Ästhetik und Gewalt

Bodo Mrozeks Entwurf der transnationalen Jugend in den 1950er und 1960er Jahren zeigt eindrucksvoll das gesellschaftsverändernde Potenzial des Pop

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

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Wenn insbesondere nach den Europawahlen über die tiefgehenden Brüche im Verhältnis von Politik (maßgeblich bezogen auf die „Volksparteien“ SPD und CDU) und Jugend debattiert wird, stellt sich mit weiterem historischen Blick eher die Frage, warum eine als offenbar wichtig erachtete Bindung beider überhaupt von Wichtigkeit ist. Die schier unendlich wirkende Materialsammlung des Historikers Bodo Mrozek mit dem opulenten Titel Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte wirft eher ein Schlaglicht darauf, ob nicht gerade das scharfe Konfliktpotenzial in dieser Verbindung wichtige Entwicklungen in der Geschichte angestoßen hat. Er zeigt – sprachlich kurzweilig und mit erstaunlichem Detailreichtum –, wie sich das Bild der Jugend zwischen 1955 und 1966 auf der Grundlage ihres ästhetischen Veränderungsanspruchs radikal wandelt, sie von Objekten der Moralisierung und Kriminalisierung zu Subjekten der Erneuerung und sozialen Veränderung werden – und das in einem transnationalen Wirkungszusammenhang, der nicht zuletzt die Wirkungsmächtigkeit eines politischen Verständnisses der Popkultur unter Beweis stellt.

Mrozeks argumentativer Ausgangspunkt ist gewissermaßen die für die Nachkriegszeit charakteristische „Konstruktion von Jugend als Problem“: Ohne die Jugend als eigenständige Lebensphase akzeptiert zu haben, wird das popkulturelle Interesse der Heranwachsenden gesellschaftlich entweder kriminalisiert oder therapeutisch zu behandeln versucht. In beiden Fällen erweist sich der Zugang als deutlich fremdbestimmt. Auf der überzeugenden Grundlage, die Geschichte des Pop an dieser Stelle immer in Vernetzung mit Zeit-, Politik- und Protestgeschichte zu sehen, unterfüttert Mrozek seine grundlegende These mit einer Vielzahl historischer Beispiele, die die Entwicklung des Pop als Gewaltgeschichte lesbar machen: Interessanterweise changiert dies zwischen den bewusst markierten und selbstbewussten Ausdrucksformen aus der Eigenwahrnehmung der Jugend (exemplarisch sichtbar am Zusammenhang von Ganggewalt und Rockmusik) und den Fremdzuweisungen einer – zuweilen durch mediale Skandalisierungsakte beeinflussten – Gesellschaft. Bevor diese Formen der Delinquenz am Ende der 60er Jahre überführt werden in den akzeptierten Bereich gesellschaftlicher Normalität (als „Lifestyle“), sind sie im Wesentlichen subkulturelle Widerstandsformen gegen eine repressive Staatsgewalt und festgefügte Vorstellungen einer an der Norm orientierten Gesellschaft. Wie Mrozek überaus präzise und dabei sprachlich leichtfüßig herausstellt, werden über künstlerische Ausdrucksformen so „Fragen der Lebensgestaltung, der Subjektivierung, der Geschlechtsidentität und der persönlichen Freiheitsrechte sowie der öffentlichen Ordnung, der Befugnisse des Staates und seiner Kontrollorgane“ verhandelt – was die gesellschaftspolitische Relevanz des Pop in dieser Zeit einmal mehr belegt.

Gerade das provokante Ausstellen langer Haare oder exzessive Formen der Tanzmusik weisen die gesellschaftskritischen Qualitäten von Popkultur aus, mit Vorstellungen von Konventionalität und Norm der Gesellschaft zu brechen. Aus dieser Perspektive treten hier – international verdichtet – weniger Gesetzes-, als Normalisierungsverstöße in den Fokus der Wahrnehmung, die maßgeblich von ästhetischen Fragestellungen ausgehen und fortan eine fast wortwörtlich aufzufassende „Schlagkraft“ entfalten, die in Straßenkrawallen, Polizeimaßnahmen und Zensurgesetzen mündet. Gerade Musik und Tanz werden kulturpessimistisch als Ausdruck einer Krankheit pathologisiert; ihr Erregungs- und Emotionalisierungspotenzial lässt gerade die Religion als kritische Instanz in den Vordergrund treten, die die Verlockungen des Teufels anprangert und die Ehe durch sexualisierte Tanzpraktiken gefährdet sieht. Im Kreuzfeuer – gerade auch einer kulturell fast rassistisch argumentierenden Kritik – stehen besonders afroamerikanische Tänze, die in ihrer Primitivität und ihrem gesteigerten Rhythmus (der über die Maßen sexuell konnotiert ist) Disziplin, Rationalität und Ausgewogenheit der eigenen Kultur angreifen.

Eingebettet ist dies alles in eine Zeit medialer großflächiger Veränderungen, einer neuen Rolle des Fernsehens und popkultureller Zeitschriften, die gerade im Musikbereich größere Leserkreise erschließen. Der Versuch, den inhaltlichen Umfang, die Tiefe und Weitläufigkeit dieser historischen Auseinandersetzung in diesem kurzen Rezensionstext zu erfassen, muss in Anbetracht der großen Themenkomplexe, die Mrozek kenntnisreich durchstreift, scheitern und kann nur mit dem Hinweis schließen, sich diesen ungemein lesenswerten Text selbst anzueignen. Vielleicht auch mit Blick auf die implizit verhandelte aktuelle Frage nach den gesellschaftskritischen Ansprüchen heutiger Popkultur und deren Widerstandspotenzial.

Titelbild

Bodo Mrozek: Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
866 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783518298374

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