Leitinstanz des gesellschaftlichen Umdenkens?

Jürgen Renns Neubestimmung der Wissenschaft für das Anthropozän

Von Martin MeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Meier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das zunächst 2020 in englischer Sprache publizierte Werk Jürgen Renns bietet phänomenologisch geordnete Einblicke in die Historie wissenschaftlichen Denkens von den Anfängen bis ins Anthropozän. Dem am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin wirkenden Historiker geht es jedoch weniger um den Weg ins Anthropozän als vielmehr um den Anteil der modernen Wissenschaft an diesem Prozess und um die Frage, wie Wissenschaft beschaffen sein müsse, um den Anforderungen der Zukunft gerecht zu werden. Er stellt auf Basis langjähriger Forschungsarbeit und zahlreicher Studien den historischen Erkenntnisprozess dar und ist bemüht, den Charakter moderner Wissenschaft in fünf Abschnitten überwiegend anschaulich, bisweilen jedoch etwas langatmig, herauszuarbeiten.

Angenehm liest sich das Buch schon deshalb, weil es die zunächst skeptische Erwartung, es könnte sich um ein Hohelied auf naturwissenschaftliches Denken handeln, nicht erfüllt; keineswegs legt Renn einen unkritischen Blick auf das Erreichte vor. Bereits eingangs thematisiert er die Zerstörung des Planeten, übt Kritik an den Wirkungen kapitalistischer Wirtschaftsweise. Die Wissenschaft sei eng mit dem janusköpfigen Fortschritt verflochten. Nationale Wissenschaftsysteme gerieten durch die Internationalisierung ökonomischer Prozesse in den Zwang, sich diesen Erfordernissen zu unterwerfen; mit problematischen Folgen. Unter „dem Druck wirtschaftlicher Globalisierungsprozesse rücken nationale Wissenschaftsysteme zunehmend die internationale Wettbewerbsfähigkeit in den Mittelpunkt und beschneiden so die Bandbreite der allein vom Wissensdurst getriebenen Forschung.“ Ebenso beklagt Renn die Zersplitterung und Fragmentierung der Wissenschaften, „der möglicherweise Kenntnisse zum Opfer fallen“, die für die Bewältigung der Aufgaben im Anthropozän wichtig sein könnten. Dieser Gedanke ist ein Leitmotiv der Darstellung, hängt doch, so Renn, die Bewältigung zukünftiger Herausforderungen auch von der Wissensintegration ab.

Die Arbeit gliedert sich in fünf Abschnitte. Zunächst analysiert Renn die zentralen Begriffe Wissen und Wissenschaft, geht sodann auf den Wandel der Wissenstrukturen ein, um im dritten Teil die wechselseitigen Beziehungen zwischen Wissenstrukturen und Gesellschaft zu analysieren. Hieran schließt sich eine umfassende Darstellung der Ausbreitung des Wissens im Rahmen des mehrhundertjährigen Globalisierungsprozesses an, um schließlich die Bedeutung der Wissenschaft für die zukünftige Entwicklung und die Herausforderungen zu erörtern.

Im ersten Abschnitt schafft Renn die begriffliche Basis seiner opulenten Darstellung. Wissenschaftliches Wissen sei in hohem Maße abhängig von Wissensformen. Renn kritisiert, dass dies oft nicht hinreichend wahrgenommen werde, zum Beispiel werde das Wissen der Handwerker kaum berücksichtigt. Aus Gründen politischer Korrektheit versuche man zudem, „europäische oder westliche Wissenschaft“ als eine unter vielen Sichtweisen darzustellen. Dies könne keineswegs die Jahrhunderte kolonialer Verbrechen gutmachen und es bringe wenig, den „Golem“ der Wissenschaft kleinzureden, der „den Rhythmus der industriellen und postindustriellen Gesellschaften im Guten wie im Schlechten bestimmt.“

