Mit Rechten reden?

Die jüngste Debatte um Uwe Tellkamp zeigt, wie verfahren der gesellschaftliche Diskurs mittlerweile ist

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Seit einigen Wochen – dank mehrerer Artikel in Welt und Welt am Sonntag – kursiert das Gerücht, der Suhrkamp-Verlag verweigere die Publikation von Uwe Tellkamps neuem Roman, der den Titel Lava tragen soll und der Nachfolger des hochgelobten Buchpreisgewinners und Bestsellers Der Turm sein wird. Tatsächlich taucht Lava im Herbstprogramm des Verlags nicht auf, die offizielle Begründung jedoch suggeriert ein normales Vorgehen, sei doch, so der Verlag, weder das Manuskript fertig lektoriert noch der Roman seitens des Autors vollendet. Der Autor jedoch betonte unabhängig davon in der jüngsten Vergangenheit mehrfach, so die Welt am Sonntag, sein Manuskript sei sehr wohl fertig und einer Publikation im Herbst stehe somit nichts im Wege, zumal ja die Präsenz dieses erwarteten Verkaufsschlagers und mit Sicherheit kontrovers diskutierten Romans auf der Frankfurter Buchmesse eigentlich ein Muss ist.

Mittlerweile ist er aber von dieser Linie wieder abgekehrt und spricht davon, das Buch bis zum Frühjahr 2021 publikationsfertig zu machen. So liege, schreibt Richard Kämmerlings in der Welt am Sonntag, die Vermutung nahe, der Verlag wolle das Buch überhaupt nicht veröffentlichen und suche nach Wegen, noch etwas Zeit zu gewinnen, bevor dies mit einer hinreichenden Begründung der Öffentlichkeit kommuniziert werden kann. Suhrkamp jedoch bekräftigt, das Buch sei im Lektorat und werde nun eben erst im Frühjahr 2021 erscheinen.

Die Welt am Sonntag jedenfalls hat in zwei aufeinanderfolgenden Ausgaben den vermeintlichen Literaturskandal dargelegt und mehrere Schriftseller sowie andere Kulturschaffende zur Causa Tellkamp befragt; die Meinungen, ob der Verlag – was ja schließlich sein gutes Recht ist – das Buch nicht veröffentlichen soll, gingen, wie zu erwarten war, stark auseinander. „Herr Tellkamp hat sich in dieses Umfeld begeben, da hat ihn auch niemand zu genötigt. Das ist seine freie Entscheidung, kann er machen“, sagte die Dresdner Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler dem Deutschlandfunk. „Wenn der Suhrkamp-Verlag ihn dann nicht mehr veröffentlicht – wie er das auch mit Martin Walser gemacht hat, mit, finde ich, guten verlegerischen Gründen – dann sehe ich hier das Problem nicht.“ Tatsächlich wird der Welt mittlerweile vermehrt vorgeworfen, ohne Kenntnisse weder des Romans noch der internen Vorgänge bei Suhrkamp, einen Literaturskandal inszenieren zu wollen, wo noch keiner sichtbar sei. So schrieb Adam Soboczynski in der Zeit am 13. Februar einen süffisanten Artikel über diesen Versuch der Skandalisierung, der zunächst einmal jeglicher Grundlage entbehre. Nicht allerdings ohne darauf hinzuweisen, dass es sich bei Tellkamp tatsächlich um einen „ansonsten fast nur noch in Rechtsaußen-Medien publizierenden Autor“ handle.

Die Ursache für die Skandalisierung liegt letztlich zuvorderst in Tellkamps in vieler Augen zunehmend erratischem Verhalten in der Öffentlichkeit sowie auch dem ‚sozialen Sprengstoff‘, der in dem Roman stecken könnte, wenn der Autor die Thesen, die er gerne auf Lesungen und Podiumsdiskussionen verbreitet, als Grundlage für seinen neuen, ausufernden Gesellschaftsroman verwenden würde. So vermutet Aleida Assmann auf die Nachfrage der Welt am Sonntag, dass Tellkamp wohl vorhabe, die titelgebende, glühende Lava über Deutschland zu gießen, woran ihn so oder so keiner hindern könne. Seit Jahren ist Tellkamp, der sich in einem Interview 2012 noch gegen das Konzept des engagierten Autors ausgesprochen hatte, immer wieder als Vertreter neurechter Positionen aufgetreten.

