Die De-/Konstruktion des „Kämpfers“ Lessing

Eine Re-Lektüre von Franz Mehrings „Lessing-Legende“

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das 18. Jahrhundert war das gefeierte Jahrhundert der Kritik und der Streitkultur, war eine Zeit der geistigen Polemiken und Revolutionen, die keinen Lebensbereich, keine kulturelle und gelehrte Nische verschonten. In allen Debatten der literarischen Intelligenz war der Revolutionsbegriff präsent, auch wenn er noch nicht direkt mit dem politischen Umsturz in Verbindung gebracht wurde. Berücksichtigt man, dass sich das Wort „Kritik“ vom griechischen krínein herleitet, ein Verb, dessen Grundbedeutung „trennen, absondern, differenzieren“ bedeutet und auf das Auflösen, das Zerstören einer organischen oder anders beschaffenen Einheit zielt, lässt sich dieser Begriff als irritierendes Supplement des aufklärerischen Optimismus begreifen.

In den Zeiten schmerzhafter Auflösung und Zerfallsprozesse der alten Ordnung rückt ein feinsinniger System-Diagnostiker und Aufklärer par excellence wie Gotthold Ephraim Lessing die Symptome der Trennung und des Widerspruchs in das Zentrum seines dichterischen und theoretischen Interesses. ,Aufklärung‘ meint für ihn in erster Linie jedwede Absage an unverbrüchlich existierende Autoritäten von ,Wissen‘ und ,Wahrheit‘, die Suspendierung jeden Anspruchs auf Verkündigung überzeitlicher Theoreme, stattdessen die Öffnung eines kommunikativen Raumes, der sich als Angebot zur Teilnahme am gemeinsamen, stets gelehrten Diskursregeln genügenden Räsonnement versteht, beherrscht von der Überzeugung, dass sich ,Wahrheit‘, ist sie erst einmal aus ihrer vertikalen Verankerung in religiösen oder auch rationalistischen Sinnhorizonten gelöst, allein durch kommunikative Vernunft gewinnen lässt. Gegen den Dogmatismus des Wahrheitsbesitzes steht bei Lessing stets der – mitunter ausgesprochen polemische – Kritizismus einer Wahrheitssuche.

Auch die Polemik kommt aus dem Griechischen (pólemos, ,Krieg‘); sie ist die mit strategischem Verstand offensiv durchgekämpfte Kritik. Geeignet, wenn es darauf ankommt, einen prestigestarken Gegner zu schwächen, um entweder seinen Platz einzunehmen oder als Prämie des Agons gesellschaftliche Anerkennung zu erhalten. Polemik ist daher als Waffe im Kampfspiel sozialer Distinktion unter Intellektuellen im 18. Jahrhundert sehr beliebt und es bis heute auch geblieben. Lessings Anteil daran ist nicht gering. Streit, gelehrter Kampf ist, bemerkt er einmal, Nahrung für jenen „Geist der Prüfung“, der Vorurteile und Autoritäten erschüttert.

Erstaunlich ist, mit welch ausdauernder Energie Lessing sich von anderen zu unterscheiden sucht: nach oben von der „französisierten“ Geschmacksdespotie, nach unten vom illiteraten Pöbel und auf ebenbürtiger Ebene nicht nur vom „barbarischen“ Geschmack des bürgerlichen Publikums, sondern auch von der arroganten Borniertheit, die er in der Gelehrtenwelt wahrnimmt. Lessings Kraft der Destruktion, die er an vielen Stellen mit „Gärstoffen“, „unordentlichen Collectanea“, Zufällen und tumultuarischen Gedanken vergleicht, führt auf den Höhepunkten seiner Federkriege – im Kampf gegen den schlechten Horaz-Übersetzer Lange, gegen den anmaßend unwissenden Altertumsforscher Klotz und gegen den orthodoxen Theologen Goeze – zu einer Verabsolutierung der Differenz, der Berichtigung und Widerlegung, die ihresgleichen sucht.

