Mythos Fair Play

Ansgar Mohnkern hinterfragt in seinem Essay „Einer verliert immer. Betrachtungen zu Fußball und Ideologie“ die Selbstverständlichkeiten des Spiels

Von Manuel ClemensRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Clemens

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinen Mythen des Alltags beschreibt Roland Barthes Gegenstände unseres Alltags, die uns ihre Aussagen so selbstverständlich präsentieren, als seien diese naturgegeben. Diese scheinbare Natürlichkeit vergleicht er mit dem Mythos. Ein solcher mythischer Gegenstand des Alltags kann zum Beispiel das Kinderspielzeug sein. Für das Kind hat es zwar nur eine spielerische Bedeutung, für die Erwachsenen dagegen einen präfigurierten Sinn (Kinder darauf vorbereiten, Dinge als selbstverständlich zu akzeptieren), den die Kinder nicht bemerken, aber unbewusst aufnehmen.

Auf die Erfahrung einer solchen unhinterfragbaren Natürlichkeit spielt Ansgar Mohnkern an, wenn er über Ideologie und Fußball schreibt: Denn Fußball, zentraler Bestandteil des Alltags vieler Menschen, präsentiert sich mit seinen – außeralltäglichen – Besonderheiten und Spannungen ebenfalls als Mythos. Da nun diese Besonderheiten und Spannungen Teil der Regeln des Spiels sind, werden sie meist als gegeben hingenommen. Dem Mythos wird man nur gewahr, wenn man wie Barthes dasjenige hinterfragt, was man scheinbar nicht hinterfragen kann. Damit bricht man das Eis, legt sich mit dem Regelsystem an und macht das Mythologische sichtbar. Somit zeigt sich gerade in der Hinterfragung des Unterfragbaren, wie unsichtbar Ideologie funktioniert.

Um in den größeren Rahmen seiner Fußballkritik einzusteigen, skizziert Mohnkern zunächst sein Verständnis von Ideologie. Zentral ist, dass die Ideologie des Fußballs für ihn über die Praxis und nicht über Theorie vermittelt wird. Wäre sie eine Theorie, dann müsste man nur etwas in seinem Bewusstsein verändern – also anders auf den Fußball schauen als bisher –, um dem falschen Blick auf das Spiel gewahr zu werden. Als Praxis betrachtet, hängt die Ideologie hingegen nicht von unserem Bewusstsein ab. Egal wie wir auf den Fußball schauen – ob aufgeklärt oder unaufgeklärt: Wir spielen uns immer etwas vor, das uns in ein falsches Verhältnis zur Welt verstrickt, jedoch nicht bemerkt wird, weil das Spiel ja seine natürlichen Regeln hat. Ohne die Regel nämlich, dass es in allen Wettbewerben am Ende immer Gewinner und Verlierer geben muss, würde das Spiel nicht funktionieren. Ergo erscheint diese Regel als das Natürlichste des Fußballs.

In den einzelnen Kapiteln geht es um konkrete Schauplätze und legendäre Fußball-Momente, die beim ‚richtigen‘ Zuschauen des Fußballs den ‚falschen‘ Blick in die Natürlichkeit und Eigentlichkeit des Gewinnens und Verlierens eingeübt haben. Dies ist ideologisch, denn:

Schließlich trennt der Fußball, in dem ein Unentschieden im höheren Sinne ja bloß provisorischen Charakter hat, stets zwischen Siegern und Verlierern. Er ‚naturalisiert‘ somit nicht allein den Glanz der einen, sondern auch das Elend der anderen. Als ideologische Praxis, die der Fußball ist, liefert er dabei fortwährend Szenen der Einübung sowohl in einen spielerischen Zusammenhang als auch (und vor allem) in eine gesellschaftliche Wirklichkeit, die der Fußball nicht bloß von Ferne bespiegelt, sondern deren festen Bestandteil er ist. Das heißt: Er produziert und reproduziert Sieger und Verlierer nicht nur im Spiel, sondern auch in jenem Leben, das er als Spiel doch behutsam zu meiden vorgibt.

