Die Freiheit im Rückspiegel

Mit einer ambitionierten Programmschrift stemmen sich die Autoren Eibl und Steinmann gegen das Diktat des Digitalen

Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Albert C. Eibls Diagnose fällt gnadenlos aus. In seinem Prolog „Im Ausnahmezustand“ schreibt er, dass die Vernunft schon lange einen Schlaf angetreten habe. Statt selber zu denken, habe der bildschirmgaffende postmoderne Mensch die Kontrolle an das World Wide Web abgegeben und sei zu einem herdentreuen Einsiedlerkrebs mutiert, reduziert auf das Bestreben nach Prestigeakkumulation und Gewinnmaximierung und schließlich nichts weiter als „ein Solitär ohne Rückgrat, ein Emerit ohne innere Ruhe, ein Prophet ohne Vision, ein Individuum ohne sittliches Gesetz“.

Bitterböse Abrechnung

Eibls bitterböse und mitunter überspitzte Analyse scheint einer gewissen Ohnmacht zu entstammen, die vor allem Menschen empfinden, die das Leben davor noch kennen und auch 20 Jahre nach dem Start von Facebook noch im ewigen Abgleich mit der unvernetzten Zeit leben. Die digitale Welle kam schnell. So schnell, dass Abwägungen, ob man sich ihr stellen, sie untertauchen oder vor ihr flüchten sollte, kaum möglich waren. Jetzt hat sie alles weggeschwemmt und unter ihr neu sortiert. Und viel von dem, was war, ist nun anders oder gar vollständig verschwunden. Eibl vermisst explizit „das Wunderbare“, das seiner Wahrnehmung nach mit der Kontrollabgabe an das Digitale verloren gegangen ist und dessen Verlust von vielen nicht mal bemerkt und deshalb auch nicht betrauert und erst recht nicht mit Widerstand gekontert wurde. Lediglich ein paar ewig Gestrige trügen noch archaische Substanz in sich und leisteten noch Widerstand. Sie nennt Eibl „Traumpartisanen“ und ihnen widmet er dieses Buch, das die Herausgeber als einen philosophisch-literarischen Versuch des Widerstands gegen den alles verschlingenden Sog des Digitalen verstehen und als Ausdruck einer Haltung, die sich der Technologie nicht prinzipiell verschließen will, sie aber reduziert und nur kontrolliert und vorsichtig einsetzen möchte. In insgesamt zwölf Kapiteln, die stilistisch zwischen Essay, Narration und Poesie wechseln, behandeln die beiden Autoren abwechselnd Themen wie Schönheit, Ungebundenheit und Metaphysik in der Ära des Digitalen. Sie beleuchten zum Beispiel die Rolle der Intellektuellen oder den aufkeimenden Nihilismus im digitalen Zeitalter.

Kritischer Widerstand

Co-Autor Jan Juhani Steinmann bemängelt ebenfalls den stattfindenden Paradigmenwechsel bzw. die digitale Transformation und vor allem eine zunehmende „Schönheitsfremde“, womit gemeint ist, dass „uns“ der Sinn für den Ausdruck des Schönen im digitalen Raum entgleise. Die ästhetische Vernunft fange an zu phantasieren und werde so zur Keimzelle von Despotie. Für ihn ist klar: Es herrscht eine Konfusion im Schönen und dieser ästhetische Ausnahmezustand etabliere sich immer mehr als neue Normalität. Die Gegner heißen ChatGPT, Big Data, soziale Medien, Deepfakes und Metaverse. Sie seien zwar nicht alleinverantwortlich für die herrschende Schieflage, potenzierten diese aber. Er beendet seinen ersten Auftritt in diesem Buch mit einem Appell zu einem kritischen Widerstand und kreativen Aufstand. Ihm zufolge brauche es die titelgebende Ästhetik des Ungehorsams, die Freiräume schafft als Gegenpol zum Diktat des Digitalen. Eine diagonale Lebensantwort, die auf den Ausnahmezustand des Digitalen souverän respondiert.

Die Seenotfackel in der Dunkelheit

Die Kraft ihrer Texte schöpfen Eibl und Steinmann aus einer offensichtlichen Betroffenheit. Eibl ist Verleger und rettet Bücher vor dem Vergessen. Das zeugt von einer werteorientierten und kulturwahrenden Gesinnung, aber auch von einer sozialromantischen, kulturpessimistischen und – völlig wertfrei – altmodischen. Und so lässt sich auch dieses Buch aus zwei Perspektiven lesen. An manchen Stellen gerät diese Programmschrift zu aktionistisch. Denn das Gut-Böse-Schema greift natürlich selten ohne Einschränkung. Und so wird dem Andererseits kein Einerseits gegenübergestellt, bleiben verschwörerische Mobilisierungstexte lückenhaft. Aber davon sollten Leser:innen sich nicht irritieren lassen. Der Mehrwert dieses Buches liegt exakt in seiner Zuspitzung. Eibl und Steinmann kämpfen wortgewaltig um eine Gesellschaft, die noch einmal innehält und zugibt, sich verwirrt zu haben. Sie sezieren, argumentieren, reiben sich auf und halten uns einen Spiegel vor, der uns als verzerrte Gestalten zeigt. Dabei landen sie viele Treffer und rütteln gnadenlos wach. Sie klagen nicht einfach nur, sondern zeigen auch auf, was uns verloren geht und wie wir es schützen könnten. Ihre Querverweise in Kunst und Kultur sind anregend. Ihr Mut ist vorbildlich. Hier sind zwei, die sich wehren und die – wenn wir schon dem Untergang geweiht sind – zumindest noch einmal eine Seenotfackel in den düsteren Himmel schicken.

Titelbild

Albert C. Eibl / Jan Juhani Steinmann: Ästhetik des Ungehorsams. Interventionen im digitalen Zeitalter.
Wieser Verlag, Klagenfurt 2024.
250 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783990296387

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