Die Facetten des Reizes

Simone Meier präsentiert in „Reiz“ zwei Charaktere, deren Leben vordergründig von Sexualität geprägt zu sein scheint. Dahinter verbirgt sich zum Glück viel mehr

Von Lamzira AbiatariRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lamzira Abiatari

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach Fleisch (2017) und Kuss (2019) vervollständigt Simone Meier mit Reiz (2021) ihre Trilogie um den dritten Teil. Die Romane bauen nicht aufeinander auf, sodass sie sich auch unabhängig voneinander lesen lassen. Bekannt dafür, mit Witz und Zynismus über moderne Lebensweisen und Beziehungen zu schreiben, weicht Meier auch in ihrem aktuellen Liebesroman nicht von diesem Muster ab. Die kürzlich gekürte „Kulturjournalistin des Jahres 2020“ wurde 1970 geboren und lebt in Zürich. Nach dem Abschluss ihres Studiums der Germanistik, Amerikanistik und Kunstgeschichte arbeitete Meier zunächst als Kulturredakteurin für verschiedene renommierte Schweizer Zeitungen und Newsportale. Seit 2014 ist sie für watson tätig.

In ihrem neuesten Buch, das sie selbst der sogenannten middlebrow literature zuordnet, entwirft sie anhand der Hauptfiguren Valerie und Luca zwei höchst unterschiedliche Generationenportraits. In den neun Kapiteln des Buches wird mithilfe eines personalen Erzählers abwechselnd das Leben der beiden Figuren betrachtet, deren Lebenswege sich inmitten des jeweiligen Gefühlswirrwarrs kreuzen. Valerie ist 55, eine ambitionierte Journalistin und Zynikerin, die schon viel von der Welt gesehen hat. Sie ist selbstbewusst, hat verschiedene junge Liebhaber und einen besten Freund F., Schauspieler, 60 Jahre alt. F. hat fünf Kinder von unterschiedlichen Frauen, eins davon ist Luca. Dieser ist Schulabbrecher, Idealist und mit seinen zarten 19 Jahren unerfahren, besonders in Sachen Liebe. Luca ist in einem unkonventionellen und antipatriarchalen Umfeld aufgewachsen. Er lebt bei seiner Mutter, deren Liebesleben er scharf beobachtet:

So war es gekommen, dass die beiden jetzt unter dem Kirschbaum saßen. Seine kleine zarte Mutter mit ihrem blonden Hippie-Haar, in dem sich das erste Grau wie Stahlwolle kräuselte. Und die ebenfalls blonde, größere Anna, die zugleich alterslos und antik wirkte, wie ein Ding aus Porzellan mit aufgemalten blauen Augen. […] Er hoffte von Herzen, die beiden noch lang zusammen unter dem Baum zu treffen, war sich aber nicht sicher, ob er Anna trauen konnte. Seiner Mutter traute er jedenfalls nicht, sie konnte es einfach nicht besser, sie verlor ihre Frauen schneller als ihren Schmuck.

Valerie hat nun genug von den zahlreichen Affären und dem Trubel in ihrem Leben. Sie sehnt sich nach Ruhe und Unbekümmertheit, sie weiß nur nicht so recht, wie sie ihr Leben umkrempeln soll. Sie genießt zwar die Zeit mit ihrem superjungen und superreichen Toyboy, schätzt aber auch die entspannte Zeit mit ihrem guten Freund F., der sich in der gleichen „Krise“ befindet. Lucas Leben hingegen fängt gerade erst an. Er verliebt sich Hals über Kopf in Malou, die jedoch nach Schweden reist, um sich dort für die Umwelt zu engagieren, und somit für ihn unerreichbar bleibt.

Der Schreibstil des Romans ist leichtfüßig und ironisch, was einen nicht nur einmal schmunzeln lässt. Er ist aber auch gefühlvoll und unverstellt, wodurch das Abtauchen in die Welt von Valerie und Luca garantiert ist. Durchgängig sind Popkultur und Medienphänomene in den Kapiteln präsent, was den erzählerischen Zeitgeist stets spürbar macht und dem Roman somit zusätzlichen Unterhaltungswert verleiht:

Als Nena ihre 99 Luftballons steigen ließ, war Valerie sechzehn, und die Tage zwischen Schule, Pizzeria und dem Irish Pub beim Bahnhof wurden ihr lang. Sie schluckte ein Abführmittel gegen ein paar in der Pizzeria angefutterte Pfunde, schlich sich nachts von Darmkrämpfen geplagt am Schlafzimmer der Eltern vorbei aufs Klo, nahm dennoch nicht ab. Beschloss, sich so zu akzeptieren, wie sie war, schließlich riet auch die Bravo dazu: In jedem Girl steckt ein Schwan!

Meier ist es zudem gelungen, einen angenehmen Sprachfluss herzustellen, der für ein leichtes Leseerlebnis der Episoden sorgt, in denen die Lebensgeschichten der beiden Figuren chronologisch nachgezeichnet werden.

Das Buch trägt den Grund eines Swimming-Pools als Cover. Das Geschehen spielt häufig an Pools, Stränden und Seen in unterschiedlichen Ländern und Städten, von den USA über Italien bis hin zu Thailand, und das vor allem im Sommer. Besonders in der aktuellen Zeit, in der das Reisen nicht möglich und die Sehnsucht nach Ferne und Sommer besonders groß ist, erzeugt die Autorin Sommergefühle in den Herzen der Leserinnen und Leser und entführt sie an ferne Orte, die Vorfreude auf Urlaub aufkommen lassen.

Reiz ist kein Buch, welches man innerhalb von wenigen Tagen verschlingt, es eignet sich jedoch perfekt für den kleinen Lesehunger zwischendurch. Es stimmt einen nachdenklich im Hinblick auf das eigene Leben, das Vergangene und das, was noch kommen mag. Hierbei geht es nicht primär um Liebe, sondern auch um Selbstwirksamkeit im Beruf, Freundschaft und zwischenmenschliche Beziehungen. Selbstreflexion ist immer empfehlenswert und in diesem Sinne auch der aktuelle Roman von Simone Meier. Wer auf der Suche ist nach Spannung, Tragik oder ähnlichem, sollte das Buch erstmal weglegen.

 

 

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Simone Meier: Reiz.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2021.
240 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783036958392

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