Im zweiten Abschnitt seines Buches zeigt Renn zunächst die Flexibilität kognitiver Strukturen, zeigt die Art, in der sich Wissenssysteme verändern und widmet sich der Natur wissenschaftlicher „Revolutionen“. Die historische Wissenschaftsevolution könne auch auf Basis nichthistorischer Empirie dargestellt werden. Hier könnten Erkenntnisse der Kognitionswissenschaft, „der Neurowissenschaften, der Psychologie, der Bildungsforschung, Informatik“ etc. für wissenschaftshistorische Forschung nutzbringend sein, etwa die Historisierung Piagets genetischer Epistemologie. In dieser Wissenschaftsevolution konstatiert er eine fortwährende Veränderung der „Wissenssysteme“. Niemals entstünden sie als Ganzes. Immer wieder im Laufe der Darstellung bemüht Renn Einstein. Seine Relativitätstheorie sei zunächst nur ein System von Gleichungen gewesen, das später von immer mehr Wissenschaftlern gefüllt worden sei. Schließlich könne ein Wissenssystem so stabil werden, „dass seine Strukturen oft durch die schiere Masse der darin codierten Erfahrungen jeden Einfluss individueller Beiträge überlagern“. Als Auslöser starker Veränderungen in Wissenssystemen treten oft „herausfordernde Objekte“ auf, zum Beispiel die Projektilbewegung in der frühneuzeitlichen Militärtechnik. Wissenssysteme träten niemals sofort in fertiger Gestalt auf, sondern würden grundsätzlich im Wechselspiel mit der Praxis fortentwickelt. Hieraus resultiere aber auch ein „the winner takes it all“-Prinzip, das durch die Institutionalisierung der Wissenschaft gestützt werde. Da die Wissensentwicklung praktischen Zwängen unterliege, erfolge die Institutionalisierung oft nur in einer Richtung, wie dies am Beispiel Newtons klassischer Mechanik gegen Leibniz’ Mechanik nachzuvollziehen ist. Hier stellt sich die Frage, ob es nicht lohnend wäre, zu untersuchen, ob das institutionalisierte Wissenssystem der objektiven Realität tatsächlich näherkommt als das unterlegene. Es ist bedauerlich, dass Renn die sich hier bietende Möglichkeit einer generelleren Kritik an bisheriger naturwissenschaftlicher Entwicklung enthält.

Renn greift diesen Aspekt viel später mit der Frage auf, „wie viele Male […] die Naturwissenschaften entstanden“ seien. In seiner Antwort geht er zunächst auf die Evolution des Menschen ein und verweist auf die Vielfalt der Ansätze der Menschwerdung. 

Entsprechend wird man dem Resultat des Evolutionsprozesses nicht gerecht, wenn man behauptet, eine Menschenart (nämlich unsere) habe aufgrund welcher biologischer Merkmale auch immer eindeutig über die andere triumphiert, wohingegen die andere wegen ihrer Unterlegenheit zurecht verschwunden sei.

So verhalte es sich auch mit den Naturwissenschaften. Jenseits des Kerns eines stabilen Wissenssystems können sich, so Renn, aufgrund neuer Einsichten Cluster bilden, die nur lose mit dem Kern verbunden sind. Als ein Beispiel für diese „epistemischen Inseln“ führt Renn Galileis Bewegungslehre an. Sie könne gleichsam Ausgangspunkt eines neuen Wissenssystems sein, da ihr das Potenzial zur Integration weiteren Wissens innewohnt. Die hier geschilderten Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, dass das 1000seitige Werk viele interessante Passagen enthält, die den Leser zu fesseln vermögen.

Im dritten Abschnitt thematisiert der Berliner Wissenschaftshistoriker die enge Verflochtenheit von Wissen und Gesellschaft. In der kapitalistischen Gesellschaft werde das Wissen „zu einer Frage ökonomischer Produktivität“. Im Laufe der Geschichte sei eine zunehmende Verschränkung von Wissenschaft und Gesellschaft wahrnehmbar. Die Gesellschaft biete die Voraussetzung für das Wissenssystem. Zur näheren Klassifikation der „Verschränkung“ führt er den Begriff „Wissensökonomie“ ein. „Wissensökonomie bezeichnet die Gesamtheit aller gesellschaftlichen Praktiken, einschließlich der Institutionen, denen in einer gegebenen Gesellschaft die Produktion und Reproduktion, der Transfer, die Verbreitung und Aneignung von Wissen obliegt.“ Diese Wissensökonomie, glaubt Renn, sei entscheidend „für das Vermögen einer Gesellschaft, auf äußere Herausforderungen zu reagieren“ und er fragt erneut, ob nicht die „disziplinäre Wissenschaft zu pfadabhängig und unflexibel geworden“ sei, um auf die Anforderungen des Anthropozän antworten zu können.

