Vater und Sohn in ihren Parallelwelten

Lothar Müller macht sich in „Adrien Proust und sein Sohn Marcel“ auf die Suche nach dem Vater und findet immer wieder den Sohn

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Proust-Forschung hielt es wie ihr literarischer Heros, sie ließ den Vater meistens links liegen, als ob ihm Literaturtauglichkeit fehle. Lothar Müller wollte es in Adrien Proust und sein Sohn Marcel nun genauer wissen und hielt Ausschau nach dem Vater. Wer in der Ferne und in der Weite sucht, dem dürfte das Teleskop wohl gute Dienste leisten. Denn es rückt alles näher, macht es für den Betrachter förmlich greifbar. Das Mikroskop tut das auf seine Weise auch, aber in einem anderen Maßstab und lässt uns in immer tiefere Schichten dringen. Für Adrien Proust, den passionierten Mediziner, war es das Mikroskop, das ihn auf die Spur von Bazillen, Bakterien und Mikroben brachte, obschon er sie als Hygieniker sogleich in geografischen Großräumen dachte, in ihrer kontinentalen und globalen Ausbreitung und Eindämmung. Der Sohn fühlte sich eher dem Teleskop zugeneigt, um so auch zeitlich weit Entferntes näher heranzuholen, als stünde es in aller Plastizität hier und jetzt vor einem.

Adrien Proust war als jener einflussreiche Hygieniker, der er in der Dritten Republik war, nicht weniger passioniert als der Sohn. Und es ist genau diese leidenschaftliche Hingabe, die beide verbindet. Beruf und Berufung waren für sie eins: Der Vater lebte ganz für die wissenschaftliche Arbeit, der Sohn für die literarische. Diese Art von biografischer Spiegelbildlichkeit ist allerdings nicht allein der Grund, weshalb Müllers versierte Betrachtungen auch mit einem umgedrehten Titel stimmen würden: „Marcel Proust und sein Vater Adrien“. Ein wesentliches Motiv in Müllers Betrachtungen ist ja gerade diese spezifische Art von Wechselseitigkeit, denn mit dem Porträtieren von Vater und Sohn sollte gleichsam „das System kommunizierender Röhren sichtbar“ werden, „das Literatur und Medizin im späten 19. Jahrhundert verband und in dem beide agierten“.

In der Hauptsache ging es Müller um thematische Berührungspunkte, aber ebenso um den Kontrast der Werke, die Vater und Sohn in ihrem Leben schufen. Beide waren schriftstellerisch höchst produktiv. Für den Sohn blieben die wissenschaftlichen Werke des Vaters stets präsent, waren Teil seiner Lektüren. Mehr als „das Verhältnis von Vater und Sohn im Leben der Familie Proust“ interessierten Müller also die literarischen Niederschläge, die er mit spürbarer Faszination ausfindig macht und wie einen philologischen Schatz für uns Leser*innen genüsslich ausbreitet. „Wenn am Ende deutlich geworden ist, dass in Marcel Prousts Recherche mehr von den Welten steckt, in denen sein Vater sich bewegte, als auf den ersten Blick sichtbar ist, dann wäre ein Hauptziel des Buches erreicht.“ 

Um es vorwegzunehmen, Müller hat die Aufgabe mit Bravour bestanden, wobei er gleichermaßen teleskopisch und mikroskopisch arbeitete. Nur mit der Balance zwischen beiden Betrachtungsweisen hapert es ein wenig. Denn wo es im Text vornehmlich um Adrien Prousts Seuchenforschung, seine ausgedehnten Forschungsreisen, seine Omnipräsenz auf internationalen Tagungen, also um all die beruflichen Erfolge und den hohen gesellschaftlich-politischen Rang geht, den er zuletzt in Frankreich bekleidete, da bleibt Müller auffällig nüchtern. 

Wo uns der Autor den Berufsalltag von Adrien Proust schildert, liest sich das im Vergleich zu den Passagen, in denen es um den Sohn und seine Recherche geht, eher wie eine Pflichtlektüre, auch wenn das Bemühen, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, nicht zu übersehen und schon gar nicht geringzuschätzen ist. Müller zeichnet die wissenschaftlichen Debatten zum Thema Seuchen und deren Ursachen, Verbreitung und Bekämpfung im ausgehenden 19. Jahrhundert mit großer Gewissenhaftigkeit nach. Ebenso akribisch erklärt uns der Autor die verwandtschaftlichen Beziehungen der Prousts – mögen sie noch so verzweigt sein. Hier erweist er sich als treuer Recherche-Verehrer, in der uns Marcel Proust noch die entlegensten generativen Verästelungen mit wahrem Furor nahezubringen weiß.

Wo immer Müller den Sohn und die Recherche auftreten lässt und dabei die soziologischen Fäden zwischen gesellschaftlichen Debatten und den Erzählungen im Roman spinnt, da wird die Lektüre spannend. Denn wir erleben ein unablässiges Spiel der Reflexe, der Gedanken zwischen dem gesellschaftlichen Leben und der Welt der Fiktion, ein Hin-und-Her von Sein und Schein, sozusagen ein Ping-Pong zwischen Klinik und Salon. Doch Marcel Proust erweist sich hier als ein genialer Transformator, wie uns Müller wissen lässt, der der Frage nachging, was aus den Schriften von Adrien Proust den Weg in die Recherche nun tatsächlich fand. Ohne Zweifel gibt es diese Vorwegnahmen, doch auf dem Weg von der Bibliothek des Vaters in den Roman verschiebe sich der perspektivische Fixpunkt, so die Erkenntnis.

In der Recherche treten ständig Ärzte auf, aber nicht selten in einem komödienhaften Rahmen, als spiele man gerade ein Stück von Molière. Da mag einem so manches in den Sinn kommen mit Blick auf Adrien Proust, den Mediziner, der übrigens den Sohn nie selbst behandelte, sondern immer zu einem Kollegen schickte. Die beiden kamen überdies in politischen und religiösen Angelegenheiten selten auf einen Nenner. Was die persönlichen Beziehungen betrifft, wissen wir auch deshalb wenig, weil nicht ein einziger Brief des Vaters an den Sohn erhalten geblieben ist. Als Adrien Proust 1903 starb, muss es kurz vorher noch einen heftigen politischen Disput gegeben haben und es seien Dinge geäußert worden, die besser ungesagt geblieben wären. Und so heißt es in einem Brief von Marcel Proust: „Es ist mir jetzt so, als wäre ich gegen einen Menschen hart gewesen, der sich schon nicht mehr verteidigen konnte.“ Und dennoch: „Wenn ich nicht versucht habe, ihm Grund zur Zufriedenheit zu sein – denn mir ist wohl bewusst, dass ich stets der dunkle Punkt in seinem Leben war –, so habe ich doch versucht, ihm meine Liebe zu beweisen.“

Titelbild

Lothar Müller: Adrien Proust und sein Sohn Marcel. Beobachter der erkrankten Welt.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021.
224 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783803137036

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