Meister der Irritation

Zu Thomas Bernhards 90. Geburtstag

Von Bernhard JudexRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Judex

Wem es gelingt, auf dem Totenbett eine Komödie oder ein reines Lustspiel zu schreiben, dem ist alles gelungen. Innerhalb der Irrenhäuser ist der allgemein anerkannte Irrsinn, […] außerhalb der Irrenhäuser der illegale Irrsinn … aber alles ist nichts als Irrsinn.

Nicht nur Sätze wie diese aus der Erzählung Ungenach (1968) sind es, die Thomas Bernhard als Meister der Irritation und des grotesken Sprachwitzes, als souveränen Beherrscher doppelbödiger Ironie und schwarzen Humors, als tödlich-ernsten Spaßmacher weltberühmt gemacht haben. In seinem zuletzt erschienenen Roman, dem opus magnum Auslöschung. Ein Zerfall (1986), bezeichnet sich der Ich-Erzähler – in einer von Bernhard selbstreflexiv auf sich selbst bezogenen Wendung – gar als „Altersnarr“:

Wenn wir die Möglichkeit dazu haben, sollten wir uns spätestens mit vierzig zum Altersnarren ausrufen und versuchen, unser Narrentum auf die Spitze zu treiben. Das Narrentum ist es, das uns glücklich macht, hatte ich zu Gambetti gesagt.

Doch selbst den komischsten oder gar witzigsten Szenen beziehungsweise Figuren in Bernhards Werk (mit Ausnahme vielleicht der „Peymann-Dramolette“) eignet stets ein tragisches Element, so wie es sich für ernsthafte Spaßmacher – man denke da etwa an den großartigen Karl Valentin, dessen Pointen oft von abgründigem Tiefgang gesegnet sind – gehört. Viktor Halbnarr, der Ich-Erzähler in Die Mütze, der Spaßmacher in Die Macht der Gewohnheit, aber auch Caribaldi selbst, der Theatermacher und sein Sohn Ferruccio, der Weltverbesserer, das alternde Künstlerduo in Der Schein trügt, ja selbst der „Altersnarr“ Franz-Josef Murau und viele andere mehr sind gewissermaßen Außenseiterfiguren, die sich als Projektionsfläche eines gescheiterten Daseins und damit als Zielscheibe von Spott und Hass in einer Gesellschaft, in der man für das Scheitern nur wenig Verständnis aufbringt, gut eignen. Auf tragikomische Weise scheitern diese Figuren an ihren oft überzogenen Ansprüchen an sich, aber auch an die Gemeinschaft. Bernhard gibt diesem Scheitern auf seine unvergleichbar schonungslose Art, wie es eben nur die Kunst und insbesondere die Literatur vermag, eine Stimme. Darin liegt bis heute die Subversivität seiner Texte, die Wendelin Schmidt-Dengler in so treffsicherer Diktion als „Umspringbilder“ bezeichnet hat, weil sie nach beiden Richtungen hin funktionieren, als „Komödie“ oder als „Tragödie“. Verdeutlicht hat Bernhard diese Wechselwirkung der poetischen Kippfigur, bei der man auch an den Kegel in Korrektur denken mag, in der Kurzprosa Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?, nicht zuletzt im Auftritt jenes Mörders in Frauenkleidern, mit dem die Erzählfigur gewissermaßen die Absurditäten der Existenz verhandelt, für die das Theater als Metapher steht.

Freilich fanden und finden Bernhard keineswegs alle Menschen komisch. Komisch oder gar witzig im gemeinen Sinn, also so, wie heutzutage bis auf wenige Ausnahmen selbst ernstzunehmende Satire und Kabarett daherkommen – nämlich weniger komisch oder witzig als vielmehr gemein, platt, ja peinlich –, wollte Bernhard freilich auch nie sein. Dazu war er zu ernsthaft und distinguiert, zu intelligent und feinfühlig und nicht zuletzt zu sehr verletzt seit seiner Kindheit, die historisch in eines der dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte fällt.

Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen während des Kriegs und des NS-Terrors lassen sich eben auch die ganz anderen Sätze dieses Autors verstehen. Etwa jene aus dem 1978 in der Zeit publizierten, ursprünglich jedoch für eine Österreich-Anthologie im Residenz Verlag vorgesehenen Text Die Kleinbürger auf der Heuchelleiter:

Die Zeit ist immer eine schreckliche Zeit, und das Leben oder die Existenz ist immer ein schreckliches Leben oder eine schreckliche Existenz, die durchgegangen und durchgelebt und durchexerziert werden müssen, aber die heutige Zeit ist für mich die abstoßendste, erbarmungsloseste, die jemals auf dieser Welt experimentiert hat, und für diese Behauptung ist mir Österreich in jedem Augenblick eklatanter Beweis. Aufwachen in Österreich heißt, in eine stickige Atmosphäre der Geistfeindlichkeit und der Gefühlsroheit hinein aufwachen, in Stumpfsinn und Niedertracht.