So sprach er im März 2018 im Rahmen einer Podiumsdiskussion zum Thema Meinungsfreiheit von „Gesinnungskorridoren“ und beklagte sich darüber, dass Flüchtlinge Eindringlinge in die deutschen Sozialsysteme seien. Auch unterzeichnete er die Charta 2017, in der im Zuge der Proteste gegen rechte Verlage auf der Frankfurter Buchmesse mehr Meinungsfreiheit gefordert wurde. Die Dresdner Band Bergen widmete ihm daraufhin sogar ein boshaft-ironisches Lied, das man eigens auf der Website der Gruppe herunterladen konnte. Andererseits folgte in den Medien auch eine rasche Etikettierung des Autors, wie der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen im Interview mit dem Spiegel kritisierte: „Jemand sagt etwas, aber dann beginnt kein Gespräch, kein suchendes, um Nuancen bemühtes Verstehen. Dann beginnt die Sofort-Etikettierung der anderen Position, die Empörung über die Empörung der jeweils anderen Seite. ,Seht her! Ihr wollt nur erziehen! Nur stigmatisieren! Nur moralisieren!‘“

Es fallen in einem offenen Brief Tellkamps (der sich wiederum auf einen offenen Brief von Hans-Peter Lühr und Paul Kaiser an die Buchhändlerin Susanne Dagen aus dem Elbhangkurier bezieht), der – ausgerechnet – im Online-Auftritt von Götz Kubitscheks Zeitschrift Sezession veröffentlicht wurde, Sätze wie diese: 

Oft habe ich den Eindruck, die politisch sich links oder bei den Grünen verortenden Tonangeber in weiten Teilen unserer Medien und unserer Kulturbranche sind es, nicht die paar rechten oder als rechts verschrienen Einmannunternehmen, die auf kleinen Blogs oder in kleinen Zeitschriften gegen die Wucht des Common sense anschreiben, wie ihn bei Themen wie Migration, Klimawandel, Europa, Trump Spiegel, Spiegel online, ZEIT, Zeit online, Süddeutsche, selbst BILD, vertreten, FAZ und Welt mindestens gespalten, Focus, taz, Tagesspiegel, Berliner Zeitung, Redaktionsnetzwerk Deutschland, das Regionalzeitungen wie HAZ, LVZ und DNN beliefert, Hamburger und Dresdner Morgenpost, Sächsische Zeitung usw., von Talkshows und überhaupt dem ÖRR zu schweigen.

Und später:

Wer grenzt aus? Wohin neigt die Berichterstattung (so es denn eine ist) der meisten Journalisten in den meisten unserer Medien, wenn Themen wie Migration, Heimat, Nation, deutsche Kultur angesprochen werden – nach links und grün oder nach rechts? Das ist keine bloße Ansichtssache, dazu gibt es Untersuchungen, sie zeigen die Schlagseite recht deutlich.

Je nachdem, was man eben liest, sollte man hinzufügen, denn der Vorwurf der manipulierten Mainstream-Medien klingt hier nur allzu deutlich durch. Ganz abgesehen davon, dass man sich schon wundert, dass ein Autor, der sich darüber beschwert, in die rechte Ecke gestellt zu werden, einen Beitrag gerade in der Sezession veröffentlichen lässt: Was in seinem Brief nicht auftaucht, ist die Frage danach, warum diese vermeintlichen Ausgrenzungsversuche vorgenommen werden, was wiederum zum Kern der derzeitigen Debatte führt, der leider viel zu oft unter den Tisch gekehrt wird: Sind Menschen, die sich – um es mal vorsichtig zu formulieren – streng affirmativ zu, ich zitiere einfach mal Tellkamp, „Heimat, Nation, deutsche(r) Kultur“ und kritisch zu Migrationsfragen positionieren, nicht auch meinungsberechtigt, zumal im intellektuellen Umfeld der Kunstschaffenden?