Um Lessings eindrucksvolle Polemiken hat sich bereits unmittelbar nach seinem Tod ein dichtes semantisches Feld militanter Metaphorik gebildet, in dessen Zentrum die für die weitere nachromantische deutsche Lessing-Rezeption des 19. Jahrhunderts folgenreiche Rede vom „Kämpfer“ Lessing steht. Lessing – ein kriegerischer Mensch, der sich nur in gelehrter Kritik und Streitkultur wohlfühlte? Eine Kämpferfigur, die mit ihren Büchern Federkriege führte? Gar ein blutrünstiger Krieger, der nichts lieber tat, als seine Gegner aufzuspüren und mit seinem Schwert zu vernichten? Bereits in Heinrich Heines Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834/35) werden die Begriffe ,Kritik‘ und ,Polemik‘ auf unheilvolle Weise enggeführt: Lessing

war die lebendige Kritik seiner Zeit, und sein ganzes Leben war Polemik. […] Diese Polemik überwand jeden Gegner und erstarkte nach jedem Sieg. Lessing, wie er selbst eingestand, bedurfte eben des Kampfes zu seiner eigenen Geistesentwicklung. […] Vor dem Lessingschen Schwerte zitterten alle. Kein Kopf war vor ihm sicher. Ja, manchen Schädel hat er sogar aus Überzeugung heruntergeschlagen, und dann war er dabei noch so boshaft, ihn vom Boden aufzuheben und dem Publikum zu zeigen, daß er inwendig hohl war. Wen sein Schwert nicht erreichen konnte, den tötete er mit den Pfeilen seines Witzes. Die Freunde bewunderten die bunten Schwungfedern dieser Pfeile; die Feinde fühlten die Spitze in ihren Herzen.

Nach einem relativ harmlosen Beginn reißt sich Heines Metapher der „Polemik“ aus allen literarischen Bindungen los, entbindet offensichtlich Destruktionsgelüste, die sich der moralisch sozialisierten Kontrolle entziehen und auch ästhetisch von Heine nur noch mühsam gebändigt werden können. Die Bewunderung feiner literarischer Polemik ist zur hemmungslosen Anbetung roher Gewalt pervertiert, der „Kampf“ aus der sublimen Sphäre einer agonalen Kultur in die der ungebändigten Natur zurückgeführt worden.

Auch wo es in den folgenden Lessing-Bildern weniger martialisch zugeht, begegnet man dem grundsätzlichen Sachverhalt, dass Lessing in seiner nachromantischen Rezeption zu der kämpferischen Identifikationsfigur für die deutsche literarische Intelligenz und für das Bildungsbürgertum quer durch alle politischen Lager geworden ist, der – wie kein zweiter – nationales Sendungsbewusstsein zu verkörpern scheint. Dabei findet eine signifikante Verknüpfung des militanten Wortfeldes mit einer seit dem Idealismus und der Romantik geläufigen Vorstellung von einer „Revolution des Geistes“ (Johann Gottlieb Fichte) bzw. „Herrschaft des Geistes“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel) statt, der zur eigentlichen geschichtsbestimmenden Kraft aufsteigt. Während vor 1848/49 die Identifikation mit dem bürgerlichen „Vorkämpfer“ Lessing sowohl von seiner aufklärerischen Tradition wie auch von der historischen Entwicklung und ihrer Zukunftsperspektive legitimiert wird, gerät das Sich-Spiegeln im „Kämpfer“ Lessing nach der gescheiterten Revolution immer ideologischer: nach der Politisierung des Literarischen beginnt nun die Phase einer affirmativen Ästhetisierung des Politischen, simultan zum wachsenden Konservativismus des Bürgertums.

Auffällig ist, dass Lessing nach der Enttäuschung von 1848 immer unbekümmerter mit dem Machtnimbus Friedrichs II. verknüpft und somit immer gedankenloser militarisiert wird. Der „Kämpfer“ Lessing wird aus der Aufklärungstradition gelöst und zum gefügigen Vorbild und Zeugen für die angestrebte Herrschaft des Geistes in der Kulturnation. Die Reduktion auf die Person, auf den „männlichen“ Charakter, auf den „tapferen Kämpfer“ machte Lessing – mehr noch als andere deutsche Schriftsteller vor oder nach ihm – für die unterschiedlichsten politischen Tendenzen manipulierbar. Nicht zuletzt ist in der germanisierenden „Kämpfer“-Stereotype jene irrationale und affektive Komponente angelegt, die den Durchgang eröffnete für alle anti-aufklärerischen Entstellungen und preußisch-politischen Konstruktionen der Lessing`schen Wirkungsgeschichte (so bei Adam Müller, Ferdinand Lasalle, Heinrich von Treitschke, Wilhelm Scherer).

Vor allem in Erich Schmidts nachgerade ,legendärer‘, 1884 erschienener Lessing-Biographie kündigt sich der wilhelminische Kultur-Imperialismus bereits an; in ihrer teilweise schamlosen und beklemmenden Sprache findet die unwiderrufliche Aufkündigung der Grenzen von Geist und Macht statt. Nach Schmidt „erfrischt“ Lessing den Leser

im Stahlbade des Kampfes. Denn die Deutschen haben stets ihre heldenhaften Schriftsteller, die tapferen Bekenner, die kühn vordringenden und herzhaft um sich hauenden Streiter doch lieber auf den Schild gehoben als die stillen großen Denker und die gelassneren Meister der Schönheit.

