Literatur und Wahrheit

Fernando Aramburus Roman „Der Junge“ ist gnadenlos hart und eindringlich

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Obwohl Fernando Aramburu seit rund vierzig Jahren in der Nähe von Hannover lebt, gilt er als bedeutendster zeitgenössischer baskischer Schriftsteller. Sein verfilmter Bestseller-Roman Patria (dt.: 2018), der um das ureigene baskische Lebensgefühl kreist und sich mit dem Terror der ETA auseinandersetzt, wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und mehr als 800 000 mal verkauft.

In den begleitenden, kommentierenden Notaten seines Romans Langsame Jahre (2019) schrieb Aramburu, dass er „zuerst Literatur und dann, wenn möglich, die Wahrheit“ anstrebe. Auch in seinem vergleichsweise schmalen Roman Der Junge geht es um eine Mischung aus „Dichtung und Wahrheit“.

Ein folgenschwerer Unfall, der sich tatsächlich im Baskenland ereignet hat, bildet den äußeren Handlungsrahmen. Im Oktober 1980 kamen bei einer Gasexplosion in einer Schule fünfzig Grundschüler, zwei Lehrer und eine Köchin ums Leben. Der 66-jährige Fernando Aramburu beleuchtet mit großem Einfühlungsvermögen, was diese Katastrophe aus einer fiktiven Familie gemacht hat – ohne Voyeurismus, stattdessen mit ganz viel Empathie. Aramburu erzählt ohne großes Pathos, beinahe lakonisch-nüchtern und lässt dem Leser dadurch reichlich Platz für eigene Emotionen.

Das ist eine heikle Sache. Es ist sehr schmerzlich, fünfzig Kinder in einem Dorf zu verlieren. Da kommt man da als berühmter Schriftsteller an, der sein Büchlein schreibt auf Kosten von Schmerzen der anderen. Also diese Rolle wollte ich auf keinen Fall spielen,

bekannte Aramburu.

Jeden Donnerstag besucht Nicasio das Grab seines Enkels Nuco, der bei der Explosion ums Leben gekommen ist. Er führt Gespräche mit ihm und lässt Nucos Kinderzimmer von einer Umzugsfirma ausräumen und in seiner eigenen Wohnung wieder aufbauen. Im Verlauf des Romans liest der Senior einen Jungen auf der Straße auf, weil er glaubt, dass es sich um seinen Enkel handle. Er wird deshalb vorübergehend sogar für einen Kindesentführer gehalten. Die unendlich Liebe des Großvaters zu seinem verstorbenen Enkel führt hier zu einer handfesten Paranoia.

Nucos Mutter, die uns als eine von zwei Erzählerinnen durch den Roman führt, bewahrt nur wenige Fotos auf, zieht sich zurück und kann oder will nicht über den Tod ihres Sohnes sprechen. Sie will unerkannt leben, den Ort des Unglücks verlassen und geht in die Großstadt Bilbao.

Vater José Miguel versucht die eigene Trauer positiv zu überwinden und wünscht sich ein weiteres Kind mit Mariaje. Doch die Liebe der Eltern zueinander ist erkaltet, und José Miguel kehrt eines Tages nach einem Angelausflug mit seinen Freunden nicht mehr heim.

Autor Aramburu blickt tief in die geschundenen Seelen seiner Figuren und zeigt uns, wie unterschiedlich Großvater, Mutter und Vater mit Nucos Tod umgehen und wie sie jeder für sich unendlich leiden und aus dem Gleichgewicht geraten.

Der baskische Schriftsteller bringt sich als Autor selbst in die Handlung mit ein. Nicht alle Leser werden diesen literarischen Taschenspielertrick der Postmoderne mögen:

Ich dachte, so eine Technik wäre angebracht, um Leser, Leserinnen daran zu erinnern, dass sie nicht die wahre Wahrheit auf der Hand haben, sondern Literatur. Es geht darum, dass (sich) der Text dessen bewusst ist, dass der als Grundlage für eine Geschichte dient. Und er darf sich einmischen. Er diskutiert mit dem Autor.

Aber letztlich ist dies auch Ausdruck von Aramburus eigener Unsicherheit im Umgang mit dem heiklen Sujet.

„Ich will die Leser nicht rühren, sondern sie herausfordern“, der Autor nach der Veröffentlichung dieses Romans in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung bekundet. Der Junge stellt tatsächlich eine große Herausforderung dar. Ein Roman mit immensem emotionalen Potenzial. Gnadenlos hart und eindringlich – eine Lektüre, die Schmerzen auslösen kann.

Titelbild

Fernando Aramburu: Der Junge.
Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2025.
256 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783498007386

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