Gemäß dem Protokoll

Gedichte der Kaiserin von Japan

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Band Nur eine kleine Maulbeere, aber sie wog schwer, der 2017 im Herder Verlag erschienen ist, bietet die seltene Möglichkeit, 50 Gedichte der japanischen Kaiserin in deutscher Sprache lesen zu können. Am besten schlägt man das Halbleinenexemplar in dezenten Bordeauxtönen zunächst an beliebiger Stelle auf und  beginne seine Lektüre, ohne das Vor- und Nachwort zu berücksichtigen. Warum, wird im Folgenden erklärt.

Die Rezension von Gedichten aus Herrscherhäusern bleibt selten nur auf eine literaturkritische Wertung beschränkt. Dadurch, dass der Dichter auch Monarch ist, eröffnet sich eine politische Perspektive. Wenn es sich zudem um die Publikation des Werks eines noch amtierenden Staatsoberhaupts handelt, beeinflusst dies den Deutungshorizont in noch stärkerem Maße. Und bei der Kaiserin von Japan, geboren als Michiko Shōda, Ehefrau des Tennō Akihito und Mutter des Kronprinzen Naruhito, steht sozusagen ein altes Imperium hinter jeder Zeile.

Leseanleitungen

Die Präsenz dieses Imperiums wird vielleicht schon durch den Umstand verdeutlicht, dass die Gedichte den Leser nicht unmittelbar als die Stimme der ersten japanischen Kaiserin von nicht-adeliger Herkunft erreichen, sondern mit beigefügten Leseanleitungen in Form von Vorwort, Nachwort und Anmerkungen versehen wurden. Das Vorwort stammt vom Verleger Manuel Herder, das Nachwort von Haga Tôru, die Anmerkungen wohl vom Kaiserlichen Hofamt sowie die deutsche Übersetzung von Peter Pantzer, einem emeritierten Japanologen. Haga Tôru, Romanist, Komparatist und Japonismusforscher, ist seinerseits Professor Emeritus der Universität Tokyo und honoris causa Angehöriger des Forschungszentrums Nichibunken in Kyôto. Michikos tanka-Lyrik wird in der originalsprachlichen Fassung nicht in ihrer eigenen Handschrift, sondern in der Version des Kalligraphen Ishitobi Hakkô gleichsam gefiltert wiedergegeben.

Substanzielle philologische Kommentare wären per se eine willkommene Ergänzung zur Erschließung japanischer Poesie der höfisch-historischen Form des tanka. Hinweise auf Konnotationen oder auf weltanschauliche Hintergründe können zusätzlich hilfreich sein. Herders Einführung verlautbart jedoch bereits mit den ersten Sätzen eine Art von kultureller Demarkationslinie: Wabi und sabi bestimmten „die japanische Ästhetik“, Begriffe, die einem mittlerweile überholten Ostasienwissenschaftler wie Wilhelm Gundert (1880–1971) gemäß „unübersetzbar seien“. Beide Termini meinen, anders als hier suggeriert, keine unveränderlichen, geheimnisvollen Qualitäten. Sie sind Teil des Lehransatzes von Sen no Rikyû, eines berühmten Zen-Adepten und Spezialisten für Teezeremonie aus dem 16. Jahrhundert – wobei anzunehmen ist, dass eine hermetische Ebene ganz bewusst eröffnet wurde, um die Lehre als solche mit dieser Tiefendimension noch attraktiver zu gestalten;  im 20. Jahrhundert interpretierte man sie vor allem im Zusammenhang mit der Formulierung einer nationalen Ästhetik in neuen Variationen. Mit der Betonung des Nicht-Ganz-Verstehen-Könnens, einer gängigen Gedankenfigur früher Ostasienstudien, ist also dem anvisierten Bemühen um ein „besseres gegenseitiges Verständnis der großen Kulturen“ (Herder) im Grunde nicht gut gedient. Der Verleger möchte der japanischen Kultur auf diese Art seine Hochachtung ausdrücken. Sein Japanbild besteht offensichtlich aus einer genussvollen Alteritätserfahrung sowie aus Reiseeindrücken, die ihm als Begegnung „mit unglaublich viel Schönem“ präsent sind. Erinnert wird das klassische Japanrepertoire – vom „Bergtempel“ über die „Zen-Gärten“ bis hin zur Kalligraphie.

