Das Wort und die Wörter

Herta Müller bildet aus dem Überfluss der Wörter Collagen

Von Lukas PallitschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lukas Pallitsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eines sei gleich vorweg gesagt: Der Gedichtband Im Heimweh ist ein blauer Saal hat etwas mit Herta Müllers früherer Zeit in Rumänien zu tun. 1953 in Nitzkydorf geboren, lebt sie seit 1987 in Berlin. Poetologisch und biografisch reicht dieses Collagenbuch in diese vergangene Umbruchszeit hinein.

Manchmal können Texte eine Collage aus losen Wörtern oder Zitatfragmenten sein, aus denen sich dann ein kleines Gemälde einer bestimmten Zeit unter einer metaphorisierten Perspektive bildet. So gesehen wäre Müllers Collagenband ein blauer Saal, der sich aus zusammengeschnippselten Wortfetzen zusammensetzt. Weil die Autorin der Zugang zu Zeitschriften verwehrt blieb, sah sie sich mit der Übersiedelung nach Deutschland mit einer Überfülle an Zeitungen und Zeitschriften konfrontiert. Die öffentlich zugänglichen Wörter lagen plötzlich vor ihr:

Früher musste ich das Geschriebene heimlich von zu Hause wegtragen und bei unverdächtigen Bekannten verstecken, weil ich Angst vor Hausdurchsuchungen hatte. Dass ich heute zu Hause hunderttausende Wörter besitze, halte ich für ein Glück. […] Denn Wortbesitz im Überfluss ist das Gegenteil von früher, von Zensur.

So drängt sich eine Analogie zur Urszene der Philosophie auf: Während die Philosophie mit dem Urstaunen einsetzt, ließe sich emphatisch sagen, dass das Staunen über die Buntheit und Vielfalt der Wörter in verschiedenen Farben und Schrifttypen ein Glücksfall, und zugleich eine Urszene auf dem Weg Müllers zur Schriftstellerin markiert. Mit dem Herauslösen einzelner Wörter beginnt eine Spielerei, deren Wurzeln sich tief in ihr literarische Schaffen eingraben. Sie sind der Nährboden, aus dem mit Im Heimweh ist ein blauer Saal der dritte Lyrikband hervorgeht.

Bereits 1987 hatte Müller mit dieser Verfahrensweise begonnen, über die sie nun in einem Vorwort Auskunft gibt: „Eines Tages kaufte ich weiße Karteikarten, einen Klebestift und fing an, im Zug oder im Flugzeug, als man noch die Nagelschere mitnehmen durfte, aus der Zeitung Fotos und Wörter auszuschneiden. Auf eine Karte klebte ich dann das Bild und ein paar Wörter.“ So entstanden aus Wörtern Sätze, die sie in ein Zeilenbild setzte, und aus Sätzen wurden Geschichten. Man kann diese Lyrikcollagen als „Zwischenwerke“ begreifen, die sie zwischen ihren Prosabüchern veröffentlicht. Zwischenwerke sind sie aber auch in dem Sinn, dass sich hier etwas tief einnistet, das zwischen den Zeilen in ihrer Prosa lesbar wird. Nicht nur, dass das titelgebende „Heimweh“ ihren vielbeachteten Roman Atemschaukel durchwebt, in den Wortfragmenten werden bei genauer Lektüre die starken literarischen Bilder – als solche sind die Collagen konzipiert – für jenes Außersprachliche evident, das zwar zeitlos außerhalb unserer Wahrnehmung liegt, aber mit den großen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts verbunden ist.

Doch mitunter verwehren sich die rätselhaften Wort-Gebilde kohärenten Sinnzusammenhängen. So weit Müller und in ihrem Gefolge stärker noch das Gros der Rezensenten die Gedichte von den klassischen Formen der Lyrik auch abrücken mag, die Diagnose trifft nicht ganz den Nerv. Ihnen ist nur schwer mit den gängigen Methoden des literaturwissenschaftlichen Umgangs mit Gedichten beizukommen:

der Beamte sagte Heimweh
lädt Schuld auf sich nimms nicht
persönlich ZEHEN AUS
Perlmutt IM heißen
Schnee GEHEN auch ohne
MICH flüstere ich

Zieht man ein gängiges lyrisches Kriterium von in Versen verfassten und überdies mit liedhafter Form versehenen Zeilen heran, so ist dem formal kaum etwas entgegenzuhalten. Die Syntax des Gedichts weicht von der alltagssprachlichen Norm ab und die Sätze reichen über das Versende hinaus in die Folgezeile. Das Enjambement ist hier in erster Linie ein typografisches Phänomen, führt aber weiter zu semantischen Doppeldeutigkeiten, die in einem Oxymoron („heißer Schnee“) enden. Nur selten verleihen die Reime den Verszeilen eine Prägung, einzig der Binnenreim tritt in den Collagen in vielfältigen Ausprägungen auf (MICH flüsterte ich). Vor allem mithilfe der abgeschwächten Form des Reims, der Assonanz, werden Wörter verbunden („sich nimms nicht“). Öffnet man den Blick auf die Form des Gedichts, dann ist den Collagen zwar keineswegs ein durchstrukturierter metrischer Bauplan zu entnehmen, doch oftmals bestehen die Zeilen aus zweisilbigen Versfüßen, die – wie hier – durchaus stringent  aus Jamben, wie etwa die zweite Verszeile, gebaut sein können.

Darf man den Vorwörtern der Dichter immer Glauben schenken? Natürlich! Aber manchmal neigen große Dichter auch zur „Einflussangst“, wie sie Harold Bloom beschrieben hat, und setzen sich dann bewusst von vorgegebenen Linien ab. Natürlich schwingen sich auch Nobelpreisträger gerne in die Sphäre des poeta vates empor: „Überall haben Wörter gewartet, ich habe sie nur ausschneiden müssen. […] Ich war verblüfft, weil einzelne Wörter eine ganze Geschichte erzählen können.“ Zeilen wie diese wecken starke Assoziationen auf den Prolog des Johannesevangeliums: „Im Anfang war das Wort. […] Alles ist durch das Wort geworden und ohne es wurde nichts, was geworden ist.“ (Joh 1,1.3) Auch große Dichter folgen, selbst wenn sie vorgeben, sich an keinen Textvorbildern zu orientieren, metrischen und formalen Grundformen, auf deren Basis sie dann aber Ungewöhnliches schaffen (können). Indem bei der Arbeit an den Collagen die Wörter ganz und gar greifbar und berührbar sind, werden sie sinnlich und anrührend zugleich. Die Collagen mögen nichts ganz Außergewöhnliches, aber dennoch lesens- und sehenswert sein, die Prosa von Herta Müller indessen, die aus dem Fundus der lyrischen Vorprägungen schöpft, ist hingegen tatsächlich außergewöhnlich.

Titelbild

Herta Müller: Im Heimweh ist ein blauer Saal.
Carl Hanser Verlag, München 2019.
128 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446261754

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