Liebes-Theater und Totenbeschwörung

Joachim Meyerhoff beschließt mit „Die Zweisamkeit der Einzelgänger“ seine autobiografische Roman-Tetralogie „Alle Toten fliegen hoch“

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man fühlt sich als Leser auch bei diesem vierten und letzten Teil von Joachim Meyerhoffs vierbändiger Autobiografie über weite Strecken so gut unterhalten, dass man den alle Bände verbindenden Haupttitel Alle Toten fliegen hoch aus den Augen zu verlieren droht. Was als Programm am Wiener Burgtheater, dessen Ensemble-Mitglied Meyerhoff neben seinem Engagement am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg immer noch ist, begann, ist in seiner schriftlichen Form der Roman-Autobiografie auch der Versuch, sich von den eigenen Dämonen und Heimsuchungen, etwas weniger dramatisch formuliert: von den eigenen Toten zu befreien. Der um das entscheidende Wort der „Toten“ veränderte Kinderspiel-Spruch „Alle Vögel fliegen hoch“ mit der passenden Geste der emporgerissenen Arme ist nicht zufällig auch die letzte Einstellung und das Schlusswort des gesamten Zyklus. Den Abschied vom toten Bruder, vom Vater und den Großeltern verarbeitete Meyerhoff in den bisher erschienen Teilen. Die Familienmitglieder tauchen aber auch immer wieder als Erinnerungen auf und bilden das mentale Koordinatensystem von Meyerhoffs Lebenswirklichkeit. Liest man die Autobiografie als ernste Auseinandersetzung mit den für Meyerhoffs Lebensweg maßgeblichen Menschen und Begegnungen, so findet sich der zentrale Satz des Romans – vielleicht der ganzen Tetralogie überhaupt – ziemlich genau in der Mitte des Textes: „Ja, selbst meinen Toten gegenüber hatte ich ein schlechtes Gewissen, da ich am Leben war und nicht ununterbrochen an sie dachte.“

An Meyerhoffs lockeren Stil, seinen Wortwitz und den überbordenden Reichtum (manchmal auch schiefer) sprachlicher Bilder sowie aberwitziger und skurriler Personen und  Figuren-Konstellationen hat man sich mittlerweile gewöhnt. Unvergesslich und geistreich sind die Schilderungen seiner Großeltern in München und deren durch Wein- und Champagnergenuss überfeinerten, großbürgerlichen Lebensrhythmus. Man erwartet regelrecht von diesem letzten Band, wieder so gut und keinesfalls unter seinem Niveau unterhalten zu werden. Gleichwohl ist der letzte Band dieser Roman-Autobiografie nicht so gelungen wie die mittleren beiden (Wann wird es wieder so, wie es nie war, Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke).

Wie aber schon bei den ersten drei Bänden zeichnet sich auch der vierte und letzte durch das Spannungsverhältnis von komisch-grotesker Darstellung und eigentlich ernstem Inhalt und gravierenden Ereignissen aus. Das manifestiert sich vor allem in Meyerhoffs lockerem Stil und dem jugendlich-frischen Sound – wenngleich der Autor im vergangenen Jahr seinen 50. Geburtstag gefeiert hat. Bei allem Wortwitz, dem Sinn für Situationskomik – die aber nie ins Klamaukhafte abdriftet – ist diese Autobiografie zugleich eine ernste Coming of Age-Geschichte. Wir lesen nicht nur einen Lebensbericht, sondern auch eine Lebensbeichte. Die Handlungszeit setzt nach Meyerhoffs Schauspielerausbildung ein und kreist um seine ersten (festen) Liebesbeziehungen mit Hannah in Bielefeld und Franka in Dortmund, deren ‚Organisation‘ sich über drei Jahre hinzieht, ohne dass die beiden Parallel-Freundinnen etwas voneinander wissen. Natürlich darf im Rückblick auf ein solch turbulentes Gefühls- und Liebesleben nicht Gottfried Benns berühmtes Zitat zur Treue fehlen, das pflichtgemäß im Text zitiert wird und nach dem gute Regie besser ist als Treue. Wenn dem Protagonisten auch zuweilen die künstlerische Leitung über seine Liebesdramen zu entgleiten droht und es zu Beinah-Katastrophen zu kommen scheint, spielt ihm der Zufall immer wieder in die Hände und rettet ihn vor der Entdeckung und einer eigentlich längst fälligen Entscheidung, welches Leben er denn führen möchte.