Aus diesem kulturnationalistischen ,Paradigma‘ bricht erstmals Franz Mehring am Ende des 19. Jahrhunderts mit seinem 1893 in der Erstauflage erschienenen Buch Die Lessing-Legende aus (zuerst 1891/92 im Feuilleton der „Neuen Zeit“ veröffentlicht), das der Karl Dietz Verlag nun in einer Neuausgabe vorlegt, deren Text auf dem von Hans Koch herausgegebenen Band 9 der Gesammelten Werke Franz Mehrings (2., durchges. Aufl. 1975) beruht. Mehrings Werk darf mit Recht als das Standardwerk der marxistischen Lessing-Interpretation bezeichnet werden. Es tritt unmittelbar in einen gelehrten Agon mit Schmidts Lessing-Bild, indem es die preußische und bourgeoise Lessing-Legende dekonstruiert. Mit Mehrings Setzung des Untertitels „Eine Rettung“ wird suggeriert, dass Lessing vor dem affirmativen Blick gerettet werden soll, der ihn im „Geist“ zu einem Bürger des Wilhelminischen Kaiserreichs, zu einem „mächtigen und glücklichen Bürger“ (Treitschke) gemacht hat. Als „Legende“ entlarvt Mehring die Parallelisierung der Bestrebungen Lessings und Friedrichs II.: Lessing habe den preußischen König nicht bewundert und als einen Geistesgenossen betrachtet, sondern gehasst; er habe vielmehr gegen die feudalistische Gesellschaftsordnung rebelliert.

Merkwürdig nun ist jedoch, dass auch Mehring mit innerer Anteilnahme, mit befremdlich anmutender sprachlicher Kontinuität und mit großer Lust an der metaphorischen Variation der vorliegenden Mythenbildung, ebenjenes Bild vom „Kämpfer“ Lessing emphatisch aufnimmt und weiterschreibt. In braver Rezeption der Hegel`schen Tradition und der bildungsbürgerlichen Vorstellung von der „Herrschaft des Geistes“ konstruiert Mehring mit ,seinem‘ Lessing einen bürgerlichen Klassenkämpfer und Vorkämpfer des Proletariats, das er – allerdings vergeblich – auf den Weg der nationalen Einigung zu bringen suchte. Für Mehring hatte Lessing

den deutschen Philister ganz und gar ausgezogen; das gibt ihm die einzige Stellung in unserer klassischen Literatur, und insofern war er der verwegenste Revolutionär, den die bürgerliche Welt in Deutschland hervorgebracht hat bis auf die Börne und Heine, die Marx und Engels, die auch erst im Auslande das werden konnten, was sie geworden sind.

Auch für Mehring ist Lessing eine „echte Kämpfernatur“ und ein „geborener Kämpfer“. „Von Bayle und Voltaire lernte Lessing sein Schwert so blank und scharf schleifen, so leicht und sicher führen.“ Seine ersten kritischen Schriften sind ein „unaufhörliches Scharmützel“, seine Dramaturgie eine „feine und geschmeidige Damaszenerklinge“, seine Fabeln „ein fortlaufendes Kleingewehrfeuer, nicht zuletzt auch gegen den friderizianischen Despotismus“. Oder an anderer Stelle: „Lieber ließ er die Waffen verrosten, als daß er nur mit ihnen spielte.“ Der Plagiatsvorwurf treffe ihn nicht, „weil er aus mancherlei Metall die Schwerter zu schmieden pflegte, mit denen er seine Schlachten schlug.“ Und am Ende seines „Lebenskampfes“, als seine „unverwüstliche Kraft“ zerrieben wird, „ist es auch wieder erhebend zu sehen, wie glorreich sie den hoffnungslosen Kampf bis zum letzten Ende kämpft“.

Fraglos hat Mehring die preußische Lessing-Legende des 19. Jahrhunderts zerstört, von ihrer Sprache und von den verräterischen psychischen Mechanismen der deutschen Intellektuellen im Umgang mit Lessing konnte sich aber auch dieser selbständige Denker nicht komplett befreien. Auf der Grundlage seiner marxistischen Anschauung ist es Mehring allerdings gelungen, eine neue, systematische und argumentativ vermittelte Verknüpfung von Basis und Überbau der Metapher vom „Kämpfer“ Lessing, also von Klassenkampf und literarischer Polemik, vorzunehmen und so auch sprachlich eine neue Tradition zu stiften. Diese neukonstruierte Politisierung des Literarischen hat ganz sicherlich auch ihre Stereotypen, aber mit der martialischen Rückübersetzung der Metapher in den kulturnationalistischen Kontext hat Mehring nichts mehr zu tun.

