Leben und Lesen als Akte der Balance

Terézia Moras „Auf dem Seil“ ist der dritte Roman um Darius Kopp

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Terézia Moras Texte seien vielstimmig, sie selbst sei eine der „wichtigsten Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur“ oder, anders formuliert, eine „der feinsten, originellsten und furchtlosesten Stimmen der deutschen Literatur“. In diesem Grundtenor treffen sich viele Superlative – das vielstimmige Konzert der Kritiker harmoniert. Da kommt es nicht von ungefähr, dass Terézia Mora im Jahr 2013 für Das Ungeheuer der Deutsche Buchpreis verliehen wurde und sie fünf Jahre später für ihr Gesamtwerk den Georg-Büchner-Preis erhielt.

Als 2009 der erste Roman um den IT-Spezialisten Darius Kopp unter dem Titel Der einzige Mann auf dem Kontinent erschien, wurde Mora einem breiteren Publikum bekannt. Als letzter Angestellter des Unternehmens Fidelis Wireless in Deutschland, Österreich und der Schweiz liefert sich Kopp um die Jahrtausendwende, knapp 40 Jahre alt, seinem „struggle for life“ aus – er ist „sales and regional sales manager“ und arbeitet in einem winzigen Berliner Büro. Er fühlt sich als „Gott oder zumindest gottähnlich“, so sagt er von sich selbst. Verheiratet ist er mit seiner großen Liebe Flora, die aus Ungarn stammt, in der Filmbranche Fuß fassen wollte, sich aber mit anderen Jobs über Wasser halten muss. Der einzige Mann auf dem Kontinent kommt in einem vorwiegend heiteren Ton daher. Mit seinen Charakteren, die als Parodie auf nerdige Gestalten der IT-Branche zu deuten sind, wirkt der Roman zumindest streckenweise komisch. Als Kopp jedoch erfährt, dass seine Frau ihn verlassen hat, breitet sich bohrende Bitterkeit aus. Floras hochgradige Depressivität, die in Suizid mündet, bildet das Epizentrum des folgenden Romans. Das Ungeheuer basiert auf der genialen Verschachtelung zweier Texte, denn Kopp, der völlig desillusioniert ist, liest Floras parallel zu seiner Geschichte abgedruckte Dateien, in denen sie mitunter poetisch und kryptisch ihre Befindlichkeit Revue passieren lässt. Schließlich verlässt Kopp überstürzt die Hauptstadt, die Urne mit der eingeäscherten Flora führt er mit sich. Er kappt alle Kontakte, reist quer durch Europa und landet in Sizilien, nachdem er der toten Flora versichert hat, dass er ihre Asche in den Ätna werfen wolle.

Damit setzt Auf dem Seil ein. „Ich kann nicht anders, als glücklich zu sein“, behauptet Kopp zu Beginn, als er in einem Ort am Fuße des Ätna eine Beziehung mit der Ferienhausinhaberin Gabriella eingegangen ist. Während eines Ausflugs auf den Vulkan verstreut er Floras Asche. Ein Jahr später ist er von Gabriella getrennt und arbeitet in einer Pizzeria in Catania, als dort seine 17-jährige Nichte Lorelei auftaucht. Lore erwartet ein Kind, sie leidet an Dauerübelkeit und Schwächeanfällen. Einige Wochen bleibt sie bei Darius in einer eher prekären Unterkunft, dann reisen beide nach Berlin. Dort wird es nicht besser, denn sie warten in wechselnden Wohnungen auf Lores Freunde aus der Schweiz, die letztendlich doch nicht eintreffen. Nach einem kurzen Intermezzo bei dem unbekannten „Online-Olli“ erinnert sich Darius an seine Freunde aus alten Zeiten. Zuerst kommt er mit Lore bei Rolf unter, später bei Muck. Gleichzeitig muss sich Darius mit Juri auseinandersetzen, der ihm vor seiner Flucht aus Berlin Geld geliehen hat. Er kontaktiert seinen Vater, bittet ihn erfolgreich um Geld, besucht ebenfalls seine Mutter, schreibt Bewerbungen, kauft Anzüge für Vorstellungsgespräche und überlegt, selbst eine IT-Firma zu gründen.