Bereits Bernhards Rede zur Verleihung des Österreichischen Staatspreises für Literatur 1968, die prompt zu einem der vielen Skandale geführt hat, für die der Autor ebenfalls berühmt geworden ist, zeichnet sich aus durch ihre scharfe Diktion:

Die Zeitalter sind schwachsinnig, das Dämonische in uns ein immerwährender vaterländischer Kerker, in dem die Elemente der Dummheit und der Rücksichtslosigkeit zur tagtäglichen Notdurft geworden sind. Der Staat ist ein Gebilde, das fortwährend zum Scheitern, das Volk ein solches, das ununterbrochen zur Infamie und zur Geistesschwäche verurteilt ist.

Dass sich der „verehrte Herr Minister“ und die „verehrten Anwesenden“, die sich zu einem Festakt zusammengefunden hatten, um durch die Dankbarkeit des Geehrten nichts anderes als die Bestätigung in ihrem Dasein und Handeln zu erfahren, solcherart, sehr zum Vergnügen des „Dichterlings“ freilich, naturgemäß „vor den Kopf gestoßen“ fühlen mussten, liegt auf der Hand.

Ebenfalls von 1968 stammt auch der stark autobiografisch hinterlegte Kurzprosatext Unsterblichkeit ist unmöglich. Landschaft der Kindheit – für mich nach wie vor einer der berührendsten und anregendsten der weniger bekannten Texte Thomas Bernhards, führt er doch gewissermaßen ins Epizentrum seiner persönlichen „Verstörung“, die er in äußerster geistiger wie physischer Konzentration und Abgeschlossenheit, doch gleichsam spielerisch zu einer Weltliteratur formt, die ihresgleichen sucht.

Die Stadt wird zur Angstpsychose für mich. […] Plötzlich vernichtet ein amerikanisches Bombengeschwader alle Voraussetzungen für meine Studien, für meinen Aufenthalt in der gehaßten Stadt. Meine Haare sind verbrannt, mein Geigenkasten ist zertrümmert. Ich bin verstört, aber ich lebe. […] Der Krieg wird zu einem immer lauteren, rücksichtsloseren Geräusch. […] Die Kindheit ist in das größte politische Dilemma der Geschichte eingeschlossen. Alles, was du hörst, was du siehst, was du einatmest, ist tödlich. […] 

Was hier angedeutet, jedoch bereits in klaren Bildern und Worten entworfen wird, bildet gewissermaßen die Essenz jener später in der fünfbändigen Autobiografie ausgestalteten „Ursachenforschung, was meine Existenz betrifft“, beginnend 1975 mit Die Ursache. Eine Andeutung, wo die „gehaßte Stadt“ beim Namen genannt wird. Salzburg, wo Bernhard zwischen 1944 und 1947 mit Unterbrechungen das zuerst nationalsozialistisch und nach 1945 wieder katholisch geführte Gymnasium und Internat absolviert hatte, wird als „menschenfeindliche[r] architektonisch-erzbischöflich-stumpfsinnig-nationasozialistisch-katholischer Todesboden“ empfunden. Der Stadt, in der er auch später seine Jugend verbringt, als Student am Mozarteum und als Gerichtssaalreporter für das Demokratische Volksblatt, und in der zahlreiche seiner Stücke bei den Festspielen uraufgeführt wurden, ist ihre Geschichte unauslöschlich eingeschrieben, ebenso wie sich die Erfahrungen von damals dem Individuum eingeprägt haben.

Liest man Bernhard heute, mehr als 30 Jahre nach seinem Tod, so führen einem seine Texte die Befindlichkeit der österreichischen Gesellschaft nach 1945 eindringlich vor Augen. Wenn es eine „österreichische Seele“ im Sinne Erwin Ringels gibt, dann finden wir sie bei Bernhard auf dem Seziertisch. Aber auch die „Weltseele“ gelangt bei ihm, der spielerisch angelesene Sätze und bedeutungsvolle Namen von Schopenhauer über Pascal, Montaigne und Voltaire bis hin zu Lermontow oder Tschechow in sein Werk einfließen lässt, zum Ausdruck. Die Frage nach der Möglichkeit der Existenz, der Möglichkeit es auszuhalten und dem Leben Sinn abzugewinnen, wird in seiner Literatur stets verhandelt.