Die Sprache der gesamten Rahmung entstammt einer Rhetorik der Bildungseliten längst vergangener Dekaden. Die altväterliche Diktion des Vorworts findet sich im einigermaßen manierierten und im Sprachbild manchmal nicht ganz sicheren Übersetzungsdeutsch des Nachworts von Haga wieder. Es klingt folgendermaßen, wenn er die in der lyrischen Repräsentation geschilderten mütterlichen Gefühle zu erläutern versucht: „Obwohl Hiro ihr persönliches, geliebtes Kind ist, erfasste sie Ehrfurcht wie vor einer Kostbarkeit, weil der erste Sohn in Zukunft als Kronprinz und später als Tennô unausweichlich aus ihrer Nähe scheiden würde. Hingegen spricht das Gedicht über den zweiten Sohn, Prinz Aya, die Freude und Bewunderung einer Mutter darüber an, wie der kleine Körper schon in nur wenigen Tagen lebhaft mit Armen und Beinen umherschlägt, das Gesichtchen vor Gesundheit überschäumt und die verrunzelten Züge nach der Geburt im Nu verschwunden waren.“ Über Sayako, das dritte Kind Michikos, heißt es: „Dieser Kontrast unterstrich noch ihre Schönheit und zarte Eleganz, ihr roter Kimono schien fast wie ein Heiligenschein zu wirken.“

Während der Emeritus wiederholt den nationalen Muttermythos sowie eine diesem Ideal verpflichtete japanische Weiblichkeit rühmt, betont er, dass Kaiser und Kaiserin als „unpolitische Vertreter Japans gegenüber der Welt“ aufträten. Eine befremdliche Tonlage kennzeichnet seine Exegese indes, wenn er den Besuch des Kaiserpaars am „Banzai-Felsen“ auf der Insel Saipan schildert, an dem sich „angesichts der unwiderruflichen Niederlage japanische Soldaten, ebenso zahlreiche Frauen, mit Schwert oder Schusswaffe  selbst das Leben“ nahmen. Er vermutet, dass sich auch Frauen mit kleinen Kindern in den Tod gestürzt hätten. Ein vor Ort entstandenes Gedicht der Kaiserin erfährt deshalb folgende Deutung: „Wir haben erfahren, wie gütig die Kaiserin an ihre und andere Kinder denkt und wie jetzt die entschlossene Haltung der erwähnten Frauen ihr Herz bewegt.“ An anderer Stelle möchte Haga versöhnlich klingen. Er räumt ein, das Kaiserpaar habe nicht verschwiegen, „welches Leid Japan manchen Nachbarländern in der Vergangenheit bereitet hat“, womit er seine Aussage über die unpolitische Haltung des Kaiserpaares selbst relativiert. Dass das Ansehen des Landes, wie es sich im konservativen Diskurs darstellt, Vorrang hat, wird aus der Wortwahl ersichtlich; der Kommentator spricht etwa vom „fürchterlichen Erdbeben“, das 2011 Nordjapan heimsuchte. „Naturkatastrophen“ seien über Japan hereingebrochen und Michiko besuchte die Landsleute, um mit ihnen aus „ganzem Herzen Kummer und Schmerz zu teilen.“ Über die nukleare Havarie schweigt man.

Frau am Kaiserlichen Hof

Haga Tôrus Ausführungen zu Biografie und Person der Michiko echoen mit großer Wahrscheinlichkeit Vorgaben des Kaiserlichen Hofamtes. Das Mädchen Michiko, so wird kolportiert, habe ein Gedicht über Liebe und Opferbereitschaft beeindruckt, auf das sie in einem Buch über japanische Mythen und Legenden gestoßen sei. Als junge Ehefrau habe sie sich erstaunlich rasch und „mit Freude“ „die alteingesessenen Gewohnheiten“ der kaiserlichen Familie angeeignet. Diese Darstellung legt nahe, dass es für eine Bürgerliche – im Unterschied zu einer mit dem Hof vertrauten Person wie Prinzessin Nagako, Ehefrau des Shôwa Tenno Hirohito – eben gerade nicht einfach gewesen sein muss, sich dem höfischen Reglement zu unterwerfen, es andererseits bei ihr aber an der richtigen Einstellung nicht gefehlt habe.

Das sogenannte Kunaichô oder auf Englisch Imperial Household Agency bildet eine historische Linie mit dem im 8. Jahrhundert gegründeten Kaiserlichen Hofministerium (Kunaishō) und besteht aus über 1000 Beamten, die damit beschäftigt sind, das Kaiserhaus im In- und Ausland als Stätte japanischer Traditionalität zu positionieren. Den Mitgliedern der Kaiserlichen Familie obliegt es, den zahlreichen Vorschriften und Einschränkungen nachzukommen, was dem Individuum vermutlich ein Höchstmaß an Duldungsfähigkeit und Selbstverleugnung abverlangt, vor allem, wenn man nicht in diesem Milieu sozialisiert wurde.

Mit der Ankunft der bürgerlichen Ehefrau zu Beginn der 1960er Jahre hatte sich mancher wohl mehr Modernität im Kaiserhaus erwartet. In einem Interview anlässlich ihres ersten offiziellen Englandbesuchs im Mai 2007, aufgezeichnet von William Langley, bekannte die Monarchin jedoch, es sei oft eine große Herausforderung gewesen, jeden einzelnen Tag voller Leid und Angst zu überstehen. Die Frau ihres Sohns Naruhito, die geborene Owada Masako, Absolventin der Universitäten Harvard und Oxford mit besten Aussichten auf eine glänzende berufliche Karriere, wurde nach ihrer Heirat im Jahr 1993 durch das restriktive Reglement und die Erwartungen an sie als Mutter eines Thronfolgers ebenfalls so sehr beeinträchtigt, dass sie an einer Depression erkrankte. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund vermisst man zeitgemäße Begleitsätze zur Gedichtanthologie Michikos umso mehr.