Bei all diesem Hin und Her wird er 50 Jahre alt und Lore verschwindet. Sie zieht mit ihrem Freund Metin, ein ehemaliger Arbeitskollege von Darius, in eine eigene Wohnung und meldet sich erst wieder bei ihrem Onkel, als Metin verschwunden und sie nach einer Ohnmacht in ein Krankenhaus eingeliefert worden ist. Weil Darius in Lores feuchter Wohnung von Ekzemen, höchstwahrscheinlich gar der Krätze heimgesucht wird, kehren beide zu Rolf zurück, der praktischerweise in der Nähe einer Klinik wohnt. Dort bringt Lore ein Mädchen namens Gioia zur Welt, bevor sie von ihrem Vater, dem offiziellen Sorgeberechtigten, mitgenommen wird. Kopps Enttäuschung wächst sich aus zur Ernüchterung, als obendrein ein Vorstellungsgespräch überhaupt nicht wunschgemäß verläuft. So arbeitet Kopp weiterhin 24 Stunden wöchentlich in einer Pizzeria, wo er zumindest mit einer besonderen Focaccia kleine Erfolge feiern kann.

Sieht man vom Prolog in Kapitel 0 ab, so umfasst die erzählte Zeit die Dauer einer Schwangerschaft. Der Plot hätte ohne Weiteres verkitscht werden können (strahlender Onkel mit neuer Stelle kümmert sich um seine minderjährige Nichte mit Baby), doch dann befände man sich nicht mehr in Moras fiktionaler Welt. Für die jugendliche Lore stehen nach der Geburt ihrer Tochter die Zeichen auf Neubeginn, Darius Kopp indessen ist ins Abseits katapultiert. Während Lore progrediert, regrediert er, denn er hat – so wie der Säugling – „nachmittags zwischen 5 und 7“ mit Phasen der Unruhe zu kämpfen. Er bleibt im Stadium des rastlosen Stadtnomaden befangen, sieht, „wie alle zurechtkommen“, und es sei „natürlich gut, dass sie zurechtkommen“, was bedeute, „dass die Lage so ist, dass man zurechtkommen kann“. Ihm gehöre nichts, und auch nichts, was ihm in den letzten Jahren verloren gegangen sei, habe ihm je gehört, so lautet die niederschmetternde Bilanz. Vielleicht gehöre ihm, so mutmaßt Kopp, „Ich, Gott und Arbeit“, doch das Ich sei schwierig, Gott verstehe er nicht, nur von der Arbeit habe er „ein wenig Ahnung“.

So keimt immerhin ein Quäntchen Hoffnung für den verlustgeschädigten Protagonisten, so lässt sich ein Möglichkeitsraum austarieren, der nicht mehr alles, aber doch so viel zulässt, dass es gelingen mag, auf dem Seil der Existenz eine Haltung zu bewahren, die den Absturz verhindert. Darius Kopp gehört nicht zu den Saturierten und Wohlsituierten, sondern zu den Sensiblen, Asthmatischen und von Ekzemen Geplagten, deren Ambitionen sich in Grenzen halten und die sich mit dem kleinen Glück des Alltags bescheiden könnten. Damit steht er in guten literarischen Traditionen, fügt er sich doch ein in die Phalanx von Helden, deren AutorInnen sie mit einer Schutzzone des Indifferenten und des Ununterscheidbaren umgeben, die sich aber dieser Ummantelung im Zuge eines Bewusstwerdungsprozesses inne werden, sie thematisieren und vielleicht erste Schritte unternehmen, sie zu überwinden. Darius Kopp ist eine post-existenzialistische Figur, die mit Jean-Paul Sartres Antoine Roquentin aus Der Ekel, Alberto Moravias Dino aus La Noia oder, ebenfalls Nachfahre existenzialistischer Protagonisten, Yasmina Rezas Adam Haberberg, verglichen werden kann.

Im Gegensatz zu Der einzige Mann auf dem Kontinent hat sich Kopp trotz allem ein bisschen weiterentwickelt. Die Identitätskrise nach dem Tod seiner Frau hat er bei aller Trauer als Entwicklungsaufgabe internalisiert, die er nun gemeistert hat. Darius Kopp ist weg vom Erleben der Existenz in ihrer ontologischen Grundqualität, die gegen Ende des ersten Romans vorherrscht, als er während eines Asthmaanfalls an seine Grenzen gelangt und ähnlich wie Antoine Roquentin die Existenz als solche erfährt. Nun ist Kopp durchaus in ein Stadium der „Essenz“ eingetreten. Dieses steht aber permanent auf dem Prüfstand, weil es ihm grundsätzlich an Energie mangelt, er wenig entscheidungsfreudig ist, sondern sich nach wie vor am liebsten in ruhigem Fahrwasser treiben lässt. Darius Kopp hat „noch nie in seinem Leben irgendetwas als Erster gefragt“ – diese eher beiläufige Bemerkung trifft den Charakter in seiner ganzen Breite.

