanzipation, zentral gewesen sei.[19]

Bei Arnim jedoch kippt jedweder aufklärerische Impetus in der kolportagehaften Aufrufung gleich mehrerer antijüdischer Schauergeschichten wieder um in eine reaktionäre Klage über das Scheitern der alten feudalen Einheit im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, ausgelöst durch verborgene jüdische Machenschaften. Mit dieser Horrorgeschichte appelliert die Novelle an das antisemitische Einfühlungsvermögen und den Gehorsam des Publikums, auf dass dieses fortan sicherstelle, auf keinen Fall den Verlockungen der schwarzen Magie, des unlauteren Gelderwerbs oder gar der sexuellen Attraktivität des jüdischen Anderen zu erliegen, wolle man nicht einsam und verbittert scheitern wie Karl V. und obendrein das Schicksal einer deutschen Einigung zur Nation besiegeln. 

Arnims Text kann damit als literarisches Beispiel für das Fortwirken eines zutiefst ambivalenten antisemitischen Gefühlswissens gelten, das frühe Antisemitismustheorien im 20. Jahrhundert ins Auge fassten, welches jedoch nach 1945 aufgrund anderer geschichtswissenschaftlicher Paradigmen der Untersuchung der Gründe für die Shoah zusehends wieder in Vergessenheit geriet.[20] 

„Anti-Judaismus“ als Emotionalisierungsfaktor in Konflikten zwischen den christlichen Konfessionen

Genauer zu betrachten bliebe dabei zunächst, inwiefern der fundamentalistische Protestant Achim von Arnim seinen Karl V. als Katholiken an seiner Liebe zu der durch akute ‚Judaisierung‘ bedrohten ‚Zigeunerin‘ Bella scheitern lässt. Im späteren 19. Jahrhundert und darüber hinaus sollte das Schisma der christlichen Konfessionen jedenfalls zu einem wesentlichen Emotionalisierungsfaktor im literarischen Antisemitismus avancieren.

Anhand von David Nirenbergs 2015 erschienener Studie Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens kann man hier auch literaturgeschichtlich zeigen, wie der Konflikt christlicher Konfessionen untereinander seit der Reformation gewissermaßen über Bande, und zwar vollkommen unabhängig vom realen Judentum, vor allem darüber ausgetragen wurde, die andere Seite als ‚judaisiert‘ bzw., so etwa Martin Luthers Urteil über die katholische Kirche, als ‚jüdischer‘ als die Juden zu denunzieren.[21]

Der Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift, Johann Erich Biester, schrieb z.B. 1784 unter Pseudonym in einem dort veröffentlichten Aufsatz, dass „man mit Sicherheit eher Juden und Mohammedanern und Naturalisten unsere Kirchen zum Gebrauch bei ihren Religionsübungen einräumen könne, als den Katholiken“ – eine frappierende Polemik, an der auffällt, dass sie sich wie eine implizite Fortsetzung von Luthers antikatholischer Attacke lesen lässt. Es wäre, so die gegenüber Moslems und Juden gewiss nicht als tolerant falsch zu verstehende Botschaft, sogar noch absurder, die Katholiken ins eigene Gotteshaus zu lassen, als diese Fremden.[22]

Umgekehrt zögerte die katholische Kirche genauso wenig, auch Martin Luther und seine Anhänger als ,Juden‘ anzugreifen.[23] August Rohling, Professor für katholische Theologie in Prag und Verfasser des antisemitischen Pamphlets Der Talmudjude, versammelte etwa im Jahr 1875 eine Reihe von antisemitischen Stereotypen gegen die evangelische Kirche: „Wohin der Protestantismus seinen Fuß setzt, verdorrt das Gras, geistige Leere, Verwilderung der Sitte, schauerliche Trostlosigkeit der Herzen sind seine Früchte; ein Protestant, der nach Luthers Recepten lebt, ist ein Ungeheuer, Vandalismus und Protestantismus sind identische Begriffe.“[24]