Auch in Bezug zu Kubitscheks Antaios-Verlag möchte sich Tellkamp nicht unbedingt positionieren (während er den Brief auf dessen Portal veröffentlicht), stellt aber fest, dass Kubitschek sich an geltende Gesetze halte, und so lange er gegen diese nicht verstoße, sei eine pauschale Verurteilung nicht angemessen. Soweit kann man diese Positionen mitunter teilen. Später im Brief bedient sich Tellkamp jedoch einer Rhetorik, die jene im neurechten Lager viel beschworene Ausgewogenheit entscheidend konterkariert. Zunächst erlaubt er sich einen kritischen Einwurf zur Assimilation von Migranten: „Jeder Zuwanderer bringt sein Herkommen mit, seine Kultur; die oft beschworene Integration, gar Assimilation ist, blickt man auf die inzwischen etablierten Parallelgesellschaften, mehr Wunschdenken als Realität.“

Recht hat Tellkamp, wenn er anprangert, dass ein solch kritischer Satz in diesen aufgeregten Zeiten einem Autor bereits den Vorwurf einbringen kann, rechts zu sein, obwohl tatsächlich nur die subjektive Wertung eines gesellschaftlichen Zustands geäußert wird. Jenseits von „das wird man doch noch sagen dürfen“ wird hier ein kritischer Punkt angesprochen, den zu diskutieren in einer demokratischen Gesellschaft durchaus möglich sein sollte, ohne gleich ein mögliches Stigma angeheftet zu bekommen. Dies ist auch die Argumentation von Thilo Sarrazin bis hin zum ‚Flügel‘ der AfD, die zum Mantra der „Meinungsdiktatur“ führt. Doch wie häufig in der Argumentationsweise der oben Genannten geht der Gedanke auch bei Tellkamp weiter: „Die von Lühr und Kaiser zum Kennenlernen empfohlenen netten Menschen im Café Gustav sind gewiß nicht die, die in Freiburg, Offenburg, Kandel, Köln und Chemnitz Einstellungen zu ihren Gastgebern offenbaren, die viele Menschen nicht von ungefähr empören.“

Durch den ironischen Bruch im Satz, wenn plötzlich von „netten“ Menschen die Rede ist, welche die beiden Autoren „zum Kennenlernen empfohlen“ hätten, kippt die Aussage ins Sarkastische, was einen Überlegenheitsgestus offenbart, mit dem der Autor für sich beansprucht, die Diskurshoheit zu besitzen, zumal er auf reale Ereignisse der jüngsten Vergangenheit verweist, indem er mittlerweile zu sprachlichen Codes gewordene Städtenamen nennt, in denen sexuelle Übergriffe von Migranten auf Frauen stattgefunden haben („Köln“, „Freiburg“) oder gar Morde („Chemnitz“). Der Gedanke schließt mit dem bewährten irrationalen Angriff auf die vermeintliche Janusköpfigkeit des deutschen Feminismus und auch noch auf die aktivistische Linke: „Haben #unteilbar und unsere Feministinnen gegen die Vergewaltigungen protestiert? Gegen die inzwischen alltäglich gewordenen Messerstechereien? Ich kann mich nicht erinnern.“

Mit dem letzten Satz inszeniert sich der Autor als entscheidende Instanz, die in einem Überlegenheitsgestus über die seiner Meinung nach verlogene Debatte richtet: ‚Ich erinnere mich nicht, also ist es so nicht gewesen.‘ Das heißt kurz gefasst: Anstatt einen kritischen Gedanken zur Migrationsfrage intellektuell weiterzuentwickeln und eine Debatte zu eröffnen, die durchaus geführt werden kann, beschränkt sich Tellkamp auf den von Daniel Pascal Zorn, Per Leo und Maximilian Steinbeiss in ihrem vieldiskutierten Band Mit Rechten Reden (2018) beschriebenen reflexartigen Impuls der Skandalisierung mit Hilfe von fragwürdigen rhetorischen Strategien wie dem confirmation bias und der Anwendung von Tu-quoque-Argumenten. Aus diesen Strategien spricht implizit ein Hass, über dessen Herkunft nun gemutmaßt werden kann.