Bernhard ist jemand, der die Zustände beobachtet und sehr genau dargestellt sowie kritisch durchleuchtet hat. Aufgewachsen in den Jahren des NS-Terrors und des Wiederaufbaus nach dem Krieg, ist er ein Autor von hohem zeitgeschichtlichen Bewusstsein, auch wenn das seine Kritiker und Gegner zuweilen anders gesehen haben. Vieles von dem, was die zentrale Aura seiner Texte ausmacht, ist in der Form ganz einfach nicht mehr existent und somit nicht einmal mehr „lächerlich“, wie es in der Staatspreis-Rede heißt. Bernhard beschreibt eine vielfach untergegangene Welt, die es zuweilen schon zu seiner Zeit fast nicht mehr gegeben hat, die aber zugleich den kleingeistigen Topos Österreich, die Verdrängung der geschichtlichen Gräuel, die Zumutungen der Existenz sehr genau bezeichnet. Beinahe verschwunden scheint heute etwa die Welt provinzieller Gasthäuser mit dubiosen Wirtsleuten (Frost, Der Theatermacher) – bestenfalls im österreichischen Film, der sich überhaupt vieler Bernhardscher Motive bedient, lebt sie weiter. Verschwunden beinahe auch die Welt städtischer Caféhäuser, in denen man stundenlang in- und ausländische Zeitungen studieren konnte, der Briefkultur und des Gesprächs – noch vor Digitalisierung und „sozialen“ Medien – sowie des inneren Monologs auf Spaziergängen (Verstörung), der verrückten Bauwerke am Rande von Ortschaften, fern der Zivilisation (Am Ortler, Das Kalkwerk, Korrektur) – wie es auch Bernhards eigene Häuser auf nicht ganz so extreme Weise waren –, wie auch überhaupt der vielen fein- und kunstsinnigen Verrückten, die sich zu ihren so völlig zweckfreien und jeglicher kapitalistischer Logik entziehenden Studien in ihre „Einsamkeitszellen“ zurückziehen und für die Bernhard auch in der Realität stets Sympathie zeigte wie etwa für Paul Wittgenstein. Überhaupt das Wort Sympathie oder Empathie – nicht unbedingt Eigenschaften, an die man bei Bernhard zu allererst denken mag, die aber doch in seinem Werk eine ebenso wenig zu vernachlässigende Rolle einnehmen wie in seinem eigenen Leben und um die er stets auch gekämpft haben mag. Schließlich die vom geschichtlichen Wahnsinn des Dritten Reichs unmittelbar Betroffenen wie zum Beispiel die Familie Schuster in Heldenplatz: auch sie gehören einer Generation an, deren letzte Vertreter heute allmählich wegsterben und die somit allenfalls in Zeitzeugendokumenten und in unserem geschichtlichen Bewusstsein lebendig bleiben.

Bernhards letztes Drama hat hier einen wenn auch literarisch fiktionalisierten, so doch in seiner sprachlich-thematischen Darstellung wie auch durch die bewegte Rezeption dieses Bühnenwerks einzigartigen Beitrag geleistet. Heldenplatz (1988) ist ein Stück österreichischer Nachkriegs- und Zeitgeschichte, verständlich wohl nur mehr, wenn man sich die damalige politisch-gesellschaftliche Befindlichkeit und die konkreten Ereignisse 50 Jahre nach dem „Anschluss“ (und ein Jahr vor dem historischen Fall der Berliner Mauer) vergegenwärtigt: die Affäre um die Bundespräsidentschafts-Kandidatur und -Wahl Kurt Waldheims, den „Kulturkampf“ unter anderem um das Anti-Faschismus-Denkmal des Bildhauers Alfred Hrdlicka und vieles mehr.

Bernhard ist ein österreichischer Autor nach 1945 von Weltbedeutung. Doch wäre er denkbar als Gegenwartsautor? Gemessen an den globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wirkt seine Literatur in vielem historisch, zeitlich entrückt, ja durchaus antiquiert. Nicht dass die Gegenwartsliteratur etwa Antworten auf diese Herausforderungen bietet, doch sie formuliert zumindest die entsprechenden Fragen. Angesichts dessen ist es erstaunlich, wie schnell die Veränderung unserer Alltagswelt um sich greift. Bernhard und die Lebenswelt seiner Figuren scheinen Adalbert Stifter, mit dem er immer wieder verglichen wurde, tatsächlich näher als den meisten zeitgenössischen Schriftstellern Anfang unseres Jahrhunderts. Doch genau das macht Bernhard lesenswert und schärft den Blick sowohl auf jene vergangene Zeit und Kultur, die im Neoliberalismus tatsächlich nur mehr in der Rückbesinnung greifbar wird, als auch auf den gegenwärtigen Zustand, für den der anfangs zitierte Satz aus Ungenach immer noch und vielleicht mehr denn je zutrifft: „Innerhalb der Irrenhäuser ist der allgemein anerkannte Irrsinn, […] außerhalb der Irrenhäuser der illegale Irrsinn … aber alles ist nichts als Irrsinn.“ Bernhard bleibt unsterblich: in seinem Werk, das zum literaturgeschichtlichen Kanon zählt und immer wieder aufs Neue entdeckt werden sollte. Alles Gute zum 90er!