Rohling, der 1871 die Ehrendoktorwürde der Theologisch-Philosophischen Königlichen Akademie Münster erhalten hatte und dort für vier Jahre außerordentlicher Professor für Exegese war, bevor er nach einem kurzen Intermezzo in Amerika einem Ruf nach Prag folgte, ist hier überhaupt ein passendes BeispielDer Talmudjude erschien im selben Jahr, heute genau vor 150 Jahren. Rohling bezieht darin sein gesamtes angebliches wissenschaftlich fundiertes Spezialwissen über den jüdischen Gesetzeskommentar des Talmud aus Johann Andreas Eisenmengers theologischem Machwerk Entdecktes Judenthum (1700). Eisenmengers christlich-theologischer Einfluss auf den sich modernisierenden Antisemitismus des späten 19. Jahrhunderts war noch 170 Jahre nach Fertigstellung von Entdecktes Judenthum groß. Der Gelehrte konnte Hebräisch, Aramäisch und Arabisch und kannte sich im Unterschied zu Rohling, der offenbar nur Latein zu lesen vermochte, tatsächlich gut mit den jüdischen Quellen aus, um daraus allerdings eine monumentale, ahistorisch kompilierte, tendenziöse Studie gegen das Judentum zu fabrizieren. Dass Rohling eifrig darauf zurückgriff, um mit einem antisemitischen Plagiat Eisenmegers im Talmudjuden eine zumindest zeitweise erfolgreiche internationale Karriere in der katholischen Theologie voranzutreiben, war 1871 keineswegs neu. Auch Achim von Arnim war zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereits ein großer Bewunderer Eisenmengers gewesen. Er hatte dessen Opus Magnum als Steinbruch für seine judenfeindlichen Reden und Erzählungen intensiv genutzt und in seiner antisemitischen Satire Ueber die Kennzeichen des Judenthums (1811) auch explizit empfohlen. Es war ein primär antijüdisch-religiöses Gefühlswissen, das bei Antisemiten wie Rohling u.a. eben auch dazu aktiviert wurde, innerchristliche Auseinandersetzungen zu rahmen und einer breiten Öffentlichkeit unmittelbar anschlussfähig erscheinen zu lassen bzw. diese mit heftigen Affekten zu koppeln.

Kurze Literaturgeschichte antijudaistischen Gefühlswissens bis zur Gegenwart 

Thetisch ließe sich von hier aus eine Literaturgeschichte religiösen Gefühlswissens im literarischen Antisemitismus entwickeln, die sich in unterschiedlichen Ausformungen in einer Reihe kanonischer Texte bis in die Gegenwart fortsetzt. In der Literatur des frühen 19. Jahrhunderts wäre da etwa u.a. auch der protestantische Rigorismus gegen die ,schöne Jüdin‘ Lea in Wilhelm Hauffs Novelle Jud Süß (1827) zu nennen, der trotz vieler emotionaler Ambivalenzen in deren Liebesgeschichte mit dem Protagonisten Gustav Lanbek am Ende in sein Recht gesetzt wird: Ähnlich wie Isabella für Karl V. bedeutet auch Gustavs Liebe zu Lea letztendlich dessen Unglück, wobei dieses u.a. durch die korrupte Allianz von Katholizismus und Judentum symbolisiert wird, in Gestalt des Hofjuden Jud Süß und des Württemberger Herrschers, der mit dessen ominöser finanzieller Unterstützung plant, sein protestantisches Land katholisch zu machen. Am Ende muss Gustav Lanbek erkennen, dass das, was andere antikatholische Patrioten in Württemberg in der Novelle von Anfang an behaupteten, wahr ist – dass seine Liebe zu der Jüdin Lea eben keine reine Privatsache war, sondern inmitten „der als antagonistisch vorgestellten Konflikte“ eine gesellschaftliche Bedeutung besaß, die seine Beziehung für ihn von vorneherein hätte unmöglich machen müssen.[25]

