Der lange Weg zum Selfie
Der Kunst- und Medienwissenschaftler Roland Meyer zeigt in seinem neuen Buch, wie sich die Funktion von Gesichtsbildern in unserer Gesellschaft verändert hat
Von Sebastian Meißner
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Identity Intelligence: Image is Everything“: Mit diesem Leitspruch aus einer undatierten Präsentation der NSA beginnt der Kunst- und Medienwissenschaftler Roland Meyer seine „Bildgeschichte der Identifizierbarkeit“. Dabei zeichnet der akademische Mitarbeiter an der BTU Chemnitz den Bedeutungswandel des Porträts in unserer Gesellschaft nach. Aufgeteilt in vier Kapitelblöcke („Alben und Ähnlichkeiten“, „Archiv und Differenzen“, „Serialität“ und „Datenbanken und Muster“) arbeitet sich Meyer in chronologischer Reihenfolge und nachvollziehbaren Gedankengängen von Johann Caspar Lavaters Schattenrissen bis zur medialen Gesichterflut unserer Tage.
Der Autor formuliert im Vorwort zwei zentrale Anliegen für dieses Buch: erstens den Versuch, Gesichtsbilder als Informationsträger zu behandeln, Ordnungen des massenhaften Zugriffs auf sie zu entwerfen und ihnen lesbare Merkmale des Vergleichs zu isolieren, und zweitens die Frage, wie „sich der Blick auf Gesichter und auf die Bilder, auf denen sie wiedererkannt werden sollen, verändert.“ Meyer bewegt sich mit seinem Ansatz im Grenzbereich zwischen drei kulturwissenschaftlichen Forschungsfeldern: die Kulturgeschichte des Gesichts, der Wissensgeschichte moderner Identifizierungsverfahren und der Mediengeschichte instrumenteller Bilder, vor allem kriminalistischer Fotografie.
Meyers gründliche Darstellung der historischen Wurzeln des heutigen Porträt- und vor allem Selfie-Wahnsinns ist eine bereichernde Lektüre. Vor allem das Kapitel über Lavaters Profile und Netzwerke ist sehr aufschlussreich. Dessen Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, die zwischen 1775 und 1778 erschienen, lösten eine „beispiellose Mode des Gesichterlesens“ aus, versprach sie doch die Möglichkeit, vom Äußeren eines Menschen auf sein Inneres schließen zu können, wobei das Antlitz zugleich Spuren des göttlichen Wirkens offenbare. Auszüge aus der dazugehörigen umfassenden Porträtsammlung sind im Buch zu sehen. Sie dokumentieren die Neugierde und Faszination an der anatomischen Singularität jedes einzelnen Menschengesichts. Über den Einsatz von Gesichtsbildern in (Reise-)Pässen, einer Medienarchäologie der Identifizierung von der frühen Kriminalistik und „Galton und die Objektivierung der Ähnlichkeit“ schlägt der Autor nach und nach die Brücke ins Hier und Jetzt zur automatisierten Gesichtserkennung.
So wird über die Jahre ein grundlegender Funktionswandel des Porträts erkennbar: Der ursprüngliche Anspruch, im Einzelbild die Repräsentation eines autonomen Individuums darzulegen, ist dem Versprechen der Operativität gewichen. Bilder von Gesichtern werden heute systematisch mit anderen Bildern und Daten verknüpft. Big Data und Überwachungsstaat: Wohin die Reise geht beziehungsweise gehen kann, zeigt die chinesische Regierung. Im kommenden Jahr sollen insgesamt mehr als 600 Millionen Überwachungskameras im öffentlichen Raum eingesetzt werden – für die Jagd nach Kriminellen sowie für das Sozialkredit-System. Der Staat sammelt Daten, wertet sie aus und vergibt Punkte. Je nach Punktekonto werden Bürger belohnt oder bestraft. Indem Meyer diesen Funktionswandel nachzeichnet, leistet sein Buch einen historisch fundierten Beitrag zum Verständnis heutiger digitaler Bildkulturen. Meyer integriert in seine Bildgeschichte der Identifizierbarkeit unter anderem die Arbeiten von Daniel Chodowiecki, Francis Galton, Robert Heindl und Andy Warhol; er verweist auf Gedanken und Erfahrungen von Alfred Döblin, Bob Dylan, Marcel Duchamp, Michel Focault, Sigmund Freud, Ludwig Wittgenstein und Edward Snoden.
Ein entscheidender Gedanke steht direkt im ersten Satz der Einleitung: „Was ein Gesicht ist und wem es gehört, darüber entscheiden heute nicht zuletzt technische Standards.“ Es sind die Beschreibungen der Techniken automatisierter Gesichtserkennung und ihrer Einsatzfelder, die nicht nur im Kontext von Überwachung, Fahndung und Grenzkontrolle zum Einsatz kommen, sondern längst Teil unseres digitalen Alltags geworden sind, die diesem Buch seine hohe Relevanz verleihen – und uns zwingen, unseren Umgang mit Gesichtsbildern zu überdenken. Meyer löst im Leser diese Gedanken aus, ohne zu moralisieren. Sein Stil ist beschreibend, nicht wertend. Das verleiht ihm seine hohe Glaubwürdigkeit. Wer die rund 470 Seiten hinter sich hat, wird mit dem nächsten Selfie vermutlich warten.
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