Stattdessen hätte sich Tellkamp als Schriftsteller und ‚public intellectual‘ durchaus mal als abseits vom üblichen, die Argumente entwertenden Sarkasmus nüchtern argumentierender Vertreter von Meinungen positionieren können, die nicht dem linksliberalen Spektrum entspringen und vielleicht auch ein Zeichen in der ihm allen Anschein nach wichtigen Debatte gesetzt. Denn dass es dem Autor, wie vielen anderen ostdeutschen Bürgern auch, um ein tief verwurzeltes Trauma in Bezug auf die Meinungsfreiheit in der DDR geht, sollte nicht vernachlässigt werden. Wenn die Folge daraus eine Affirmation nur neurechter Ideologie ist, muss darüber diskutiert werden. Warum es Tellkamp einen derartigen Spaß bereitet, zu agitieren, sollte jedoch ebenfalls hinterfragt werden. Nur kurz nach der umstrittenen Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten jedenfalls erklärte er bei einer Lesung die Blumenstrauß werfende Linken-Fraktionschefin Susanne Hennig-Wellsow zu derjenigen, die sich wohl an die neuen demokratischen Sitten in Deutschland noch nicht gewöhnt hätte.

In Bezug auf die Berichterstattung zu Lava wittern nun eher dem rechten Spektrum zuzurechnende Publikationsorgane jedenfalls eine Kampagne der Welt am Sonntag gegen den Autor, mit dem ja nicht einmal gesprochen worden sei. Wie auch in der Zeit wurde in der Süddeutschen Zeitung kritisiert, dass die dem Springer-Verlag zugehörigen Zeitungen einen Literaturskandal zu konstruieren suchten, wo keiner zu erkennen sei, zumal auch sie nicht mit Sicherheit sagen können, worum es in Lava nun tatsächlich ginge. Die Auszüge, die Tellkamp bei Lesungen vorgetragen hat, können ein Werk von mutmaßlich epischen Dimensionen ja nicht hinreichend repräsentieren, auch wenn diese vorgetragenen Passagen darauf hindeuten, dass ein Teil der Handlung in einem von großen Migrationsproblemen heimgesuchten, fiktiven Stadtstaat namens Treba spielt.

Allerdings ist es nicht von der Hand zu weisen, dass Tellkamp sich immer mehr dem neurechten Lager annähert; im September gab er etwa Götz Kubitscheks Zeitschrift Sezession ein Interview; auf deren Website wurde auch zuletzt darauf hingewiesen, dass er im Rahmen einer Veranstaltung der rechtskonservativen Zeitschrift Tumult auftreten werde (die jedoch immer wieder verschoben werden musste, weil sich keine Räumlichkeit fand). Kubitschek selbst kührte Tellkamp zum Märtyrer, indem er ihm, so Jonas Schick in seinem Tagungsbericht im Online-Auftritt der Sezession, die Notwendigkeit zur „inneren Emigration“ als Folge der passiven Zensur in unserer vornehmlich offenen Gesellschaft attestiert. Für die März-Ausgabe von Tumult ist wiederum ein Tellkamp-Beitrag angekündigt.

Kurz gesagt: Tellkamp scheint aktiv die Nähe rechter Gruppierungen zu suchen, die ihn sichtlich begeistert in ihren Reihen aufnehmen würden. Tatsächlich ist die Kontextualisierung seiner Aussagen zweischneidig: Einerseits ist es sein gutes Recht, von „Meinungskorridoren“ zu sprechen und sich Sorgen um das deutsche Sozialsystem zu machen, auch wenn sich fragen lässt, ob er das mit Recht tut. Andererseits fragt man sich schon, warum er diese gesellschaftskritischen Überzeugungen erstens im Rahmen politisch eindeutig positionierter Veranstaltungen und Publikationen in die Welt trägt und zweitens diese, so zumindest die Welt am Sonntag in Bezug auf den Inhalt von Lava, zum literarischen Thema macht.