Im bürgerlichen Realismus taucht der Protestantismus später mehr oder weniger explizit als Hort des deutschen Arbeitsethos der Selbstbescheidung und des Fleißes bzw. als anti-intellektuelle Richtschnur gegen jüdische Korruption und Rabulistik auf, so in Gustav Freytags Soll und Haben (1855) und vor allem auch in Wilhelm Raabes Hungerpastor (1863). Im 20. Jahrhundert fällt in diesem Kontext auf, dass z.B. Thomas Mann das Religionsmotiv mit seiner jüdischen Konvertitenfigur Naphta im Zauberberg (1924) insofern wieder aufgreift, als dieser als Verteidiger der katholischen Inquisition und als absoluter Reaktionär zur Negativfigur wird. Wie so oft ist ,der Jude‘ hier ein Chamäleon. Er fällt durch eine Übererfüllung seines religiösen Konversions-Opportunismus auf, der so weit geht, dass die Figur anti-aufklärerische, totalitäre, ja faschistische Ideologien vertritt. In dieser Überanpassung an reaktionäre Ideologien der Zeit ließe sich eine bereits auf frühe Gothic Novels wie Matthew Lewis’ Schauerroman The Monk (1796) zurückgehende Co-Dämonisierung des Katholizismus als absolutes Böses erkennen, die bei Thomas Mann allerdings nicht mit zusätzlichen Ahasver-Schauergeschichten flankiert wird wie bei Lewis.

Sehr wohl findet sich dieses emotionalisierende Narrativ allerdings in Martin Walsers Roman Tod eines Kritikers (2002) wieder. Dort taucht die nach allen Regeln des Schlüsselromans und des literarischen Antisemitismus gestaltete Karikatur des Kritikers Marcel Reich-Ranicki, genannt André Ehrl-König, nach ihrer angenommenen Ermordung wie ein jüdischer deus ex machina am Ende wieder auf, noch dazu in einer Begräbnisszene bei Unwetter, mit einem unheimlichen schwarzen Hut auf dem Kopf.[26] Walsers Hass auf den Literaturkriker und Shoah-Überlebenden Reich-Ranicki findet hier abermals Ausdruck in der Andeutung altbekannter Phantasmen des untot um die Welt wankenden „Ewigen Juden“,[27] eines Totengräbers der Literatur, der aufgrund seiner Verfluchung durch Jesus Christus nicht sterben kann bzw., wie Mona Körte schreibt, seine „Restvitalität aus dem Tod der Anderen zu beziehen scheint“.[28]

Abermals unterschiedlich funktioniert ein letztes Beispiel aus der Gegenwartsliteratur, das zumindest erstaunliche Ähnlichkeiten mit der Utopie von Isabellas Messianismus in Arnims Text erkennen lässt. In Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) gibt es einen Person-of-Color-Protagonisten, der ähnlich gegen das jüdische Böse zu kämpfen hat wie Isabella, bei Kracht in Gestalt des verschwörerischen Konter-Revolutionärs Brazhinsky.[29] Auch der afrikanische Messias bei Kracht kehrt wie Isabella am Ende zurück auf seinen Ursprungskontinent, um dort ein neues Reich zu begründen. So wie Isabella ihr Ägypten in einen grünen Garten Eden verwandelt, verspricht Krachts intertextuelles bzw. filmisches Vorbild, die messianisch-faschistische Führerfigur Paul Atreides alias Muad’ Dib aus dem von David Lynch 1984 erstmals verfilmten Fantasyroman-Zyklus Dune von Frank Herbert (1965-1985), den titelgebenden Wüstenplaneten Arrakis durch seinen Befreiungskrieg in ein indigenes Paradies zurückzuverwandeln. Dass Kracht seinen indigenen Helden ebenfalls nach Afrika zurückkehren lässt, um eine unerbittliche Revolution anzuführen, erscheint bei ihm als Gipfel eines antiimperialistischen und okzidentalistischen Essentialismus, wenn auch in zynisch-ironischer Brechung.