Die Gedichte

Auf der Homepage des Kunaichô sind die offiziellen kulturellen Aktivitäten des Kaiserpaars aufgezeichnet. Das Dichten stellt einen Teil der Aufgaben in diesem Rahmen dar. Anlässe sind festgelegt wie zum Beispiel das Zeremoniell der gemeinsamen Rezitation von Gedichten (Utakai-Hajime-no-Gi) zu Beginn des neuen Jahres am 12. Januar. Im Jahr 2018 erzählt ein tanka der Kaiserin von den Mühen, die ihr Mann in der langen Zeit seiner Amtsausübung  auf sich genommen hat, ohne ein Wort darüber zu verlieren (Kataru naku/  Omoki wo oishi/ Kimi ga kata ni/ Soshun no hizashi/ Shizukani sosogu; http://www.kunaicho.go.jp/e-culture/utakai-h30.html). Die offizielle Exegese erläutert nur den Aspekt des stillen Ertragens der Pflicht, den Staat zu symbolisieren. Nicht erwähnt wird der Umstand, dass die ersten Frühlingssonnenstrahlen eventuell auf den Hoffnungshorizont anspielen, der sich dem Paar auftut, wenn der Kaiser mit seiner Abdankung  im April 2019 endlich von der Amtsbürde befreit sein wird.

Der Band Nur eine kleine Maulbeere, aber sie wog schwer beinhaltet nur wenige neuere Gedichte. Er umfasst eine chronologische Zusammenstellung von Lyrik aus mehreren Lebensdekaden, die von wichtigen Geschehnissen berichtet. So entspricht es dem Zeremoniell des Hofs, wenn die Kaiserin über die Geburt ihrer Kinder sowie über die Schwangerschaften ihrer Schwiegertöchter schreibt. Zu Masako wird Ende November 2001 notiert: „Die liebenden Gedanken fliegen/ zur werdenden Mutter hin,/ in hoffender Erwartung an das Haus gebunden./ An diesem Abend/ braust der erste kalte Wintersturm.“ Thematisiert werden zudem Reiseeindrücke, Besuche von Kinderheim und Sanatorium, Todesfälle, interne Katastrophen und internationale Ereignisse wie der Fall der Mauer in Berlin 1989.

Haga Tôru verspricht in seinem Kommentar mit dem Titel Unser Stolz und unsere Freude. Die Gedichte der Kaiserin Michiko, der im Übrigen im Original für die Prosa- und Poesiesammlung Ayumi (Vorangehen) verfasst worden ist, einen „Einblick in das Leben der Kaiserin.“ In der Anmerkung des Übersetzers Pantzer findet sich die Aussage, es handele sich bei den Texten nicht um „Privatgedichte“, sondern um Werke, die „bewusst an die Öffentlichkeit gelangten.“ Michikos tanka bewegen sich vielleicht „im Dazwischen“, wie es ein Germanist diplomatisch formulieren würde.  Einige Gedichte sind der Person des Kaisers gewidmet. In ihnen kann ein winziger Freiraum wahrgenommen werden,  in dem so etwas wie persönliches Gefühl aufscheint. Ein anderes Gedicht durchbricht sozusagen den irdischen Horizont, um in die Weite des Alls vorzudringen – ein Gruß der Kaiserin an den Astronauten Wakata Kôichi, der 1996 mit dem Spaceshuttle Endeavor einen Weltraumflug absolvierte. Wakata schickte vier Jahre später aus der Discovery eine lyrische Antwort an den Hof zurück. Selbst wenn der Grußaustausch vom Hofprotokoll geplant wurde, kann er doch als origineller Transfer von kulturellen Praktiken aus dem Altertum in die Technomoderne gesehen werden, dem  aus verschiedenen Gründen auch ein gewisser humoristischer Beiklang innewohnt.

Der Kaiserin gebührt Respekt für die lyrische Lebensleistung sowie für ihre würdige Performanz. Ob ihre Exegeten, alle männliche Vertreter der Elite, einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der japanischen Kultur geleistet haben, entscheidet der Leser am besten selbst. Bislang hat sich auch das deutsche Feuilleton mit reichlich Lob auf ein Japan, in dem die Kaiserin persönlich dichtet, nicht gerade durch Kenntnisreichtum und sensible Beobachtungsgabe hervorgetan. Kaiserliches Dichten ist in Japan jedenfalls höfische Pflicht und wird vom Kunaichô eingefordert – ob man in poetischer Laune ist oder nicht.

Titelbild

Michiko: Nur eine kleine Maulbeere. Aber sie wog schwer.
Übersetzt aus dem Japanischen von Peter Pantzer.
Herder Verlag, Freiburg 2017.
144 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783451312205

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