Ob nun Lava tatsächlich die neurechte Kampfschrift geworden ist, welche die Welt am Sonntag am Horizont auftauchen sieht, oder doch ein vielschichtiger, preiswürdiger Gesellschaftsroman wie Der Turm, kann frühestens im Frühjahr 2021, also in über einem Jahr, festgestellt werden. Doch eine, vielleicht ketzerisch erscheinende Frage sollte erlaubt sein: Wenn es denn so wäre; wenn Uwe Tellkamp nun qua Gesinnung und ästhetischem Programm sich dem politisch rechten Spektrum der Gesellschaft zugehörig fühlt (das ja wahrlich keine kleine Randgruppe mehr darstellt): Könnte man damit nicht irgendwie umgehen? Sind nicht die Diskurse, die er (mutmaßlich) in Lava im Rahmen einer literarischen Fiktion darstellt, so zentral für unsere Gesellschaft, dass ihnen eine literarische Behandlung gebührt? Und muss diese unbedingt auf Basis linksliberaler Überzeugungen geschehen, muss der Autor also politisch ‚unzweideutig‘ zuzuordnen sein? Das sind die Fragen, die an der Tellkamp-Debatte (aber auch an der Handke-Debatte im Rahmen der Nobelpreisvergabe) für die Literaturwissenschaft und -kritik so interessant sind.

Denn immer häufiger vernimmt man die Frage, was aus den engagierten Schriftstellern geworden ist, die wir vor allem in den 1960er und 1970er Jahren im deutschsprachigen Raum noch hatten: Günter Grass, Heinrich Böll, der Schweizer Max Frisch, um nur die Bekanntesten zu nennen – diese Autoren waren für ihr politisches und soziales Engagement zeitweise nahezu ebenso bekannt wie für ihre Romane; sie repräsentierten das, was man gerne als „moralischen Kompass“ bezeichnete. Sie verarbeiteten die Erfahrungen aus diesem Engagement selbstredend auch in ihren Texten. Mit der neuen Innerlichkeit, später der Popliteratur, aber letztlich vielleicht einfach nur mit der schwindenden Bedeutung von Literatur – ja, von Kunst überhaupt – in unserem digitalen Zeitalter, sind diese Kompasse nach und nach zumindest in der breiten Öffentlichkeit weitestgehend verschwunden.

Was bedeutet ein Schriftsteller heute noch im Kontext einer immer aufgeregteren Gesellschaft? Welche Schriftsteller taugen in den Augen der Programmmacher denn noch für Talkshows und Diskussionsrunden? Der Name Juli Zeh fällt einem etwa ein, doch fragt man einen Durchschnittsbürger, wer Juli Zeh ist, wird man, trotz der einfachen Konsumierbarkeit ihrer Texte, wohl meist in ratlose Gesichter blicken. Andere Autoren, die zwischen den Polen des künstlerischen Anspruchs und des kommerziellen Erfolgs bzw. des Mainstreamappeals balancieren, wie vor allem Daniel Kehlmann, kommen für so eine Rolle nicht zwingend in Frage. Und jetzt kommt tatsächlich jemand wie Uwe Tellkamp, der sich immer eindeutiger politisch positioniert und mit ihm die Frage, ob er nicht auch Teile der Gesellschaft spiegelt und somit vielleicht eine zukünftig noch häufiger auftretende Figur des neuen politischen Autors ist.

Das heißt natürlich nicht, dass deutschsprachige Literatur gegenwärtig nicht mehr politisch ist, im Gegenteil; die Auseinandersetzung mit den aktuellen Brandthemen ist in Zeiten immer schneller werdender Verwertungsketten gefragter denn je. Aber was wäre, wenn ein solcher Autor eben nicht wie gewohnt aus dem linksliberalen, sondern aus dem rechten – nicht dem bürgerlich-konservativen, wohlgemerkt, sondern aus dem rechten – Umfeld kommen würde? Diese Frage versteht sich dabei weniger als eine Forderung nach einem solchen rechten Autor, sondern als eine Forderung nach der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dieser Frage.