Der Protagonist, der immer wieder ins Schlingern gerät, ist von typischen Stadtgestalten umgeben: Lore und er wohnen in Berlin zunächst bei „Online-Olli“, ein Agoraphobiker, der seinen PC kaum verlässt, wechseln dann zu Kopps Freund Rolf, der wegen seiner multiplen Sklerose im Rollstuhl sitzt, zum Veganer mutiert ist und einen Assistenten hat, der nach dem regelmäßigen Konsum von Halluzinogenen das „zügellose Arschloch“ herauslässt. Sie ziehen weiter zu Muck, der „nach dem Zusammenbruch der Firma anderthalb Jahre lang krankgeschrieben war“ und nun vom Schulhausmeister zum Koordinator der Hausmeister einer Hausverwaltung aufgestiegen ist. Sein Bruder ist bereits Rentner, aufgrund von alkoholinduzierten Erkrankungen, so wird gemunkelt. Mit all diesen Charakteren skizziert Mora Momentaufnahmen gegenwärtiger Lebensformen, die hart an der Grenze zum Pathologischen lavieren.

Mehr noch als durch dieses Potpourri an Figuren, immer kreisend um Darius Kopp, besticht der Roman, genauso wie seine beiden Vorgänger, durch eine ausgeklügelte narrative Diskontinuität, die zum einen Verwirrung stiften mag, zum anderen jedoch rundum Lesefreude bereitet. Zu Beginn alternieren Ich- und personale Er-Perspektive, doch sehr schnell schieben sich Kommentare dazwischen, von denen man nicht weiß, ob Ich-Erzähler und Protagonist identisch sind oder ob dieses Ich zu einem auktorialen Erzähler gehört. Um ein Beispiel zu geben:

Kopp hat, dank der Ofenhitze und viel eisgekühlten Wassers, im Laufe des letzten Jahres fast 20 Kilo abgenommen […]. Darius Kopp liebt Cola ebenso und auch Alkohol, aber in den letzten zwei Jahren hatte er fast nur Wasser getrunken und nur wenig Wein, ich weiß auch nicht, wie es dazu gekommen ist. Anfangs, bei Gabriella, wollte er Trunkenheit möglichst vermeiden, und später? Ich weiß auch nicht. Es ist etwas Mönchisches in mein Leben gekommen, das ich nie vermutet hätte. Ich habe sogar gelernt, sauber und ordentlich zu sein.

Beim ersten abrupten Wechsel in die Ich-Perspektive besteht Unsicherheit, beim zweiten Mal verbirgt sich hinter dem Ich die Stimme des Protagonisten. Dieses Changieren, manchmal mehr, manchmal weniger intensiv, ist garniert mit Tempuswechseln, wobei sich das epische Präteritum manchmal gänzlich verabschiedet und dem Präsens Platz macht, sich aber später doch wieder ein Stelldichein gibt. Mora arbeitet darüber hinaus mit Unterstreichungen oder gerne ebenso mit Parenthesen. Hat da noch jemand den Durchblick? Gibt es ein System? Welchen Gesetzen gehorcht diese Polyphonie? Egal – Mora webt einen patchworkartigen Erzählteppich, der im Großen und Ganzen mit Kopps Erleben konform geht.

Die experimentelle Form des Erzählens, so wie Mora sie praktiziert, ist in erster Linie in der Tradition des „nouveau roman“ zu verorten und ganz besonders erinnert Mora an renommierte Vertreter des „nouveau nouveau roman“, so etwa Christian Gailly und Jean-Philippe Toussaint. Die Geschichte rückt in den Hintergrund, die Personen ebenso, im Mittelpunkt stehen die Sprache und die Performanz der Kreativität. Kopps Bemühen um Balance, seine Anstrengung, sich „auf dem Seil“ zu halten, findet in der Vielstimmigkeit des Romans eine Parallele, das fiktionale Geschehen spiegelt sich auf dieser Metaebene der Mentalisierung, Dimensionierung und Distanzierung gleichermaßen. Trotz temporärer Abstürze bleibt Kopp „auf dem Seil“, trotz der Vielstimmigkeit gibt es einen klaren narrativen Duktus, in den sich vieles eher spielerisch integriert.

Auf dem Seil ist im Vergleich zu seinen beiden Vorgänger-Romanen lichter und leichter, bietet einen insgesamt angenehm vor sich hin plätschernden Text mit Tiefendimension und damit ein adäquates Abbild des Protagonisten, der locker in den Tag hineinlebt, die Last des Depressiven im Untergrund jedoch nicht ignorieren kann. Das Leben dräut nun nicht mehr als „Ungeheuer“, als Leviathan, sondern öffnet sich zu Neuem, verengt per se durch die Herausforderung, „auf dem Seil“ die Balance zu halten. Bleibt Mora bei dieser Aussage oder wird sie sich dazu entscheiden, aus der Trilogie eine Tetralogie werden zu lassen? Man darf gespannt sein, aber eigentlich bedarf es keines weiteren Kopp mehr.

Titelbild

Terézia Mora: Auf dem Seil. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2019.
368 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783630874975

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