Identitätsentwürfe im jüdischen Witz

Der Sammelband beleuchtet jüdischen Humor jenseits überkommener Einordnungen

Von Julia StetterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Stetter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für Sigmund Freud sah die Lage noch eindeutig aus: Witze dienen dem Lusterwerb, weil sie den Zuhörer von seiner Pflicht zur Verdrängung befreien. So könne im Fall der harmlosen Witze der Spieltrieb voll ausgelebt werden und im Fall der tendenziösen Witze müssten Sexual- und Aggressionstrieb nicht unterdrückt werden. „Aber findet sich diese Form der Ökonomie tatsächlich in den literarische Texten einer von jüdischer Intelligenz geprägten Literatur der Moderne?“ – Das fragt Burkhard Meyer-Sickendiek im Sammelband Der jüdische Witz. Zur unabgegoltenen Problematik einer alten Kategorie, den er zusammen mit Gunnar Och herausgegeben hat. Tatsächlich kommt Meyer-Sickendiek in seinem eigenen Beitrag über Alfred Döblin zu der These, dass jüdische Witze lange Zeit falsch gedeutet wurden. So sei Döblins Sarkasmus nicht mit Freuds Auffassung jüdischen Humors zu verstehen und stattdessen vielmehr im Zusammenhang mit Angst und Traumabewältigung zu erklären.

Den Herausgebern geht es vor allem darum, den jüdischen Witz in seiner ganzen Breite und seinem Variantenspektrum zu erfassen. Statt einer normativen Beschränkung ihres Themenbereichs auf populär-jiddische Anthologien, wie etwa diejenige Salcia Landmanns aus den 1960er Jahren, wird der jüdische Witz daher auch bei Autoren wie Heinrich Heine gesucht, für den an sich noch gar nicht geklärt ist, ob seine Art von Ironie überhaupt als „jüdisch“ zu klassifizieren ist. Ferner geht es nicht nur um jüdisches Theater in Berlin um 1900 – der sogenannte „Herrenfeld-Humor“ – und um jüdische Einflüsse im frühen Film sowie im deutschsprachigen Feuilleton, sondern auch um eine amerikanische Perspektive auf jüdischen Humor, was wiederum soziologisch mit den Umständen der Einwanderung der Juden nach Amerika abgeglichen wird. Schließlich wendet sich eine weitere Sektion des Bandes dem jüdischen Witz nach dem Holocaust zu, da er erstaunlicherweise die Shoah überlebt zu haben scheint. Entstanden ist dieses Konglomerat an Zugängen bei einer Berliner Tagung im Mai 2013. Zunächst ein Beispiel für einen Jeckes-Witz, also einen Witz über die deutschsprachigen jüdischen Einwanderer in Palästina, die von den dort vorher angekommen osteuropäischen Juden mit Argwohn betrachtet wurden:

In einer Jeckes-Gemeinschaft machte sich 1947 Besorgnis breit angesichts der Nachricht, dass die Vereinten Nationen eine Teilung Palästinas planten. Trost suchend, konsultierte die Gemeinde eines ihrer führenden Mitglieder, um ihm Insiderinformationen zu entlocken. ‚Keine Sorge‘, sagte er, ‚Nahariya (eine paradigmatische Jeckes-Siedlung) bleibt deutsch.‘

Witzig daran war für die Erzähler solcher Zuspitzungen, dass die neuen deutsch-jüdischen Einwanderer als überaus deutsch dargestellt wurden. Sie wurden deswegen verspottet, um ihnen derart implizit klarzumachen, dass sie sich der Mehrheit der vorher angekommenen Ostjuden anzupassen hätten. In jedem Fall hatten derartige Witze, die es in zahlreichen Abwandlungen gibt, viel mit Identitätskonstruktion zu tun, so Limor Shifman und Elihu Katz in ihrem Beitrag. Es ging darum, dass sich bestimmte Juden von anderen Juden abgrenzen wollten, indem sie deren Verhalten und Habitus verlachten.

Ganz ähnlich werden diese interjüdischen Abgrenzungsbestrebungen in vielen anderen Beiträgen des Sammelbands herausgestellt. So zum Beispiel in einem Beitrag über jüdisch-amerikanische Populärkultur, in dem es um das Phänomen des Jinglishen geht – eine Mischung zwischen dem osteuropäischen Jiddisch um dem Englischen. Während in den Jeckes-Witzen osteuropäische Juden in Israel deutschsprachige Juden verlachen, verlachen in den Jinglisch-Witzen osteuropäische Juden osteuropäische Juden. Doch sie verlachen nicht sich selbst: Vielmehr lacht darin eine jüngere Einwanderergeneration mit dem Jinglischen über ihre Elterngeneration. Die perfekt Englisch sprechende zweite Generation kann sich zwar noch mit ihren Eltern identifizieren und fühlt sich diesem Kulturkreis zugehörig, hat aber gleichzeitig bereits eine Trennung vollzogen. Urkomisch war für sie, wenn im Fernsehen im englischen Redediskurs plötzlich jiddische Wörter auftauchten, die im Übrigen von deutschen Lesern aufgrund der Nähe des Jiddischen zum Deutschen häufig gut verstanden werden. Exemplarisch für den jinglischen Witz sind etwa die Sendungen mit Milton Berle in den 1950er Jahren. Einmal hatte dieser zum Beispiel einen Matrosenanzug an und schrie dem grölenden Publikum zu: „I’m schvitzing in here!“ Und das Verrutschen seiner Perücke kommentierte er mit „My sheytal is falling!“ Was Jeckes- und Jinglisch-Witz damit teilen, ist ihre Verlachung anderer Juden zwecks eigener Identitätskonstruktion.