Man tut sich ja schon bei liberalen Autoren schwer, die abweichende Meinungen vertreten: In den USA, eine bis dato weitaus tiefer gespaltene Gesellschaft als die Deutsche, war der Aufschrei jedenfalls recht groß, als der rechten Gedankenguts unverdächtige Jonathan Franzen seine viel beachteten Aufsätze zum Klimawandel publizierte. Weil sich Franzen nicht dem herrschenden Diskurs anschloss, bzw. seine eigenen Schlüsse aus dem Umgang mit dem Klimawandel zog und die Linke gar für ihren in seinen Augen realitätsfremden Aktivismus kritisierte, aber durchaus andere Lösungen anbot, wurde er scharf angegangen und schnell in die Ecke der Klimaleugner gedrängt. Man kann Franzens Thesen jetzt für dämlich halten, oder für naiv, oder einfach nur für realitätsfremde Gedankengänge eines Menschen, der eindeutig zu viele Romane gelesen hat, doch politisch motiviert sind sie sicherlich nicht. Wenn also eine polarisierte Gesellschaft von einem Intellektuellen verlangt, sich gefälligst eindeutig zu einem der politischen Lager zu bekennen, läuft etwas falsch. Diese Tendenz ist auch in Deutschland unverkennbar, sie erobert die Sprache, die Hörsäle der Universitäten und erreicht langsam auch die Literatur.

Als Christian Kracht den Roman Imperium veröffentlichte, folgte ein langer, scharfer Artikel von Georg Diez im Spiegel, in dem er Kracht als „Türsteher rechten Gedankenguts“ bezeichnete, der es billigend in Kauf nehme, dass rechtsextreme Ideen aus seinem Werk in die Gesellschaft einfließen. Es folgte eine umfangreiche Debatte, die später von Suhrkamp sogar in einem eigenen Band veröffentlicht wurde. Nur wenige schlossen sich nicht dem allgemeinen Tenor an, dass Diez‘ Aussagen einfach nur infame Unterstellungen seien, vor allem, weil dieser nicht die Rolle von Autor und Erzähler – literaturwissenschaftliches Basiswissen schließlich – unterscheiden könne. Tatsächlich aber war Diez vielmehr einer der wenigen, die sich nicht auf eine simple werkimmanente Lesart des Romans beschränkt haben, sondern die Kontexte studierte, vor allem den fragwürdigen Briefwechsel Krachts mit David Woodard, 5 Years, den der Wehrhahn-Verlag in etwa zeitgleich veröffentlicht hatte. Hier wird die Faszination für totalitäre Systeme offen, wenn auch doppelbödig, ausgesprochen, die ursprüngliche Idee zu Imperium kann tief in die Wälder Paraguays und ihrer Nazi-Einwohner zurückverfolgt werden und überhaupt wird ziemlich viel geschrieben, was politisch ziemlich zweideutig aufgefasst werden kann.

Dass dies alles möglicherweise ein ästhetisches Spiel war, eine Art Überaffirmation, ist aus heutiger Sicht recht wahrscheinlich, doch dieses Spiel mit rechtem Gedankengut, das ein rein ästhetisches war und keinerlei kritische Auseinandersetzung oder aber eine ironische Brechung anbot, durfte einfach nicht sein. Dass Kracht als Autor von einer überwältigenden Mehrheit der an der Debatte Beteiligten verteidigt wurde, offenbarte jedoch erst recht das Dilemma: Das, was Diez dem Autor unterstellt, durfte einfach nicht sein, weil es unanständig ist. Und so wurde versucht, Imperium dann doch gegen den Strich zu lesen, als ironische Kritik an totalitären Systemen etwa, weil es, wie gesagt, einfach nicht sein darf, dass ein deutscher Schriftsteller mit rechter Ästhetik kokettiert; selbst, wenn dieses Kokettieren einen rein künstlerischen, möglicherweise postmodernen Zweck verfolgt, der eine Bereitschaft des Lesers impliziert, sich auch auf kontextuelle wie paratextuelle Ebenen einzulassen.