Zugleich wird das Motiv Ägyptens als grünem Garten Eden aber auch bei Arnim mehrfach implizit in Zweifel gezogen, wie Iulia-Karin Patrut gezeigt hat: Arnims unzuverlässiger Erzähler beruft sich hier auf den historischen Scharlatan und betrügerischen Verfasser gefälschter Reiseberichte Taurinius und den im 18. Jahrhundert umstrittenen Rhetoriker Magister Uhse.[30] Bei Arnim sind diese obskuren Anhaltspunkte des Zweifels an der Legende von Isabellas messianischem Wirken in Ägypten jedoch zugleich als Kontrapunkte zu der positiven deutsch-nationalen Utopie zu lesen, die viele Interpret*innen in Arnims ‚Zigeuner‘-Geschichte erkannt haben wollen: Wer glaubt, eine naturverbundene Volksheldin einer homogenen Roma-Ethnie wie Isabella solle hier als strahlendes Vorbild für die lang ersehnte Formung einer gefestigten, blühenden deutschen Nation dienen, wird bei genauerer Lektüre von Arnims vertrackter Novelle anhand von deren hintersinnigen intertextuellen Verweisen eines Besseren belehrt.

Damit soll hier keineswegs behauptet werden, Kracht habe intentional Arnim zitiert. Eher zeigt auch Krachts eklektizistischer Zitatismus, auf welche hintergründige Weise das religiöse Gefühlswissen des literarischen Antisemitismus auf dem Weg ins 21. Jahrhundert intertextuell und intermedial weiterwirkt, wie leicht es sich durch sein explosives ästhetisches und emotionales Wirkungspotenzial in der Rezeption verselbständigen kann und wie schwer fassbar es vielen Leser*innen heute zugleich anmuten mag. Die erzieherischen Pathosszenen dieser gleichwohl immer noch massenkompatiblen Emotionalisierungsstrategie eines antiaufklärerischen Essentialismus, Manichäismus und in diesem Kontext oft eben auch Antisemitismus greifen teils auf uralte, biblisch anmutende Geschichten und Weltbilder zurück – als variabel einsetzbare Stimulationsprogramme zur Entwicklung von Gefühlsregeln angesichts eines „moralisch Anderen“ (Jensen). Damit evozieren sie jeweils komplexe Gefühlslagen, die auch durch die Gegenwartsliteratur weiter hervorgerufen und in der Folge erregt debattiert werden.

 

[1] Uffa Jensen: Häme als Ressentimentverbindung. Wie und warum man im 19. Jahrhundert Juden verlachte. In: Stefanie Schüler-Springorum / Jan Süselbeck (Hrsg.): Emotionen und Antisemitismus. Geschichte – Literatur – Theorie. Reihe: Studien zu Ressentiments in Geschichte und Gegenwart. Göttingen: Wallstein 2021, S. 167-189  Hier: S. 177.

[2] Ebd., S. 178.

[3] Vgl. Jan Süselbeck: „Kindermörder Israel“. Die Affektpoetik des literarischen Antisemitismus und der Judenhass der Gegenwart. In: Der Neue Weltengarten. Jahrbuch für Literatur und Interkulturalität 2017/18 (Abt. III, „Erinnerung und Emotion. Postkoloniale und geschlechtertheoretische Perspektiven“). Hrsg. von Michael Hofmann, Iulia-Karin Patrut und Hans-Peter Klemme. Unter Mitarbeit von Miriam Esau. Hannover: Wehrhahn Verlag 2018, S. 237-262.

[4] Vgl. Martin Gubser: Literarischer Antisemitismus. Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein Verlag 1998, S. 58.

[5] Ebd., S. 146.

[6] Vgl. Jan Süselbeck: Schöne Augen. Emotionalisierende Figurationen des „Ewigen Juden“ in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann. In: Stefanie Schüler-Springorum / Jan Süselbeck (Hrsg.), Emotionen und Antisemitismus. Geschichte – Literatur – Theorie, S. 42-83.

[7] Nicola Gess: Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit. Berlin: Matthes und Seitz Berlin 2021, S. 38.

[8] Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt am Main: S. Fischer 2012, S. 36. 

[9] So z.B. auch Claudia Breger: Ortlosigkeit des Fremden. „Zigeunerinnen“ und „Zigeuner“ in der deutschsprachigen Literatur um 1800. Köln / Weimar / Wien: Böhlau Verlag 1998, S. 282.