Wie aber werden offenbar reale Personen und Ereignisse erzählt und in welchem Verhältnis stehen Wahrheitsgehalt und künstlerisch-ästhetische Freiheit? Zwei Dinge sind zunächst sicher. Erstens: Der Ich-Erzähler ist zweifellos Joachim Meyerhoff und die beschriebenen Lebensstationen entsprechen seinem offiziellen Lebenslauf. Zweitens: Hier wird alles andere als sachlich berichtet. Es stellt sich daher die Frage nach der Gattungsbezeichnung dieser Texte. Wir lesen die Autobiografie des Schauspielers Joachim Meyerhoff, der diese aber gleichzeitig als Roman überschreibt. Es ist natürlich eine Binsenweisheit, dass viele Romane autobiografisch sind wie auch umgekehrt sich nicht alle als Lebensbericht abgefassten Texte nur einer sachlich-objektiven Darstellung verpflichtet fühlen. Was aber soll man von einer als Roman angelegten Autobiografie halten und gibt es überhaupt so etwas? Richtet sich das nach dem Prozentsatz des Tatsächlichen und Nachprüfbaren, das geschildert wird, oder ist nicht vielmehr – was die Autobiografie-Forschung schon länger betont – von Anfang an sinnvoll, Abstand zu nehmen von der Vorstellung, Autobiografien seien ein weniger fiktionales Genre als Romane? Die Diskussion ist auch deshalb müßig, weil wir spätestens seit Johann Wolfgang von Goethe – aber eigentlich schon seit Augustinus’ Bekenntnissen – wissen, dass vermeintlich an der sachgerechten und ‚wahrheitsgetreuen‘  Schilderung ausgerichtete Autobiografien mindestens ebenso viel Dichtung wie Wahrheit enthalten. Der Verdacht liegt allerdings nahe, dass der Autor, Ich-Erzähler und Protagonist Meyerhoff hier zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen wollte: Einerseits sich selbst als Joachim Meyerhoff samt seines doch ungewöhnlichen und schillernden Lebensweges in den Mittelpunkt rücken und andererseits sich in der literarischen Darstellung  erzählerische Freiheiten zu bewahren . Damit ist gleichzeitig das Problematische des Zyklus insgesamt und dieses vierten Bandes im Besonderen angesprochen.

Zweifelsohne zeichnet sich auch Meyerhoffs Erzählen über die ersten Liebesbeziehungen (wieder) dadurch aus, dass er es glänzend versteht, Alltagsszenen zu schildern, ohne zu langweilen, Menschen und ihre Handlungen erzählerisch zu erfassen, ohne zu psychologisieren: „Andauernd wirkte das, was sie tat oder wie sie mich ansah, wie ein Zitat von etwas anderem.“

Die Konzeption dieses Ich-Erzählers, der ja auch der empirische Autor Meyerhoff und gleichzeitig Protagonist seiner rückblickend erzählten Lebensgeschichte ist, geht indessen nicht ganz so gut auf wie in den ersten drei Bänden. Funktionierte es in der Beschreibung der Kindheits- und Jugendjahre noch besser, die Distanz zwischen erzählendem Ich und erzähltem Ich möglichst gering zu halten, also den fünfzigjährigen Autor Meyerhoff im Hintergrund zu halten, so stört diese Technik im vorliegenden vierten Teil doch schon häufiger. An vielen Stellen wird dem Leser die Konstellation der Identität von Ich-Erzähler und Autor Meyerhoff schlagartig und mit einem flauen Gefühl bewusst. Immer dann nämlich, wenn das Buch nicht durch seine Sprache und Bilder überzeugt, sondern die Frage nach der Bedeutung und Qualität nicht nur des Textes, sondern auch dessen, was er erzählt, aufkommt. Man ist irritiert, von einem arrivierten Schauspieler zu lesen, dass Friedrich Schillers Räuber in Versen geschrieben seien. Was in den Vorgänger-Bänden noch durchweg amüsierte und überzeugte, die vollständige Konzentration auf die eigene Person in unterschiedlichen Stadien des Lebens, wird hier an manchen Stellen brüchig – gerade weil man weiß, dass man es nun mit dem doch ernst zu nehmenden erwachsenen Schauspieler Meyerhoff zu tun hat, der sich nicht mehr vollständig hinter einem naiven erzählten Ich verstecken kann. Erstaunlich wenig welthaltig ist der Roman daher auch geraten. Sieht man einmal von den Reaktionen und Zusammenhängen von Meyerhoffs Vortrag von Paul Celans Todesfuge ab, so erfährt man über das Theaterleben der späten 1980er und 90er Jahre in Bielefeld oder Dortmund genauso wenig wie über die politisch-sozialen und künstlerischen Vorstellungen des Ich-Erzählers. Gleichzeitig kokettiert Meyerhoff auf einer Sub-Ebene des Textes damit, diese Roman-Autobiografie heute als bekannter Schauspieler zu schreiben.

Das alles schmälert aber kaum das enorme Vergnügen, das man beim Lesen dieses teilweise chaotischen, immer aber von unverbrüchlicher Zuversicht und einem über allem stehenden Lebenswillen geprägten Textes empfindet. Meyerhoffs Roman-Autobiografie wurde immer wieder auch als Dokument und Produkt der um sich greifenden Bekenntnis- und Erinnerungsliteratur charakterisiert und nicht selten wurde der Vergleich mit Karl Ove Knausgård bemüht.  Vor diesem Vergleich allerdings muss man – trotz aller Kritik – Meyerhoff in Schutz nehmen: Die beiden Erinnerungszyklen haben außer der Rekapitulation des eigenen Lebens nichts miteinander gemein. Sprachlich, künstlerisch und gedanklich kann es die Prosa des Norwegers mit ihrem quälend-besinnlichen, unglaublich redundanten Habitus in keiner Weise mit Meyerhoffs geistreichem Zyklus aufnehmen.

Titelbild

Joachim Meyerhoff: Die Zweisamkeit der Einzelgänger. Alle Toten fliegen hoch. Teil 4. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017.
416 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783462049442

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