„Fußball“, so Mohnkern, „verträgt kein Unentschieden“ und notfalls, so zeigen es die Wettbewerbe, muss der Sieger am Ende durch Zwang ermittelt werden. Als ein solches Zwangsmittel wurde bis 1970 der Münzwurf eingesetzt, später dann das Elfmeterschießen. In den ersten beiden Kapiteln skizziert Mohnkern diese Entwicklung. Er setzt mit der Beschreibung von der Absurdität des Münzwurfs zur Spielentscheidung ein, sieht im Elfmeterschießen aber dennoch eine gleiche Ungerechtigkeit wie im Werfen: Gegen den Willen der Spieler und gegen ihr Können, kommt es zur Abkürzung des Entscheidungsprozesses. Damit wird jedoch nicht nur der Spielcharakter ausgehebelt, sondern der demokratischen Gegenwart auch ein vormoderner Rest präsentiert, der mit seiner absolutistischen Beliebigkeit noch in ihr weilt. Denn hier wird genauso wie der Glaube an die Gerechtigkeit die Berücksichtigung des Leistungsprinzips außer Kraft gesetzt, insofern das gerechte Spiel zu lange dauern würde. Die Unentscheidbarkeit scheint an dieser Stelle die Ungerechtigkeit zu rechtfertigen. Damit denkt der Fußball, so resümiert Mohnkern kritisch, genauso im Freund-Feind Schema wie der rechte Staatsrechtler Carl Schmitt. Denn bevor der Sport zu einer an den Parlamentarismus erinnernden endlosen Quassel- bzw. Spielbude verkommt, muss die Entscheidung, müssen Gewinner und Verlierer her.

War die Entscheidung per Los die Aufhebung einer Pattsituation, die vom Mythos angeleitet wurde, so tritt der Elfmeterschütze aus diesem mythischen Zusammenhang heraus, indem er das Unentschiedene ohne fremde Hilfe auflöst. Doch tritt er damit nicht in die Freiheit, sondern verstrickt sich nur in einem neuen mythischen Zusammenhang: dem des Individualismus. Dieser zeigt sich im Endspiel der Europameisterschaft 1976 – dem ersten, das per Elfmeterschießen entschieden wird. Der entscheidende Schütze Uli Hoeneß hat verschossen und ist für diesen – im wahrsten Sinne des Wortes – ‚Strafstoß‘ ganz allein verantwortlich. In einer Engführung mit dem aufkommenden Neoliberalismus der 1970er und 80er Jahren deutet Mohnkern den Schützen als den Repräsentanten eines (post-)modernen Kapitalismus, der nun für sein Schicksal selbst verantwortlich ist.

Verliert der Einzelne an diesem Punkt, wird er zu einer Figur, mit der sich Millionen andere Verlierer identifizieren können. Genau aus diesem Grund kennt das kollektive Fußballgedächtnis auch nicht die Namen der erfolgreichen Elfmeterschützen, sondern nur die der gescheiterten. Die Fußballwelt spricht dann gerne von einem „tragischen Helden“, jedoch ist an diesem für Mohnkern überhaupt nichts Tragisches mehr zu erkennen. Schließlich ist die Niederlage am Elfer nicht unausweichlich. Die Floskel von der Tragik verschleiert damit einen neuen Mythos, der sich um die neue Art der Spielentscheidung herum gebildet hat: den der neoliberalen Eigenverantwortlichkeit, für die gerade kein Kollektiv die Verantwortung mehr übernehmen möchte. Was früher der Mythos als Kontingenz im Kollektiv gewesen ist, das ist er nun als Kontingenz für jeden Einzelnen, in der ihm selbst die Kraft zur eigenmächtigen Gestaltung zugesprochen wird.

Im Zeitalter der Eigenverantwortung gibt es nun aber nicht nur offensichtliche Verlierer, sondern auch Gewinner. Einer von ihnen ist Maradona, der 1986 zum Helden des Fußballs wird. Bei der Weltmeisterschaft in Mexiko gelingen ihm zwei spektakuläre Tore. Das erste wird mit der Hand erzielt – und vom Schiedsrichter gewertet. Für Mohnkern ist dies eine Regelüberschreitung, von der jeder träumt, da man sich mit dieser Überschreitung nicht mehr an die Regeln halten muss und trotzdem gewinnt. Damit löst Maradona den mythischen Zusammenhang des Regelwerks auf, in dem sich Uli Hoeneß verstrickte. Jedoch nur für einen kurzen Augenblick. Denn schon vier Minuten später macht er gegen England eines der schönsten Tore der Fußballgeschichte, mit dem seine Fußballkunst nicht nur die mit dem Handspiel in Frage gestellte Regeln wieder einsetzt, sondern geradezu wie ein Wunder bestätigt. Der Aufstand bleibt aus und Mohnkern sieht den restituierten Mythos darin, dass das zweite Tor die Botschaft aussendet, dass am Ende der regelkonforme Fußball doch viel schöner sei als die unverschämte Verletzung der Regeln und der Gesetze und deshalb der Mythos vom legalen Siegenkönnen bestehen bleibt.