[10] Achim von Arnim: Isabella von Ägypten. Eine Erzählung. Berlin 1812. Hrsg. von Joseph Kiermeier-Debre. Bibliothek der Erstausgaben. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998, S. 155.

[11] Claudia Breger, Ortlosigkeit des Fremden, S. 299.

[12] Frauen als hemmungslos, geldgierig, teuflisch und hexenhaft darzustellen, ist vor allem eine alte Strategie antisemitischer Texte seit 1700. Vgl. Matthias N. Lorenz: „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Mit einem Vorwort von Wolfgang Benz. Stuttgart / Weimar: Verlag J.B. Metzler 2005, S. 202.

[13] Vgl. Achim von Arnim, Isabella von Ägypten, S. 23f. 

[14] Vgl. Andrea Polaschegg: Genealogische Geographie. Die orientalistische Ordnung der ersten und letzten Dinge in Achim von Arnims „Isabella von Ägypten“. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 15 (2005), S. 95-124. Hier: S. 119, wo die Autorin klarstellt, nur tote Frauen seien bei Arnim die Zukunft.

[15] Achim von Arnim, Isabella von Ägypten, S. 53.

[16] Ebd., S. 9.

[17] Hier zitiert nach Hans-Joachim Hahn: Die geteilten Gefühle des Antisemitismus. Prolegomena zu einer Reflexionsgeschichte antijüdischer Emotionen. In: Stefanie Schüler-Springorum / Jan Süselbeck, Emotionen und Antisemitismus, S. 87-106. Hier: S. 100.

[18] Elystan Griffiths / Martin Wagner (Hrsg.): Introduction: Genres of Obedience. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies, Volume 56, Number 2, May 2020, S. 85-91. Hier: S. 86f.

[19] Ebd., S. 90.

[20] Vgl. Hans-Joachim Hahn, Die geteilten Gefühle des Antisemitismus, S. 106.

[21] David Nirenberg: Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens. Aus dem Englischen von Martin Richter. München: Verlag C.H. Beck 2015, S. 269.

[22] Zitiert nach Manfred Voigts: Die Grundlagen der deutsch-jüdischen Symbiose. In: Ders: Zwischen Antisemitismus und deutsch-jüdischer Symbiose. Aufsätze und Vorträge. Würzburg: Königshausen & Neumann 2013, S. 191-291. Hier: S. 223.

[23] Vgl. Daniel Jonah Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Aus dem Amerikanischen von Klaus Kochmann. Berlin: Siedler 1996, S. 75.

[24] Zitiert nach Voigts, ebd., S. 224.

[25] Vgl. Andrea Geier, Emotionalisierungsverfahren und kollektive Identitäten in Wilhelm Hauffs Erzählung „Jud Süß“, S. 128.

[26] Martin Walser: Tod eines Kritikers. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 178 f.

[27] Vgl. Matthias N. Lorenz, „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“, S. 194. André Ehrl-König sei „unsterblich und unangreifbar“. „Dieser durch zahlreiche Romanstellen belegte Umstand spielt auf die These vom ‚ewigen Juden‘ an.“

[28] Mona Körte: Erlkönigs Kinder. Überlegungen zu Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers“. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Bd. 11, 2002, S. 295-310. Hier: S. 306.

[29] Vgl. Jan Süselbeck: „Ich komme nur ganz kurz hierher.“ Zur Affektwirkung ‚filmischer‘ Schnitt- und Überwältigungsästhetik in Christian Krachts Kriegsroman „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ (2008). In: Søren Fauth / Kasper Green Krejberg / Jan Süselbeck (Hrsg.): Repräsentationen des Krieges. Emotionalisierungsstrategien in Literatur und audiovisuellen Medien vom 18. bis 21. Jahrhundert. Wallstein Verlag, Göttingen 2012, S. 236–255.

[30] Iulia-Karin Patrut: Phantasma Nation. „Zigeuner“ und Juden als Grenzfiguren des „Deutschen“ (1770-1920). Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, S. 216.