Den Prozess der Wissensverbreitung im vierten Abschnitt untersuchend, zeigt Renn unter anderem die negativen Konsequenzen der Vorherrschaft der Europäer und der kolonialen Unterdrückung anderer Völker, die die Ausbreitung wissenschaftlicher Erkenntnis im Zuge des Globalisierungsprozesses mit sich brachte. Er nutzt zudem neuere Methoden der Netzwerkanalyse, die in den vergangenen Jahren in den historischen Disziplinen en vogue geworden ist. Renn geht es jedoch nicht um die Darstellung bestimmter Korrespondenz- bzw. Informationsnetzwerke, sondern um sogenannte epistemische Netzwerke, die soziale Netzwerke darstellen, die den Austausch und die Transformation von Wissen ermöglichten. Neben antiken und mittelalterlichen Netzwerken untersucht Renn die epistemische Gemeinschaft der Relativitätstheorie, die auch über Grenzen des Eisernen Vorhangs hinaus bestand.

Im fünften Teil des Buches resümiert Renn seine Erkenntnisse und zieht Schlussfolgerungen. Wissenschaft und Technologie hätten sich seit dem 19. Jahrhundert schneller entwickelt als die Philosophie. Im Grunde habe die Wissenschaft ähnliche Entwicklungsprozesse durchlaufen wie eine Religion. „Dogmatische Starrheit“ und fortschreitende Institutionalisierung prägten die Wissenschaftsgeschichte. Dies habe zu einer „Wissenschaft als Kirche“ geführt, deren ursprüngliche Heilsversprechen Vernunft und Aufklärung durch Institutionalisierung verwässert würde. Auf der anderen Seite stehe Popularisierung und die notwendige Erkenntnis, dass Wissenschaft kein Elitenprojekt sei, sondern Bestandteil einer Evolution weltweiten Wissens.

Es ist dem Verfasser hoch anzurechnen, dass er auch über die Bedeutung der Religionen zur Problemlösung nachdenkt, wenngleich Renns atheistische Grundhaltung gänzlich außer Frage steht. Es geht ihm hier vor allem um Merkmale der Religionen, die bedenkenswert erscheinen, etwa die Vermittlung menschlicher Grunderfahrung und die identitätsstiftende Gemeinschaft sowie die Partizipation an Problemen, die nur gemeinschaftlich zu lösen sind.

Wissenschaft dürfe sich nicht in einem blinden Wettlauf um „Fortschritt“ erschöpfen und nicht zum bloßen Anwendungslieferanten für die Wirtschaft missbraucht werden. Seine Argumentation ist einer gewissen Naivität nicht bar. Die Bewältigung der Herausforderungen im Anthropozän hänge von Prozessen der Wissensintegration ab. Zudem sei sorgfältig auf Fallstricke zu achten, die sich aus der Verzahnung von Politik und Wissenschaft ergäben. Betonte Renn noch eingangs die enorme Relevanz ökonomischer Bedingungen, unter denen Wissenschaft agiert, so werden diese in den abschließenden Betrachtungen nahezu ausgeklammert.

Auch stellt sich die Frage, ob eine Wissenschaft, die ihren Anteil an den Katastrophen des 20. Jahrhunderts hat, nun heilsbringend wirken kann oder ob nicht – und in der Darstellung Renns finden sich hierfür zahlreiche überdenkenswerte Hinweise – eine grundsätzlich andere Naturwissenschaft möglich ist, die gleichsam in deutlich veränderte ökonomische Strukturen eingebettet sein müsste. Das vorliegende Buch bietet viel Stoff zum Nachdenken und eine lohnende Lektüre auch für Menschen, die sich nur für Teilaspekte des Gesagten interessieren. Dafür sorgt auch die hervorragende Struktur des Bandes mit den zahlreichen kleinen Exkursen, dem umfassenden Anmerkungsapparat, dem Glossar und den gelungenen Illustrationen.

Titelbild

Jürgen Renn: Die Evolution des Wissens. Eine Neubestimmung der Wissenschaft für das Anthropozän.
Aus dem Englischen von Sven Scheer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
900 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587867

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