Dass der jüdische Witz sich damit nicht einfach pauschal gegen alle Juden, sondern häufig nur gegen bestimmte jüdische Gruppierungen richtet, wurde allerdings häufig nicht erkannt. Denn auch im deutschsprachigen Bereich gab es einige jüdische Theater-Aufführungen und Filme, die zwar von Juden stammten, sich aber scheinbar gegen Juden insgesamt richteten. „Das Wiener Publikum fände [darin] einen praktischen Ergänzungsdiskurs zu den Reden und Lehren des rabiat antisemitischen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger“. Das heißt, man unterstellte dem jüdischen Humor zu Beginn des 20. Jahrhunderts, er sei antisemitisch und schade damit den Juden. Lange Zeit wurde daher über einen sogenannten jüdischen Selbsthass oder zumindest eine starke spezifisch jüdische Neigung zur Selbstkritik spekuliert. Doch von amerikanischer Seite vernimmt man: „Der Erzähler ist nicht die Zielscheibe seines Spottes und Selbsterniedrigung keine klassische Form des jüdischen Humors.“

Trotzdem erfährt man in den Beiträgen von deutscher Seite, dass jüdischer Humor häufig antijüdische Klischees bediente, etwa im Film Sami kratzt sich (1919), in dem ein reicher jüdischer Zahnarzt seine hässliche Tochter zu verheiraten sucht und dabei in Konkurrenz gerät zu seinem Freund Isidor, der ebenfalls auf eine Verheiratung seiner eigenen Tochter aus ist. Darüber hinaus seien jüdische Klischees auch schon in den 1820er Jahren vom Juden Moritz Gottlieb Saphir reproduziert worden und das nicht zuletzt in seiner Parodie auf Lessings Nathan. Gunnar Och geht in seinem Erklärungsansatz für derartige jüdische Selbstverspottung davon aus, dass im jüdischen Witz Juden ihrer schwierigen Lage entgegengetreten seien. Juden seien zwar unterlegen gewesen, hätten sich dann aber in den Witz gerettet, unter anderem, um die Machtverhältnisse umzukehren, wie in folgendem Beispiel: Ein stotternder Jude wird von einem Richter wegen seines Stotterns verspottet. „Als der Richter ihn einen Schelm nennt, muss er sich die gestotterte Replik gefallen lassen: ‚Doch lange kein so großer als Sie – – sich vorstellen können.‘“ Hier geht es nun nicht mehr wie beim Jinglischen um interjüdische Verspottung zum Ziel der Abgrenzung, doch die Identitätsproblematik wird auch hier tangiert – nun in Auseinandersetzung mit dem Ressentiment der nichtjüdischen Bevölkerung.

Wird nun die Kategorie des jüdischen Witzes derart weit gefasst wie im vorliegenden Sammelband, wird es möglich, auch post-Holocaust Ironie mit zu berücksichtigen. Besonders drastisch nimmt sich das im Schreiben von Robert Menasse aus, der selbst einen jüdischen Hintergrund aufweist und der das Sprechen über den Holocaust karikiert. In seinem Drama Doktor Hoechst besucht der Titelheld Hoechst Auschwitz und wird dort wie folgt begrüßt:

Willkommen im Synonym-KZ! Auschwitz ist bekanntlich Synonym für alle Vernichtungslager, das KZ buchstäblich schlechthin, und hat zugleich doch eine eigene Qualität, es ist das Besondere im Allgemeinen, das Einzigartige, das für alle steht. Im Forbes-Ranking der grauenhaftesten Menschheitsverbrechen unangefochten auf Platz Eins, uneinholbar vor dem schlimmsten Gulag. […] Wir sind die Nummer Eins! Und jeder andere Massenmord und jeder andere Schreckensort bis heute ist nur halb so schlimm! Und jedes andere Verbrechen nicht so unerklärlich.

Wie man aus dem Beitrag des Sammelbands erfährt, geht es hier darum, mit „einer konventionalisierten (routinisierten und routinierten) Rede über die Shoah“ zu brechen. Ironie entsteht dadurch, dass die oftmals behauptete Nichtvergleichbarkeit des Holocausts bei Menasse grotesk übertrieben und zur eigenen Wichtigmachung benutzt wird. Im Übrigen finde sich aber auch noch eine andere Art von post-Holocaust Humor in Deutschland, nämlich im Gegenwartsfilm und -fernsehen, wo auf tradierte jiddische Folklore zurückgegriffen werde.

Der Band nimmt sich sehr facettenreich aus, indem er den jüdischen Witz durch verschiedene Jahrhunderte hindurch begleitet und dabei sowohl von deutscher als auch von amerikanischer Seite aus beleuchtet. Dabei handelt es sich laut Klappentext sogar um den ersten transatlantischen Versuch zu diesem Thema. Damit macht der Band neugierig auf weitere Forschung im Bereich jüdisch-amerikanisch-deutscher Identitätsgenerierung. In der Tat ist es erstaunlich, dass ein Thema, das für die deutsche (Literatur-)Geschichte derart zentral ist – man denke an den Beitrag deutsch-jüdischer Bürger zur deutschen Kultur – noch nicht aus globalerer Perspektive vertieft wurde. Der Sammelband von Meyer-Sickendiek und Och liest sich in diesem Sinne wie ein erster Schritt in eine richtige Richtung.

Titelbild

Burkhard Meyer-Sickendiek / Gunnar Och (Hg.): Der jüdische Witz. Zur unabgegoltenen Problematik einer alten Kategorie.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015.
360 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783770558926

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