Das Grauen im Archaischen
In ihrem Roman „Geisterwand“ beschwört die schottische Autorin die Geister der fernen Vergangenheit, um die politischen Wirrungen im Großbritannien der Gegenwart zu beleuchten
Von Sascha Seiler
Eine nordenglische Kleinfamilie reist in den Schulferien für zwei Wochen nach Northumberland, um an einem Re-Enactment teilzunehmen, das unter wissenschaftlicher Beobachtung durch einen Anthropologie-Professor und drei seiner Studierenden steht. In diesem Experiment sollen Familie und Akademiker mehr oder weniger leben wie in der Eisenzeit, also in einer improvisierten Hütte schlafen, sich von Gejagtem und Gepflücktem ernähren, sich in Tunikas kleiden, eine Feuerstelle stets am Brennen halten. Der Vater, Busfahrer und Hobby-Historiker, ist besessen von der britischen Vergangenheit. Er sieht die Briten als auserwähltes Volk mit einer glorreichen Vergangenheit an, deren Identität von Aufklärung, Modernisierung, Globalisierung und zuletzt von der Diversifizierung der Gesellschaft nach und nach ausgelöscht wurde. Seine idealisierte Version eines reinen Britanniens mit entsprechenden Menschen- und Rollenbildern drängt er seiner wehrlosen Familie – seiner Frau und seiner 17-jährigen Tochter Sylvie – gewaltsam auf. Ihre Freizeit verbringen die drei in der Regel in der freien Natur, wo Sylvie die Schönheit des archaischen, pastoralen, unberührten Britanniens nachempfinden soll. Das wissenschaftlich begleitete Re-Enactment ist für den Vater demnach gleichsam die Erfüllung all seiner Sehnsüchte.
Doch es tauchen schwarze Wolken über der archaischen Idylle auf: Während die Studierenden und selbst der Professor das Experiment nicht allzu ernst zu nehmen scheinen, sondern lediglich einem zunehmend unkonkreten wissenschaftlichen Auftrag folgen, stößt der Vater – der sich als manischer Autodidakt einredet, mehr als jeder Gelehrte von der britischen Vergangenheit zu verstehen – beim Professor immer mehr an seine Grenzen, wenn dieser ihn ein ums andere Mal gelangweilt wie beiläufig korrigiert. Sylvie freundet sich derweil mit der lebenslustigen Studentin Molly an, die lediglich mitgereist ist, weil ihr Credits für das Studium fehlten, die Sylvie jedoch regelmäßig beim gemeinsamen Wurzel- und Kräutersuchen in den nahe gelegenen Supermarkt lockt, um dort Cola, Eis und Chips zu kaufen.
Doch plötzlich sieht der Professor in dem naiven und rücksichtlosen Vater eine Möglichkeit, seine Forschungen zu intensivieren. Die Frauen, die regelmäßig vom Familientyrann auf übelste Weise körperlich misshandelt werden, gehorchen diesem schließlich aufs Wort. Die beiden Männer, unterstützt von den beiden männlichen Studierenden beginnen, alte, archaische Rituale zu zelebrieren, die einen immer immersiveren Charakter bekommen, bis sie schließlich bei einem – vorgeblich simulierten – Menschenopfer angelangt sind.
Geisterwand – der Titel bezieht sich auf den symbolischen Verteidigungswall der alten Briten, der mit den Schädeln von toten Mitbürgern bestückt ist, um Feinde und böse Geister abzuhalten (und der mit ausgekochten Kaninchenschädeln nachgebaut wird) – scheint ein Buch über den Konflikt zwischen einer heidnischen, archaischen Vergangenheit und einer aufgeklärten (post)modernen Gesellschaft zu sein und stellt somit den zentralen Folk Horror-Topos in den Mittelpunkt. Jedoch geht es Moss nicht nur um ein Heraufbeschwören einer verdrängten Vergangenheit, die in Zeiten des überbordenden Rationalismus keinen Platz mehr hat, wie dies in den meisten Folk Horror-Narrativen der Fall ist. Auch treffen die ‚Eindringlinge‘, jenem Narrativ weiter folgend, in der archaischen Wildnis nicht auf eine isoliert lebende Gemeinschaft, die eigene Moralvorstellungen vertritt, sondern suchen den Antagonisten aus einem prämodernen Zeitalter in sich selbst. Damit ändert Moss das Narrativ auf bedeutende Weise. Denn Geisterwand ist letztlich ein Roman über den Brexit, über einen unreflektierten, fehlgeleiteten Nationalismus, der sich auf nichts anderem begründet als auf einem irrationalen Gefühl von Stolz und dem Wunsch des modernen Menschen nach Zugehörigkeit, der „Rückkehr zum Stammesfeuer“, wie Zygmunt Bauman dieses Phänomen ausgedrückt hat.
Das Ergebnis dieses erschütternden, faszinierenden Romans ist ein grandioses Scheitern der Protagonisten: Weil die Ausführenden die von ihnen nachgestellten Rituale nicht verstehen, sondern versuchen, sie in einen zeitgenössischen, von Nationalismus und Xenophobie geprägten Kontext zu setzen, reflektieren sie im Ritual zwar durchaus die Gegenwart, verstehen aber nicht, was die Vergangenheit sie lehren könnte. In unserem Gespräch mit Ronald Hutton in dieser Ausgabe, bezeichnet der britische Historiker fast ausnahmslos alle Folk Horror-Narrative als eben nicht geprägt von einer Neugier nach Wiederentdeckung eines ursprünglicheren (in seinem Fall: britischen) Paganismus, sondern als geprägt von der Angst des modernen Menschen vor einer vorchristlichen Vergangenheit, die für ihn ein anti-rationales, kaum zu entschlüsselndes Mysterium darstellt. Und genau aus dieser Angst entsteht der Horror.
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