In beiden Fällen, Tellkamp wie Kracht, so unterschiedlich sie auch sein mögen, kann man indes ein fundamentales Problem in Bezug auf die Beschäftigung mit der immer stärkeren Präsenz rechten Gedankenguts in der deutschen Gesellschaft sehen. Dabei ist es erstmal sekundär, ob die Autoren politisch überhaupt als rechts einzuordnen sind; bei Kracht scheint das Problem eher gewesen zu sein, dass für den Leser keine Katharsis in Form einer gesellschaftskritischen Intention erfolgte und sein ästhetisches Spiel immer mit einem politischen Restzweifel behaftet blieb, was ja wahrscheinlich genau seine Intention war, denn das System Kracht funktioniert schließlich – in jeglicher Hinsicht – über die Uneindeutigkeit, das Rätselhafte, jener Unmöglichkeit, die Person des Schriftstellers einzufangen.

Dass hingegen jemand wie Tellkamp – seiner Biographie nach immer ein ‚Querkopf‘, der sich, auch dies ist legitim, keinem System anpassen wollte – sich plötzlich jedoch politisch positioniert und Missstände anprangert, die seiner Meinung nach in diesem Land herrschen, und er als Erfolgsautor sicher sein kann, gehört zu werden, seine Aussagen jedoch nicht ins linksliberale Meinungsspektrum passen, sondern teilweise die Ideologie der Neuen Rechten spiegeln, scheint für das kulturelle Deutschland ein Schock zu sein. Aber warum eigentlich? Man hatte provokante Thesen ja in der jüngeren Vergangenheit öfter, Botho Strauß mit seinem Anschwellenden Bocksgesang, Martin Walser trat auch prominent in Erscheinung, aber hier lässt jemand nicht einfach nur mal eine kontroverse These fallen, er spielt das Playbook der Neuen Rechten durch und wird, wie gesehen, entsprechend in der Sezession und anderen Organen nicht nur publiziert und gewürdigt, ja, sogar gefeiert. Wie also damit umgehen?

Würde man mit etwas mehr Gelassenheit und Interesse der von rechts gewünschten Ausdehnung des Diskursrahmens in die Hände spielen? Würde hier ein Automatismus in Kraft treten, der immer extremere Positionen auch im intellektuellen Millieu hoffähig macht? Das weiß man natürlich erst, wenn es soweit ist.

Vielleicht kommt die Wut, die aus den oben zitierten Zeilen Tellkamps spricht, auch aus dem Wissen um eine vorschnelle Ablehnung seiner Position. Vielleicht wird er im Frühjahr 2021 mit Lava doch einen fruchtbaren Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte liefern, der mitunter polarisierend wirkt, eine bestimmte Haltung abbildet, aber gerade deswegen zu einer Auseinandersetzung jenseits der eigenen (intellektuellen) Filterblase einlädt. Realpolitik – und das wurde uns mit der Wahl in Thüringen allzu deutlich vor Augen geführt – ist ja bekanntermaßen komplexer als es von Außen den Anschein hat, und ist es nicht die Rolle der Literatur, genau diese Komplexität in all ihren Facetten abzubilden? Wenn man den Bedeutungsverlust von Literatur bejammert, wäre nicht eine meinungsstarke, mitunter polarisierende Literatur genau das Richtige, um Debatten zu entfachen, die letztlich dazu führen können, Missstände zu beseitigen?

Glaubt man an die Fortsetzung des gegenwärtigen gesellschaftlichen Trends, werden in Zukunft noch mehrere ernstzunehmende Schriftsteller auftauchen, deren politische Gesinnung rechts von der Mitte liegt. Die Debatte um die Romane Michel Houellebecqs zum Beispiel zeigt jedoch, dass eine Auseinandersetzung damit jenseits von „ist er jetzt wirklich rechts oder ist das ironisch gemeint?“ durchaus möglich ist und fruchtbarer sein kann als das stete Anwerfen der Affektmaschine. Man muss es ja nicht gleich mögen.