Gleichwohl ist die sich im Verlauf des Buches steigernde Verschiebung vom „Fall Lessing“ zum „Fall Friedrich II.“ kritisch zu hinterfragen. Was Mehring hier beabsichtigt, ist die Destruktion der Geschichte des Klassenfeindes, der sich Lessing als Sprachrohr des friderizianischen Preußen usurpativ angeeignet habe. An diesen Stellen nimmt Mehrings Anti-Schmidt-Buch Züge eines rabulistischen Pamphlets an. Im gleichen Maße, in dem der historische Kontext und die historischen Fakten strukturell gedeutet, d.h. vom marxistischen Geschichtsmodell aus, gedacht werden, bekommt Mehrings Lessing typologische Konturen. Wenn Mehring mit der Huldigung an Lessing als dem „edeln Vorkämpfer freier Menschheit“ schließt und wenige Zeilen zuvor den Rahmen für eine freie Menschheit skizziert: „Lessing gehört zu den geistigen Ahnen des Proletariats. […] Lessings Leben und Wirken ist übergegangen in Fleisch und Blut der kämpfenden und leidenden Arbeiter“, dann ist der Rahmen angegeben, in dem Lessing zur Leitfigur des sozialistischen Kämpfers avancieren konnte. „Auf Lessing zurückgehen“, wie an anderer Stelle bemerkt wird, „heißt fortschreiten«. Die „Lessing-Legende“, d.h. die Einvernahme Lessings durch das Bürgertum, gilt seitdem im marxistischen Verständnis als zerstört und Lessing für die Tradition des revolutionären Klassenkampfes ,gerettet‘.

Mit aller Entschiedenheit setzte sich in der Folge in der marxistischen Lessing-Rezeption (vor allem bei Paul Rilla) ein Bild des Schriftstellers durch, das weniger an literarischen Innovationen, an Inhalten der gelehrten Streitkultur oder an den einzelnen Texten interessiert ist, als vielmehr am „Charakter dessen, der sie schrieb“. Damit konstruiert Mehring – nach seiner feinen Destruktion des kulturnationalistischen Lessing-Bildes als revolutionärer, germanisierender „Kämpfer“ – ein neue, nun streng marxistische „Legende“:

Ehrlichkeit und Mannhaftigkeit, eine unersättliche Begierde des Wissens, die Lust mehr noch am Trachten nach der Wahrheit als an der Wahrheit selbst, die unermüdliche Dialektik, die jede Frage kehrte und wandte, bis ihre geheimsten Falten offenlagen, die Gleichgültigkeit gegen die eigne Leistung, sobald sie einmal vollbracht war, die großartige Verachtung aller weltlichen Güter, der Haß gegen alle Unterdrücker und die Liebe zu allen Unterdrückten, die unüberwindliche Abneigung gegen die Großen der Welt, die stete Kampfbereitschaft gegen das Unrechte, die immer bescheidene und immer stolze Haltung in dem verzehrenden Kampfe mit dem Elend der politischen und sozialen Zustände – alles das und wie manches andere Erhebende und Erquickende noch! spiegelt sich in Lessings Briefen und Schriften.

Im Lichte dieser neuen Vorbild- und „Kämpfer“-Typologie löst sich das marxistische Lessing-Bild aus dem Rahmen eines wissenschaftlichen Zusammenhangs und nimmt Züge einer lebenswirklichen Unmittelbarkeit an, die einen Appell an das gesellschaftliche Verhalten des Rezipienten impliziert. Indem Mehring einen gewaltsamen Bruch zwischen Lessing und seiner sozialen Umwelt, zwischen dem Menschen Lessing und seinen Texten sowie zwischen Lessing und dem kulturnationalistischen Rezipienten-Kreis konstruiert, verschiebt sich in dieser De-/Konstruktion der historischen Aneignung Lessings die Kämpferfiguration zu einem basalen Bestandteil eines nun marxistischen Geschichtsmodells, das – ebenso wie seine Vorläufer – bedauerlicherweise nicht in der Lage ist, das eigentliche Beunruhigungspotential der Texte Lessings, die explosiven „Gärstoffe“, wahrzunehmen.

Titelbild

Franz Mehring: Die Lessing-Legende.
Karl Dietz Verlag, Berlin 2013.
400 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783320022914

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