2007 wiederholt Messi den spektakulären Torlauf Maradonas. Mohnkern nimmt dieses Ereignis zum Anlass, um kritisch über die Schönheit im Fußball nachzudenken. Beim Schönen, so Mohnkern, schaut man natürlich hin. Theoretisch kann man das mit den philosophischen Spielgriffen von Immanuel Kant und Friedrich Schiller erklären. Praktisch ist Schönheit allerdings auch ein Teil der Gewinnerideologie. Denn die Schönheiten des Spiels können nur diejenigen verfolgen, die sich dieses Freizeitvergnügen auch leisten können. Im Blick haben sie dann wiederum nur die Matchgewinner, nicht aber die ausgehebelten Abwehrspieler, die als Verlierer vom Feld gehen.

Ist die (neue) Popularität des Frauenfußballs dagegen eine Erfolgsgeschichte? Im Sinne von Mohnkerns Blick auf den Fußball eher nicht. Natürlich spiegelt sich die Emanzipation in der gesellschaftlichen Stellung der Frau auch im Fußball wider. Schließlich wurde der Frauenfußball eine anerkannte Größe und produziert gleich der Männervariante Stars wie Alexandra Popp. Dennoch beweist diese Entwicklung nichts. „Am Ende spiegelt sich in diesen Strukturen auch die Widersprüchlichkeit einer Emanzipation, die eben nicht die grundlegende Abschaffung eines Systems von Gewinnern und Verlieren ins Auge fasst, sondern Frauen bloß verspricht (und selten einlöst), dass sie selbst zu Siegerinnen werden.“

Die Analyse schließt mit der Beobachtung, dass man also auch verlieren kann, wenn man sich gutgläubig auf den Weg der Emanzipation begibt. Fortschrittsverweigerung ist allerdings auch nicht die Lösung. So verliert man erst recht, wenn man sich auf einem alten Emanzipationswunder, oder kurz: Mythos, ausruht. Mohnkern erörtert dies auf den letzten Seiten am Beispiel des Traditionsvereins 1. FC Kaiserslautern, dessen Problem aus seiner Sicht ist, dass er aus seiner glorreichen Vergangenheit – Fritz Walter, 1954: ‚Das Wunder von Bern‘ – eine Legende ohne Ende spinnt. Es entsteht eine Konstellation der Ungleichzeitgkeit, denn in der Tradition nistet sich bloß die Illusion eines Alten und Besseren ein, während man einer immer komplexeren Gegenwart des globalen Profifußballs im Zeichen ungeheurer Kapitalisierung hilflos gegenübersteht und langsam, aber sicher untergeht.

Damit endet der engagiert und pointiert geschriebene Essay, der immer wieder mit Referenzen zu Klassikern vom griechischen Mythos bis Marx, von Platon bis Proust, Arendt und Spivak den Nagel auf den Kopf trifft, ganz im Sinne eines Betrags der Kritischen Theorie: nämlich unversöhnlich. Der Ausgang aus dem Mythos bleibt also genauso im Mythos verstrickt wie der unbewegliche Glaube an den Mythos selbst. Insofern gilt auch für den Fußball, dass es dort nichts Richtiges im Falschen gibt. Ziel von Mohnkerns Analyse ist es dennoch, nicht einfach in der Sackgasse umzudrehen, sondern eine fast gänzlich unvorstellbare Sichtweise auf die Fußballwelt anzubieten, die sich eben auch aus den feststehenden Dichotomien von richtig und falsch herauslöst. Damit ist der Essay die Reflexion einer Welt, in der die mythisch eingespielte Grundkonstellation von Gewinner und Verlierer außer Kraft gerät und man sich etwas vorzustellen versucht, was es gar nicht gibt. Dies sind leise Momente der Reflexion, für die es in Massenstadien keinen Platz gibt, weshalb der Essay für jeden kritischen Sportfan von großer Relevanz ist.

Leserinnen und Lesern, die es gewohnt sind, eingefahrene Dichotomien zu hinterfragen, wird die Lektüre keine Schwierigkeiten bereiten, da Mohnkern diesen Hinterfragungsmodus auf das Grundgerüst des Sports überträgt. In dieser Hinsicht kann man nach der Lektüre überzeugter der Entscheidung zustimmen, dass die Bundesjugendspiele in der Grundschule ab dem nächsten Jahr nicht mehr als eine leistungsorientierte, sondern bewegungsorientierte Sportveranstaltung durchgeführt werden, weil dort der Wettbewerb herausgenommen werden soll. Ob Sport im Allgemeinen und Fußball im Besonderen in dieser Umverteilung aber noch Spaß machen wird, darüber erfährt man in diesem Buch natürlich nichts.                  

Titelbild

Ansgar Mohnkern: Einer verliert immer. Betrachtungen zu Fußball und Ideologie.
Verlag Turia + Kant, Wien 2023.
154 Seiten, 20,0 EUR.
ISBN-13: 9783985140893

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